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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Lin unbequemer Konservativer

Meyer zu denselben Ergebnissen wie die Grenzboten. In andern wesentlichen
Fragen jedoch weichen wir von seiner Auffassung ab.

Der Titel des ersten Buches scheint sagen zu sollen, daß mit dem Jahr¬
hundert auch der Kapitalismus zu Eude gehen werde, wenn ihn nicht die von
Meyer empfohlenen Reformen am Leben erhalten. Des schwankenden Sprach¬
gebrauchs wegen ist es nötig, die Leser zunächst daran zu erinnern, was wir
unter Kapital und Kapitalismus verstehen. Wir nennen Kapital die Gesamt¬
heit der Arbeitswerkzeuge, zu denen unter anderm auch der schon kultivirte Boden
gehört. Das, was man gewöhnlich Kapital nennt, die Gesamtheit der Ar¬
beitsmittel, die sich im Besitz von Kapitalisten befinden, nennen wir Kapital¬
besitz und lehnen die Einschränkung ab, der Karl Marx den Begriff unter¬
wirft, indem er die Arbeitsmittel nur soweit Kapital nennt, als sie sich im
Besitze von Unternehmern befinden, die die Ausführungsarbeit nicht selbst
leisten; wir rechnen auch die Arbeitsmittel des Kleinbauern und des kleinen
Handwerkers zum Kapital. Kapitalismus nennen wir einen Zustand, bei dem
die Arbeiter von den Arbeitsmitteln getrennt sind und diese sich im Besitz von
Unternehmern befinden, die Lohnarbeiter beschäftigen; nicht daß dieser Zustand
stellenweise vorkommt, sondern daß er vorherrscht, halten wir für ein Übel.
Der moderne Kapitalismus hat außerdem noch die Eigentümlichkeit, daß die
Güter uicht für den Bedarf der Arbeitenden, sondern als Waren für den Markt
erzeugt werden, und daß die Absicht des Produzenten hauptsächlich oder aus¬
schließlich auf einen möglichst hohen Reinertrag in Geld gerichtet ist. Der
Kleinbauer, der mit seiner Familie den größten Teil seiner Produkte auf¬
zehrt, und der Großbauer oder Rittergutsbesitzer, der seinen Stammsitz in
guten wie in schlechten Zeiten zu behaupten als Ehrensache und Standcspflicht
betrachtet, wirtschaften nicht kapitalistisch; aber der Gutsbesitzer thut es, der
bei steigenden Preisen ein Gut kauft, soviel wie möglich herauswirtschaftet
und dann, wenn er glaubt, daß das Ende der steigenden Konjunktur nicht mehr
fern sei, es entweder im ganzen verkauft oder parzellirt und so außer dem
Reinertrag einen Kapitalgewinn herausschlügt. Meyer definirt nirgends, aber
die Worte haben bei ihm meist ungefähr denselben Sinn wie bei uns.

Er beginnt mit der Bemerkung, daß das Gesetz der Evolution jetzt un¬
beliebt geworden sei. Man wolle natürlich auch in der Politik wissenschaftlich
sein und habe es sich ganz gern gefallen lassen, als der Strom der Entwicklung
die Leibeigenschaft und den Zunftzwang hinwegschwemmte, aber das Wort
Lassalles, auch das Kapital (im Sinne Marxens) sei nur eine "historische Ka¬
tegorie," die ihre Zeit habe und vorübergehe, habe die ungeteilteste Entrüstung
hervorgerufen. Dennoch könne die Wahrheit dieses Wortes nicht bezweifelt
werden; man sehe zu deutlich, wie der Kapitalismus, der eine Zeit lang kultur¬
fördernd gewirkt habe, jetzt anfange, ein Hemmnis zu werden; deshalb müsse
die Regierung des dentschen Reiches, wenn sie die Leitung des Kulturfort-


Lin unbequemer Konservativer

Meyer zu denselben Ergebnissen wie die Grenzboten. In andern wesentlichen
Fragen jedoch weichen wir von seiner Auffassung ab.

Der Titel des ersten Buches scheint sagen zu sollen, daß mit dem Jahr¬
hundert auch der Kapitalismus zu Eude gehen werde, wenn ihn nicht die von
Meyer empfohlenen Reformen am Leben erhalten. Des schwankenden Sprach¬
gebrauchs wegen ist es nötig, die Leser zunächst daran zu erinnern, was wir
unter Kapital und Kapitalismus verstehen. Wir nennen Kapital die Gesamt¬
heit der Arbeitswerkzeuge, zu denen unter anderm auch der schon kultivirte Boden
gehört. Das, was man gewöhnlich Kapital nennt, die Gesamtheit der Ar¬
beitsmittel, die sich im Besitz von Kapitalisten befinden, nennen wir Kapital¬
besitz und lehnen die Einschränkung ab, der Karl Marx den Begriff unter¬
wirft, indem er die Arbeitsmittel nur soweit Kapital nennt, als sie sich im
Besitze von Unternehmern befinden, die die Ausführungsarbeit nicht selbst
leisten; wir rechnen auch die Arbeitsmittel des Kleinbauern und des kleinen
Handwerkers zum Kapital. Kapitalismus nennen wir einen Zustand, bei dem
die Arbeiter von den Arbeitsmitteln getrennt sind und diese sich im Besitz von
Unternehmern befinden, die Lohnarbeiter beschäftigen; nicht daß dieser Zustand
stellenweise vorkommt, sondern daß er vorherrscht, halten wir für ein Übel.
Der moderne Kapitalismus hat außerdem noch die Eigentümlichkeit, daß die
Güter uicht für den Bedarf der Arbeitenden, sondern als Waren für den Markt
erzeugt werden, und daß die Absicht des Produzenten hauptsächlich oder aus¬
schließlich auf einen möglichst hohen Reinertrag in Geld gerichtet ist. Der
Kleinbauer, der mit seiner Familie den größten Teil seiner Produkte auf¬
zehrt, und der Großbauer oder Rittergutsbesitzer, der seinen Stammsitz in
guten wie in schlechten Zeiten zu behaupten als Ehrensache und Standcspflicht
betrachtet, wirtschaften nicht kapitalistisch; aber der Gutsbesitzer thut es, der
bei steigenden Preisen ein Gut kauft, soviel wie möglich herauswirtschaftet
und dann, wenn er glaubt, daß das Ende der steigenden Konjunktur nicht mehr
fern sei, es entweder im ganzen verkauft oder parzellirt und so außer dem
Reinertrag einen Kapitalgewinn herausschlügt. Meyer definirt nirgends, aber
die Worte haben bei ihm meist ungefähr denselben Sinn wie bei uns.

