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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Schritts in der Hand behalten wolle, anfangen, sich auf die beiden, dem Kapi¬
talismus feindlichen Parteien, das Zentrum und die Sozialdemokratie, zu stützen,
die trotz scheinbar unversöhnlicher Feindschaft einander geistesverwandt seien.
Für seine Person lehnt übrigens Meyer die Bezeichnung eines Kryptokatholiken
oder Sozialisten ab; er sei keins von beiden. Aus einem Überblick der Wirt¬
schaftsgeschichte des Altertums zieht er die Lehre, daß wiederholt der Kultur-
fortschritt die Enteignung und Versklavung der Masse und die Zuteilung des
Grundeigentums an wenige gefordert habe, daß aber dann jedesmal ein Zeit¬
punkt eingetreten sei, wo dieser Prozeß in ein Hemmnis der Kultur umschlug,
"indem die unfrei gewordne Landbevölkerung keine überschüssigen gesunden,
mutigen Kinder mehr in die Städte senden konnte, und indem dadurch Handel
und Industrie verkümmerten, da die rein städtische Bevölkerung dieser Menschen¬
zufuhr bedarf." Endlich habe auch der Staat seine Rekruten verloren. Mit
der Barbarisirung Europas sei dann der Kapitalismus verschwunden, weil
seine Basis, die Sklavenarbeit, zusammenschrumpfte. Die mittelalterlichen Zu¬
stände schildert Meyer ungefähr wie Janssen und, wie es scheint, hauptsächlich
nach ihm. Das Zinsverbot habe dafür gesorgt, daß der Arbeiter: der Bauer
wie der Handwerker, Eigentümer seiner Arbeitsmittel geblieben sei, und die
Preistaxen hätten eine andre Quelle des Kapitalismus, den übermäßigen Unter¬
nehmer- und Geschäftsgewinn, verstopft. Es kann nicht bezweifelt werden,
daß das Mittelalter, abgesehen von den Plagen, die die ewigen Fehden, die
barbarische Rechtspflege, die Inquisition, die Seuchen und die Hungersnöte
den Menschen auflegten, in seiner Glanzperiode, vom zwölften bis zum fünf¬
zehnten Jahrhundert, eine goldne Zeit für Bürger und Bauern gewesen ist,
wobei jedoch die winzige Zahl der Stadtbürger im Vergleich zur heutigen,
und der Landreichtum, dessen sich die Bauern erfreuten, nicht vergessen werden
darf. Auch soll nicht geleugnet werden, daß der Geist, aus dem das Zins¬
verbot und die Preistaxen entsprangen, ungemein wohlthätig gewirkt hat und
immer von neuem wirken wird, so oft er wieder auflebt. Aber die Wirkung
der Kirchen- und Staatsgesetze, die aus diesem Geiste hervorgegangen sind,
überschätzt Meyer. Diese Gesetze konnten nur darum bis zu einem gewissen
Grade wirksam sein, weil die natürlichen Bedingungen für ihre Wirksamkeit
vorhanden waren; in dem Maße aber, wie diese natürlichen Bedingungen
schwanden, erwiesen sie sich ebenso ohnmächtig wie der Geist, der sie hervor¬
gebracht hatte. Eine Zeit lang, schreibt Meyer Seite 35, sei nach Aufhebung
der mittelalterlichen Preistaxen der Preis durch Angebot und Nachfrage re-
gulirt worden. Als ob nicht auch im Mittelalter dieser Regulator den Aus¬
schlag gegeben Hütte! Wenn infolge einer Mißernte kein Getreide dawar, konnten
alle Preistaxen das Brot nicht um einen Pfennig billiger machen, und als
am Ausgange des Mittelalters die gewerbliche Bevölkerung zahlreich und das
Angebot von Händen stärker geworden war, fuhren die Obrigkeiten zwar fort,


