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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

die ländlichen Arbeitgeber zu Leistungen für die Arbeiter herangezogen wurden.
Seitdem haben die Agrarier sogar Einrichtungen bekämpft, für die sie eintraten,
solange nur der Industrie dadurch Lasten auferlegt wurden. Nur Standes¬
selbstsucht ist also für die Haltung der Agrarier in dieser Frage bestimmend.
Für sie fallen ja die grundsätzlichen Bedenken gegen Staatseinmischung so
wenig ins Gewicht, daß sie vielmehr ein weitgehendes Eingreifen des Staates
in das wirtschaftliche Leben verlangen. Aber nur in einer bestimmten
Richtung. Der Staat soll überall im wirtschaftlichen Kampfe für die Land¬
wirtschaft Partei ergreifen, nicht bloß andern Verufsständen und Unternehmer¬
klassen gegenüber, sondern auch dem Arbeiterstande gegenüber. So werden
denn die Arbeiterinteressen ganz zurückgestellt hinter die Interessen, die an¬
geblich im Namen der Landwirtschaft von den Agrariern vertreten werden.
Diese Selbstsucht tritt jetzt unverhüllter auf, als je. Früher war die gezwungne
Auslegung gebräuchlich, daß die Politik der Agarier dem kleinen Manne zu
gute komme, weil sie Arbeitsgelegenheit schaffen wolle. Dieser Grund mag
gelegentlich noch gebraucht werden, aber im ganzen giebt man sich wenig
Mühe, die agrarischen Bestrebungen auf diese Weise zu rechtfertigen. Daß
der "Mittelstand" am schlechtesten gestellt sei, viel schlechter als der Arbeiter,
daher auch vor diesem der Fürsorge bedürftig, ist zum Glaubenssatz geworden.
Und weil der Staat dieser Aufgabe seine ganze Kraft zu widmen hat, so
bedeutet jede dem Arbeiterstande gewidmete Fürsorge ein Abziehen von dieser
Aufgabe, ein Zersplittern der Kraft, ein Unrecht gegen die eigentlichen Not¬
leidenden im Staat. Bei dieser Gesinnung kann die Geringschätzung der
Agrarier gegen sozialpolitische Bestrebungen nicht Wunder nehmen. Und da
die Anschauungen der Agrarier für die Regierungspolitik so sehr bestimmend
sind, so ist es auch zu begreifen, daß die Regierung die Sozialpolitik vernach¬
lässigt. Zu den im Eingange genannten Beweggründen kommt so die Rücksicht
auf die Agrarier hinzu. Wenn gewisse Blätter behaupten, daß die Regierung,
andre, daß die Rechte keine Schwenkung auf sozialpolitischen Gebiet gemacht
habe, so wird man dadurch keinen täuschen, der aufmerksam die politischen
Vorgänge verfolgt hat. Wie freilich ein solches Verlassen der früher be¬
folgten Grundsätze mit der hohen Bedeutung der sozialen Frage, die -- theo¬
retisch -- allgemein anerkannt wird, vereinbar sein soll, ist uns nicht klar.




