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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

weniger Wert beigelegt wird. Die arbeitenden Klassen werden als Undank¬
bare betrachtet, die durch Wohlthaten oder durch Maßregeln zu ihren Gunsten
befriedigen zu wollen ein aussichtsloses Bemühen sei. Mit dieser Ansicht
scheint es auch zusammenzuhängen, daß wieder mehr die Neigung hervortritt,
durch Gewaltmaßregeln die Sozialdemokratie zu bekämpfen, daß sich der Ruf nach
einem neuen Ausnahmegesetze sich lauter hervorwagt, daß die Regierung gegen
die sozialistische Presse schärfer vorgeht und durch größere Strenge in der
Auslegung der bestehenden Gesetze gewissermaßen den Mangel eines Ausnahme¬
gesetzes zu ersetzen sucht.

Diese Ungeduld, die rasche und durchschlagende Erfolge im Kampf
mit der Sozialdemokratie sehen will, ist ganz verfehlt. Es wird dabei ver¬
kannt, daß die sozialistische Bewegung eine Zeitkrankheit ist, die nur langsam
ausheilen kann, daß die Wirkung von Gesetzesmaßregeln, die zur Beschleuni¬
gung dieses Vorgangs erlassen werden, nur beschränkt ist, daß man ebenso
sorgfältig darauf bedacht sein muß, alles zu vermeiden, was zur Verschlimme¬
rung der Krankheit beitragen könnte, als darauf, Heilmittel zu ihrer Be¬
kämpfung zu ersinnen. Und ein Hauptfehler ist. daß die erste Forderung zu
wenig beachtet wird. Man hat sich zu sehr an den Gedanken gewöhnt, daß
durch ein Wohlthatenspenden von oben herab alles gut zu machen sei, daß
damit der Staat und die Gesellschaft ihre Schuldigkeit gethan hätten und
dann auf den Dank der untern Klassen gerechten Anspruch erheben dürften.
Für die schwerste Aufgabe im Kampfe mit der Sozialdemokratie, für die Selbst¬
thätigkeit der Gesellschaft, die durch das ganze Verhalten der obern Gesellschafts¬
klassen ausgeübt werden muß, besteht in unsrer Zeit und in unserm Lande
zu wenig Neigung und Fähigkeit. Es fehlt zu sehr an dem ernstlichen Be¬
mühen, die sozialen Gegensätze zu mildern. Annäherung an die untern
Stände zu suchen. Dazu gehört ein gewisses Maß von Entsagung und
Selbstbeherrschung. Schrankenlose Ausdehnung der Genußsucht und Ent¬
faltung von Pracht, sowie das Festhalten von Standesvorurteilen sind nur
geeignet, die soziale Unzufriedenheit zu stärken. Hierdurch wird der sozialistischen
Agitation ein willkommner Vorwand geboten, auf die Ungleichheit des
menschlichen Loses hinzuweisen. Gerade in dieser Hinsicht aber wird heute
viel gesündigt, bis in die höchsten Gesellschaftskreise hinauf. Gleichzeitig hat
auch die Gesetzgebung eine Richtung eingeschlagen, die für die Bekämpfung
der Sozialdemokratie keineswegs förderlich ist. Und während man sich so
einredet, daß die Pflichten gegen die untern Klassen vollauf erfüllt seien,
hat durch gesetzgeberische Maßregeln und durch das Verhalten der obern
Gesellschaftsklassen die Sozialdemokratie nur neue Nahrung erhalten.

Die Behauptung, daß die arbeitenden Klassen durch Leistungen des
Staates nicht zu befriedigen seien, ist ja nicht ganz unrichtig. Aber das liegt
doch daran, daß von Anfang an die Fähigkeiten der Staatsgewalt überschützt


Der sozialpolitische Kurs

weniger Wert beigelegt wird. Die arbeitenden Klassen werden als Undank¬
bare betrachtet, die durch Wohlthaten oder durch Maßregeln zu ihren Gunsten
befriedigen zu wollen ein aussichtsloses Bemühen sei. Mit dieser Ansicht
scheint es auch zusammenzuhängen, daß wieder mehr die Neigung hervortritt,
durch Gewaltmaßregeln die Sozialdemokratie zu bekämpfen, daß sich der Ruf nach
einem neuen Ausnahmegesetze sich lauter hervorwagt, daß die Regierung gegen
die sozialistische Presse schärfer vorgeht und durch größere Strenge in der
Auslegung der bestehenden Gesetze gewissermaßen den Mangel eines Ausnahme¬
gesetzes zu ersetzen sucht.