Er beginnt mit der Bemerkung, daß das Gesetz der Evolution jetzt un¬
beliebt geworden sei. Man wolle natürlich auch in der Politik wissenschaftlich
sein und habe es sich ganz gern gefallen lassen, als der Strom der Entwicklung
die Leibeigenschaft und den Zunftzwang hinwegschwemmte, aber das Wort
Lassalles, auch das Kapital (im Sinne Marxens) sei nur eine „historische Ka¬
tegorie," die ihre Zeit habe und vorübergehe, habe die ungeteilteste Entrüstung
hervorgerufen. Dennoch könne die Wahrheit dieses Wortes nicht bezweifelt
werden; man sehe zu deutlich, wie der Kapitalismus, der eine Zeit lang kultur¬
fördernd gewirkt habe, jetzt anfange, ein Hemmnis zu werden; deshalb müsse
die Regierung des dentschen Reiches, wenn sie die Leitung des Kulturfort-


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[0309] Lin unbequemer Konservativer Meyer zu denselben Ergebnissen wie die Grenzboten. In andern wesentlichen Fragen jedoch weichen wir von seiner Auffassung ab. Der Titel des ersten Buches scheint sagen zu sollen, daß mit dem Jahr¬ hundert auch der Kapitalismus zu Eude gehen werde, wenn ihn nicht die von Meyer empfohlenen Reformen am Leben erhalten. Des schwankenden Sprach¬ gebrauchs wegen ist es nötig, die Leser zunächst daran zu erinnern, was wir unter Kapital und Kapitalismus verstehen. Wir nennen Kapital die Gesamt¬ heit der Arbeitswerkzeuge, zu denen unter anderm auch der schon kultivirte Boden gehört. Das, was man gewöhnlich Kapital nennt, die Gesamtheit der Ar¬ beitsmittel, die sich im Besitz von Kapitalisten befinden, nennen wir Kapital¬ besitz und lehnen die Einschränkung ab, der Karl Marx den Begriff unter¬ wirft, indem er die Arbeitsmittel nur soweit Kapital nennt, als sie sich im Besitze von Unternehmern befinden, die die Ausführungsarbeit nicht selbst leisten; wir rechnen auch die Arbeitsmittel des Kleinbauern und des kleinen Handwerkers zum Kapital. Kapitalismus nennen wir einen Zustand, bei dem die Arbeiter von den Arbeitsmitteln getrennt sind und diese sich im Besitz von Unternehmern befinden, die Lohnarbeiter beschäftigen; nicht daß dieser Zustand stellenweise vorkommt, sondern daß er vorherrscht, halten wir für ein Übel. Der moderne Kapitalismus hat außerdem noch die Eigentümlichkeit, daß die Güter uicht für den Bedarf der Arbeitenden, sondern als Waren für den Markt erzeugt werden, und daß die Absicht des Produzenten hauptsächlich oder aus¬ schließlich auf einen möglichst hohen Reinertrag in Geld gerichtet ist. Der Kleinbauer, der mit seiner Familie den größten Teil seiner Produkte auf¬ zehrt, und der Großbauer oder Rittergutsbesitzer, der seinen Stammsitz in guten wie in schlechten Zeiten zu behaupten als Ehrensache und Standcspflicht betrachtet, wirtschaften nicht kapitalistisch; aber der Gutsbesitzer thut es, der bei steigenden Preisen ein Gut kauft, soviel wie möglich herauswirtschaftet und dann, wenn er glaubt, daß das Ende der steigenden Konjunktur nicht mehr fern sei, es entweder im ganzen verkauft oder parzellirt und so außer dem Reinertrag einen Kapitalgewinn herausschlügt. Meyer definirt nirgends, aber die Worte haben bei ihm meist ungefähr denselben Sinn wie bei uns. Er beginnt mit der Bemerkung, daß das Gesetz der Evolution jetzt un¬ beliebt geworden sei. Man wolle natürlich auch in der Politik wissenschaftlich sein und habe es sich ganz gern gefallen lassen, als der Strom der Entwicklung die Leibeigenschaft und den Zunftzwang hinwegschwemmte, aber das Wort Lassalles, auch das Kapital (im Sinne Marxens) sei nur eine „historische Ka¬ tegorie," die ihre Zeit habe und vorübergehe, habe die ungeteilteste Entrüstung hervorgerufen. Dennoch könne die Wahrheit dieses Wortes nicht bezweifelt werden; man sehe zu deutlich, wie der Kapitalismus, der eine Zeit lang kultur¬ fördernd gewirkt habe, jetzt anfange, ein Hemmnis zu werden; deshalb müsse die Regierung des dentschen Reiches, wenn sie die Leitung des Kulturfort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/309>, abgerufen am 01.09.2024.