Der sozialpolitische Kurs

die ländlichen Arbeitgeber zu Leistungen für die Arbeiter herangezogen wurden.
Seitdem haben die Agrarier sogar Einrichtungen bekämpft, für die sie eintraten,
solange nur der Industrie dadurch Lasten auferlegt wurden. Nur Standes¬
selbstsucht ist also für die Haltung der Agrarier in dieser Frage bestimmend.
Für sie fallen ja die grundsätzlichen Bedenken gegen Staatseinmischung so
wenig ins Gewicht, daß sie vielmehr ein weitgehendes Eingreifen des Staates
in das wirtschaftliche Leben verlangen. Aber nur in einer bestimmten
Richtung. Der Staat soll überall im wirtschaftlichen Kampfe für die Land¬
wirtschaft Partei ergreifen, nicht bloß andern Verufsständen und Unternehmer¬
klassen gegenüber, sondern auch dem Arbeiterstande gegenüber. So werden
denn die Arbeiterinteressen ganz zurückgestellt hinter die Interessen, die an¬
geblich im Namen der Landwirtschaft von den Agrariern vertreten werden.
Diese Selbstsucht tritt jetzt unverhüllter auf, als je. Früher war die gezwungne
Auslegung gebräuchlich, daß die Politik der Agarier dem kleinen Manne zu
gute komme, weil sie Arbeitsgelegenheit schaffen wolle. Dieser Grund mag
gelegentlich noch gebraucht werden, aber im ganzen giebt man sich wenig
Mühe, die agrarischen Bestrebungen auf diese Weise zu rechtfertigen. Daß
der „Mittelstand" am schlechtesten gestellt sei, viel schlechter als der Arbeiter,
daher auch vor diesem der Fürsorge bedürftig, ist zum Glaubenssatz geworden.
Und weil der Staat dieser Aufgabe seine ganze Kraft zu widmen hat, so
bedeutet jede dem Arbeiterstande gewidmete Fürsorge ein Abziehen von dieser
Aufgabe, ein Zersplittern der Kraft, ein Unrecht gegen die eigentlichen Not¬
leidenden im Staat. Bei dieser Gesinnung kann die Geringschätzung der
Agrarier gegen sozialpolitische Bestrebungen nicht Wunder nehmen. Und da
die Anschauungen der Agrarier für die Regierungspolitik so sehr bestimmend
sind, so ist es auch zu begreifen, daß die Regierung die Sozialpolitik vernach¬
lässigt. Zu den im Eingange genannten Beweggründen kommt so die Rücksicht
auf die Agrarier hinzu. Wenn gewisse Blätter behaupten, daß die Regierung,
andre, daß die Rechte keine Schwenkung auf sozialpolitischen Gebiet gemacht
habe, so wird man dadurch keinen täuschen, der aufmerksam die politischen
Vorgänge verfolgt hat. Wie freilich ein solches Verlassen der früher be¬
folgten Grundsätze mit der hohen Bedeutung der sozialen Frage, die — theo¬
retisch — allgemein anerkannt wird, vereinbar sein soll, ist uns nicht klar.




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[0302] Der sozialpolitische Kurs die ländlichen Arbeitgeber zu Leistungen für die Arbeiter herangezogen wurden. Seitdem haben die Agrarier sogar Einrichtungen bekämpft, für die sie eintraten, solange nur der Industrie dadurch Lasten auferlegt wurden. Nur Standes¬ selbstsucht ist also für die Haltung der Agrarier in dieser Frage bestimmend. Für sie fallen ja die grundsätzlichen Bedenken gegen Staatseinmischung so wenig ins Gewicht, daß sie vielmehr ein weitgehendes Eingreifen des Staates in das wirtschaftliche Leben verlangen. Aber nur in einer bestimmten Richtung. Der Staat soll überall im wirtschaftlichen Kampfe für die Land¬ wirtschaft Partei ergreifen, nicht bloß andern Verufsständen und Unternehmer¬ klassen gegenüber, sondern auch dem Arbeiterstande gegenüber. So werden denn die Arbeiterinteressen ganz zurückgestellt hinter die Interessen, die an¬ geblich im Namen der Landwirtschaft von den Agrariern vertreten werden. Diese Selbstsucht tritt jetzt unverhüllter auf, als je. Früher war die gezwungne Auslegung gebräuchlich, daß die Politik der Agarier dem kleinen Manne zu gute komme, weil sie Arbeitsgelegenheit schaffen wolle. Dieser Grund mag gelegentlich noch gebraucht werden, aber im ganzen giebt man sich wenig Mühe, die agrarischen Bestrebungen auf diese Weise zu rechtfertigen. Daß der „Mittelstand" am schlechtesten gestellt sei, viel schlechter als der Arbeiter, daher auch vor diesem der Fürsorge bedürftig, ist zum Glaubenssatz geworden. Und weil der Staat dieser Aufgabe seine ganze Kraft zu widmen hat, so bedeutet jede dem Arbeiterstande gewidmete Fürsorge ein Abziehen von dieser Aufgabe, ein Zersplittern der Kraft, ein Unrecht gegen die eigentlichen Not¬ leidenden im Staat. Bei dieser Gesinnung kann die Geringschätzung der Agrarier gegen sozialpolitische Bestrebungen nicht Wunder nehmen. Und da die Anschauungen der Agrarier für die Regierungspolitik so sehr bestimmend sind, so ist es auch zu begreifen, daß die Regierung die Sozialpolitik vernach¬ lässigt. Zu den im Eingange genannten Beweggründen kommt so die Rücksicht auf die Agrarier hinzu. Wenn gewisse Blätter behaupten, daß die Regierung, andre, daß die Rechte keine Schwenkung auf sozialpolitischen Gebiet gemacht habe, so wird man dadurch keinen täuschen, der aufmerksam die politischen Vorgänge verfolgt hat. Wie freilich ein solches Verlassen der früher be¬ folgten Grundsätze mit der hohen Bedeutung der sozialen Frage, die — theo¬ retisch — allgemein anerkannt wird, vereinbar sein soll, ist uns nicht klar.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/302>, abgerufen am 01.09.2024.