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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

und mit Bezug auf die Wirkungen ihrer Thätigkeit die Erwartungen zu hoch
gespannt worden sind. Wie mit den "produktiven Berufsständen," so geht
es auch mit dem Arbeiterstande. Alles, was der Staat leisten kann, ist be¬
scheiden im Verhältnis zu dem, was die Agarier, wie zu dem, was die
Sozialdemokraten verlangen. Den Irrtum von der Allmacht der Staatsge¬
walt hat der "neue Kurs" von dem alten übernommen; er hat unter dem
"neuesten Kurs" noch mehr Einfluß erlangt, und wenn dieser durch einen
noch neuern abgelöst werden sollte, so ist zu befürchten, daß diese Richtung
noch einseitiger ausgeprägt sein wird. Aber bezeichnend für die allmähliche
Entwicklung der Regierungspolitik ist es, daß die Arbeiterfürsorge mehr und
mehr zurückgetreten ist, da gegen die Not des Großgrundbesitzes als haupt¬
sächlich der Abhilfe bedürftig bezeichnet, und darnach auch von der Regierung
verfahren wird.

Daß es einen sozialpolitischen Übereifer giebt, dem entgegengetreten
werden muß, glauben auch wir. Es führt in der Praxis leicht zu verhängnis¬
vollen Fehlgriffen, wenn man meint, daß man nur nach der "Klinke der Gesetz¬
gebung" zu greifen brauche, um alle Schäden zu heilen. Bei Eingriffen der
Gesetzgebung ist wohl darauf zu achten, daß nicht die wirtschaftliche Freiheit
der Einzelnen zu sehr beeinträchtigt werde und der den Schwachen zugedachte
..Schutz" sür sie selbst eine lästige Fessel werde. Die Selbstthätigkeit der
Einzelnen wird immer für sie die Quelle des Erwerbs bleiben, und daß sie
richtig angewandt werde, darauf kommt es an. Die Gesetzgebung hat keine
Zaubermittel, wodurch sie Wohlstand verbreiten kaun.

Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man solche Bedenken hegt und
aus solchen Gründen dem gesetzgeberischen Übereifer zu wehren sucht, oder ob
man die Arbeiterfürsorge nach den Grundsätzen der Agrarier beurteilt. Nach den
gegenwärtig von agrarischer Seite geäußerten Ansichten ist eigentlich die ganze
staatliche Arbeiterfürsorgc etwas überflüssiges, wo nicht schädliches. Nun
hat sie ja gewiß ihre Mängel, und sie befriedigt, wie gesagt, nicht die ge¬
hegten Erwartungen. Aber der Grundgedanke: daß eine Besserung der Lage
des Arbeiterstandes zu erstreben und mit den geeigneten Mitteln darauf
hinzuwirken sei, daß das sowohl die Klugheit wie die Gerechtigkeit gebiete,
daß die Besitzenden im eignen Interresse, nämlich weil der Klassenhaß für
sie eine ernste Gefahr bedeutet, wie auch aus Wohlwollen für ihre vom
Schicksal weniger begünstigten Mitmenschen auf Herstellung des sozialen
Friedens hinzuwirken haben, dieser Grundgedanke ist doch ziemlich allgemein
von den Anhängern der bürgerlichen Parteien als richtig anerkannt worden.
Gerade dieser Grundgedanke aber wird von den Agrariern bekämpft. Mit
immer größerer Offenheit geben sie ihrer Abneigung gegen jedes sozialpolitische
Wirken, ihrer Geringschätzung jedes auf Hebung des Arbeiterstandes gerichteten
Strebens Ausdruck. Diese Abneigung aber stammt aus der Zeit, wo auch


Der sozialpolitische Kurs

und mit Bezug auf die Wirkungen ihrer Thätigkeit die Erwartungen zu hoch
gespannt worden sind. Wie mit den „produktiven Berufsständen," so geht
es auch mit dem Arbeiterstande. Alles, was der Staat leisten kann, ist be¬
scheiden im Verhältnis zu dem, was die Agarier, wie zu dem, was die
Sozialdemokraten verlangen. Den Irrtum von der Allmacht der Staatsge¬
walt hat der „neue Kurs" von dem alten übernommen; er hat unter dem
»neuesten Kurs" noch mehr Einfluß erlangt, und wenn dieser durch einen
noch neuern abgelöst werden sollte, so ist zu befürchten, daß diese Richtung
noch einseitiger ausgeprägt sein wird. Aber bezeichnend für die allmähliche
Entwicklung der Regierungspolitik ist es, daß die Arbeiterfürsorge mehr und
mehr zurückgetreten ist, da gegen die Not des Großgrundbesitzes als haupt¬
sächlich der Abhilfe bedürftig bezeichnet, und darnach auch von der Regierung
verfahren wird.

Daß es einen sozialpolitischen Übereifer giebt, dem entgegengetreten
werden muß, glauben auch wir. Es führt in der Praxis leicht zu verhängnis¬
vollen Fehlgriffen, wenn man meint, daß man nur nach der „Klinke der Gesetz¬
gebung" zu greifen brauche, um alle Schäden zu heilen. Bei Eingriffen der
Gesetzgebung ist wohl darauf zu achten, daß nicht die wirtschaftliche Freiheit
der Einzelnen zu sehr beeinträchtigt werde und der den Schwachen zugedachte
..Schutz" sür sie selbst eine lästige Fessel werde. Die Selbstthätigkeit der
Einzelnen wird immer für sie die Quelle des Erwerbs bleiben, und daß sie
richtig angewandt werde, darauf kommt es an. Die Gesetzgebung hat keine
Zaubermittel, wodurch sie Wohlstand verbreiten kaun.

Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man solche Bedenken hegt und
aus solchen Gründen dem gesetzgeberischen Übereifer zu wehren sucht, oder ob
man die Arbeiterfürsorge nach den Grundsätzen der Agrarier beurteilt. Nach den
gegenwärtig von agrarischer Seite geäußerten Ansichten ist eigentlich die ganze
staatliche Arbeiterfürsorgc etwas überflüssiges, wo nicht schädliches. Nun
hat sie ja gewiß ihre Mängel, und sie befriedigt, wie gesagt, nicht die ge¬
hegten Erwartungen. Aber der Grundgedanke: daß eine Besserung der Lage
des Arbeiterstandes zu erstreben und mit den geeigneten Mitteln darauf
hinzuwirken sei, daß das sowohl die Klugheit wie die Gerechtigkeit gebiete,
daß die Besitzenden im eignen Interresse, nämlich weil der Klassenhaß für
sie eine ernste Gefahr bedeutet, wie auch aus Wohlwollen für ihre vom
Schicksal weniger begünstigten Mitmenschen auf Herstellung des sozialen
Friedens hinzuwirken haben, dieser Grundgedanke ist doch ziemlich allgemein
von den Anhängern der bürgerlichen Parteien als richtig anerkannt worden.
Gerade dieser Grundgedanke aber wird von den Agrariern bekämpft. Mit
immer größerer Offenheit geben sie ihrer Abneigung gegen jedes sozialpolitische
Wirken, ihrer Geringschätzung jedes auf Hebung des Arbeiterstandes gerichteten
Strebens Ausdruck. Diese Abneigung aber stammt aus der Zeit, wo auch


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[0301] Der sozialpolitische Kurs und mit Bezug auf die Wirkungen ihrer Thätigkeit die Erwartungen zu hoch gespannt worden sind. Wie mit den „produktiven Berufsständen," so geht es auch mit dem Arbeiterstande. Alles, was der Staat leisten kann, ist be¬ scheiden im Verhältnis zu dem, was die Agarier, wie zu dem, was die Sozialdemokraten verlangen. Den Irrtum von der Allmacht der Staatsge¬ walt hat der „neue Kurs" von dem alten übernommen; er hat unter dem »neuesten Kurs" noch mehr Einfluß erlangt, und wenn dieser durch einen noch neuern abgelöst werden sollte, so ist zu befürchten, daß diese Richtung noch einseitiger ausgeprägt sein wird. Aber bezeichnend für die allmähliche Entwicklung der Regierungspolitik ist es, daß die Arbeiterfürsorge mehr und mehr zurückgetreten ist, da gegen die Not des Großgrundbesitzes als haupt¬ sächlich der Abhilfe bedürftig bezeichnet, und darnach auch von der Regierung verfahren wird. Daß es einen sozialpolitischen Übereifer giebt, dem entgegengetreten werden muß, glauben auch wir. Es führt in der Praxis leicht zu verhängnis¬ vollen Fehlgriffen, wenn man meint, daß man nur nach der „Klinke der Gesetz¬ gebung" zu greifen brauche, um alle Schäden zu heilen. Bei Eingriffen der Gesetzgebung ist wohl darauf zu achten, daß nicht die wirtschaftliche Freiheit der Einzelnen zu sehr beeinträchtigt werde und der den Schwachen zugedachte ..Schutz" sür sie selbst eine lästige Fessel werde. Die Selbstthätigkeit der Einzelnen wird immer für sie die Quelle des Erwerbs bleiben, und daß sie richtig angewandt werde, darauf kommt es an. Die Gesetzgebung hat keine Zaubermittel, wodurch sie Wohlstand verbreiten kaun. Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man solche Bedenken hegt und aus solchen Gründen dem gesetzgeberischen Übereifer zu wehren sucht, oder ob man die Arbeiterfürsorge nach den Grundsätzen der Agrarier beurteilt. Nach den gegenwärtig von agrarischer Seite geäußerten Ansichten ist eigentlich die ganze staatliche Arbeiterfürsorgc etwas überflüssiges, wo nicht schädliches. Nun hat sie ja gewiß ihre Mängel, und sie befriedigt, wie gesagt, nicht die ge¬ hegten Erwartungen. Aber der Grundgedanke: daß eine Besserung der Lage des Arbeiterstandes zu erstreben und mit den geeigneten Mitteln darauf hinzuwirken sei, daß das sowohl die Klugheit wie die Gerechtigkeit gebiete, daß die Besitzenden im eignen Interresse, nämlich weil der Klassenhaß für sie eine ernste Gefahr bedeutet, wie auch aus Wohlwollen für ihre vom Schicksal weniger begünstigten Mitmenschen auf Herstellung des sozialen Friedens hinzuwirken haben, dieser Grundgedanke ist doch ziemlich allgemein von den Anhängern der bürgerlichen Parteien als richtig anerkannt worden. Gerade dieser Grundgedanke aber wird von den Agrariern bekämpft. Mit immer größerer Offenheit geben sie ihrer Abneigung gegen jedes sozialpolitische Wirken, ihrer Geringschätzung jedes auf Hebung des Arbeiterstandes gerichteten Strebens Ausdruck. Diese Abneigung aber stammt aus der Zeit, wo auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/301>, abgerufen am 01.09.2024.