Lin unbequemer Konservativer

Schritts in der Hand behalten wolle, anfangen, sich auf die beiden, dem Kapi¬
talismus feindlichen Parteien, das Zentrum und die Sozialdemokratie, zu stützen,
die trotz scheinbar unversöhnlicher Feindschaft einander geistesverwandt seien.
Für seine Person lehnt übrigens Meyer die Bezeichnung eines Kryptokatholiken
oder Sozialisten ab; er sei keins von beiden. Aus einem Überblick der Wirt¬
schaftsgeschichte des Altertums zieht er die Lehre, daß wiederholt der Kultur-
fortschritt die Enteignung und Versklavung der Masse und die Zuteilung des
Grundeigentums an wenige gefordert habe, daß aber dann jedesmal ein Zeit¬
punkt eingetreten sei, wo dieser Prozeß in ein Hemmnis der Kultur umschlug,
„indem die unfrei gewordne Landbevölkerung keine überschüssigen gesunden,
mutigen Kinder mehr in die Städte senden konnte, und indem dadurch Handel
und Industrie verkümmerten, da die rein städtische Bevölkerung dieser Menschen¬
zufuhr bedarf." Endlich habe auch der Staat seine Rekruten verloren. Mit
der Barbarisirung Europas sei dann der Kapitalismus verschwunden, weil
seine Basis, die Sklavenarbeit, zusammenschrumpfte. Die mittelalterlichen Zu¬
stände schildert Meyer ungefähr wie Janssen und, wie es scheint, hauptsächlich
nach ihm. Das Zinsverbot habe dafür gesorgt, daß der Arbeiter: der Bauer
wie der Handwerker, Eigentümer seiner Arbeitsmittel geblieben sei, und die
Preistaxen hätten eine andre Quelle des Kapitalismus, den übermäßigen Unter¬
nehmer- und Geschäftsgewinn, verstopft. Es kann nicht bezweifelt werden,
daß das Mittelalter, abgesehen von den Plagen, die die ewigen Fehden, die
barbarische Rechtspflege, die Inquisition, die Seuchen und die Hungersnöte
den Menschen auflegten, in seiner Glanzperiode, vom zwölften bis zum fünf¬
zehnten Jahrhundert, eine goldne Zeit für Bürger und Bauern gewesen ist,
wobei jedoch die winzige Zahl der Stadtbürger im Vergleich zur heutigen,
und der Landreichtum, dessen sich die Bauern erfreuten, nicht vergessen werden
darf. Auch soll nicht geleugnet werden, daß der Geist, aus dem das Zins¬
verbot und die Preistaxen entsprangen, ungemein wohlthätig gewirkt hat und
immer von neuem wirken wird, so oft er wieder auflebt. Aber die Wirkung
der Kirchen- und Staatsgesetze, die aus diesem Geiste hervorgegangen sind,
überschätzt Meyer. Diese Gesetze konnten nur darum bis zu einem gewissen
Grade wirksam sein, weil die natürlichen Bedingungen für ihre Wirksamkeit
vorhanden waren; in dem Maße aber, wie diese natürlichen Bedingungen
schwanden, erwiesen sie sich ebenso ohnmächtig wie der Geist, der sie hervor¬
gebracht hatte. Eine Zeit lang, schreibt Meyer Seite 35, sei nach Aufhebung
der mittelalterlichen Preistaxen der Preis durch Angebot und Nachfrage re-
gulirt worden. Als ob nicht auch im Mittelalter dieser Regulator den Aus¬
schlag gegeben Hütte! Wenn infolge einer Mißernte kein Getreide dawar, konnten
alle Preistaxen das Brot nicht um einen Pfennig billiger machen, und als
am Ausgange des Mittelalters die gewerbliche Bevölkerung zahlreich und das
Angebot von Händen stärker geworden war, fuhren die Obrigkeiten zwar fort,


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[0310] Lin unbequemer Konservativer Schritts in der Hand behalten wolle, anfangen, sich auf die beiden, dem Kapi¬ talismus feindlichen Parteien, das Zentrum und die Sozialdemokratie, zu stützen, die trotz scheinbar unversöhnlicher Feindschaft einander geistesverwandt seien. Für seine Person lehnt übrigens Meyer die Bezeichnung eines Kryptokatholiken oder Sozialisten ab; er sei keins von beiden. Aus einem Überblick der Wirt¬ schaftsgeschichte des Altertums zieht er die Lehre, daß wiederholt der Kultur- fortschritt die Enteignung und Versklavung der Masse und die Zuteilung des Grundeigentums an wenige gefordert habe, daß aber dann jedesmal ein Zeit¬ punkt eingetreten sei, wo dieser Prozeß in ein Hemmnis der Kultur umschlug, „indem die unfrei gewordne Landbevölkerung keine überschüssigen gesunden, mutigen Kinder mehr in die Städte senden konnte, und indem dadurch Handel und Industrie verkümmerten, da die rein städtische Bevölkerung dieser Menschen¬ zufuhr bedarf." Endlich habe auch der Staat seine Rekruten verloren. Mit der Barbarisirung Europas sei dann der Kapitalismus verschwunden, weil seine Basis, die Sklavenarbeit, zusammenschrumpfte. Die mittelalterlichen Zu¬ stände schildert Meyer ungefähr wie Janssen und, wie es scheint, hauptsächlich nach ihm. Das Zinsverbot habe dafür gesorgt, daß der Arbeiter: der Bauer wie der Handwerker, Eigentümer seiner Arbeitsmittel geblieben sei, und die Preistaxen hätten eine andre Quelle des Kapitalismus, den übermäßigen Unter¬ nehmer- und Geschäftsgewinn, verstopft. Es kann nicht bezweifelt werden, daß das Mittelalter, abgesehen von den Plagen, die die ewigen Fehden, die barbarische Rechtspflege, die Inquisition, die Seuchen und die Hungersnöte den Menschen auflegten, in seiner Glanzperiode, vom zwölften bis zum fünf¬ zehnten Jahrhundert, eine goldne Zeit für Bürger und Bauern gewesen ist, wobei jedoch die winzige Zahl der Stadtbürger im Vergleich zur heutigen, und der Landreichtum, dessen sich die Bauern erfreuten, nicht vergessen werden darf. Auch soll nicht geleugnet werden, daß der Geist, aus dem das Zins¬ verbot und die Preistaxen entsprangen, ungemein wohlthätig gewirkt hat und immer von neuem wirken wird, so oft er wieder auflebt. Aber die Wirkung der Kirchen- und Staatsgesetze, die aus diesem Geiste hervorgegangen sind, überschätzt Meyer. Diese Gesetze konnten nur darum bis zu einem gewissen Grade wirksam sein, weil die natürlichen Bedingungen für ihre Wirksamkeit vorhanden waren; in dem Maße aber, wie diese natürlichen Bedingungen schwanden, erwiesen sie sich ebenso ohnmächtig wie der Geist, der sie hervor¬ gebracht hatte. Eine Zeit lang, schreibt Meyer Seite 35, sei nach Aufhebung der mittelalterlichen Preistaxen der Preis durch Angebot und Nachfrage re- gulirt worden. Als ob nicht auch im Mittelalter dieser Regulator den Aus¬ schlag gegeben Hütte! Wenn infolge einer Mißernte kein Getreide dawar, konnten alle Preistaxen das Brot nicht um einen Pfennig billiger machen, und als am Ausgange des Mittelalters die gewerbliche Bevölkerung zahlreich und das Angebot von Händen stärker geworden war, fuhren die Obrigkeiten zwar fort,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/310>, abgerufen am 01.09.2024.