Diese Ungeduld, die rasche und durchschlagende Erfolge im Kampf
mit der Sozialdemokratie sehen will, ist ganz verfehlt. Es wird dabei ver¬
kannt, daß die sozialistische Bewegung eine Zeitkrankheit ist, die nur langsam
ausheilen kann, daß die Wirkung von Gesetzesmaßregeln, die zur Beschleuni¬
gung dieses Vorgangs erlassen werden, nur beschränkt ist, daß man ebenso
sorgfältig darauf bedacht sein muß, alles zu vermeiden, was zur Verschlimme¬
rung der Krankheit beitragen könnte, als darauf, Heilmittel zu ihrer Be¬
kämpfung zu ersinnen. Und ein Hauptfehler ist. daß die erste Forderung zu
wenig beachtet wird. Man hat sich zu sehr an den Gedanken gewöhnt, daß
durch ein Wohlthatenspenden von oben herab alles gut zu machen sei, daß
damit der Staat und die Gesellschaft ihre Schuldigkeit gethan hätten und
dann auf den Dank der untern Klassen gerechten Anspruch erheben dürften.
Für die schwerste Aufgabe im Kampfe mit der Sozialdemokratie, für die Selbst¬
thätigkeit der Gesellschaft, die durch das ganze Verhalten der obern Gesellschafts¬
klassen ausgeübt werden muß, besteht in unsrer Zeit und in unserm Lande
zu wenig Neigung und Fähigkeit. Es fehlt zu sehr an dem ernstlichen Be¬
mühen, die sozialen Gegensätze zu mildern. Annäherung an die untern
Stände zu suchen. Dazu gehört ein gewisses Maß von Entsagung und
Selbstbeherrschung. Schrankenlose Ausdehnung der Genußsucht und Ent¬
faltung von Pracht, sowie das Festhalten von Standesvorurteilen sind nur
geeignet, die soziale Unzufriedenheit zu stärken. Hierdurch wird der sozialistischen
Agitation ein willkommner Vorwand geboten, auf die Ungleichheit des
menschlichen Loses hinzuweisen. Gerade in dieser Hinsicht aber wird heute
viel gesündigt, bis in die höchsten Gesellschaftskreise hinauf. Gleichzeitig hat
auch die Gesetzgebung eine Richtung eingeschlagen, die für die Bekämpfung
der Sozialdemokratie keineswegs förderlich ist. Und während man sich so
einredet, daß die Pflichten gegen die untern Klassen vollauf erfüllt seien,
hat durch gesetzgeberische Maßregeln und durch das Verhalten der obern
Gesellschaftsklassen die Sozialdemokratie nur neue Nahrung erhalten.

Die Behauptung, daß die arbeitenden Klassen durch Leistungen des
Staates nicht zu befriedigen seien, ist ja nicht ganz unrichtig. Aber das liegt
doch daran, daß von Anfang an die Fähigkeiten der Staatsgewalt überschützt


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[0300] Der sozialpolitische Kurs weniger Wert beigelegt wird. Die arbeitenden Klassen werden als Undank¬ bare betrachtet, die durch Wohlthaten oder durch Maßregeln zu ihren Gunsten befriedigen zu wollen ein aussichtsloses Bemühen sei. Mit dieser Ansicht scheint es auch zusammenzuhängen, daß wieder mehr die Neigung hervortritt, durch Gewaltmaßregeln die Sozialdemokratie zu bekämpfen, daß sich der Ruf nach einem neuen Ausnahmegesetze sich lauter hervorwagt, daß die Regierung gegen die sozialistische Presse schärfer vorgeht und durch größere Strenge in der Auslegung der bestehenden Gesetze gewissermaßen den Mangel eines Ausnahme¬ gesetzes zu ersetzen sucht. Diese Ungeduld, die rasche und durchschlagende Erfolge im Kampf mit der Sozialdemokratie sehen will, ist ganz verfehlt. Es wird dabei ver¬ kannt, daß die sozialistische Bewegung eine Zeitkrankheit ist, die nur langsam ausheilen kann, daß die Wirkung von Gesetzesmaßregeln, die zur Beschleuni¬ gung dieses Vorgangs erlassen werden, nur beschränkt ist, daß man ebenso sorgfältig darauf bedacht sein muß, alles zu vermeiden, was zur Verschlimme¬ rung der Krankheit beitragen könnte, als darauf, Heilmittel zu ihrer Be¬ kämpfung zu ersinnen. Und ein Hauptfehler ist. daß die erste Forderung zu wenig beachtet wird. Man hat sich zu sehr an den Gedanken gewöhnt, daß durch ein Wohlthatenspenden von oben herab alles gut zu machen sei, daß damit der Staat und die Gesellschaft ihre Schuldigkeit gethan hätten und dann auf den Dank der untern Klassen gerechten Anspruch erheben dürften. Für die schwerste Aufgabe im Kampfe mit der Sozialdemokratie, für die Selbst¬ thätigkeit der Gesellschaft, die durch das ganze Verhalten der obern Gesellschafts¬ klassen ausgeübt werden muß, besteht in unsrer Zeit und in unserm Lande zu wenig Neigung und Fähigkeit. Es fehlt zu sehr an dem ernstlichen Be¬ mühen, die sozialen Gegensätze zu mildern. Annäherung an die untern Stände zu suchen. Dazu gehört ein gewisses Maß von Entsagung und Selbstbeherrschung. Schrankenlose Ausdehnung der Genußsucht und Ent¬ faltung von Pracht, sowie das Festhalten von Standesvorurteilen sind nur geeignet, die soziale Unzufriedenheit zu stärken. Hierdurch wird der sozialistischen Agitation ein willkommner Vorwand geboten, auf die Ungleichheit des menschlichen Loses hinzuweisen. Gerade in dieser Hinsicht aber wird heute viel gesündigt, bis in die höchsten Gesellschaftskreise hinauf. Gleichzeitig hat auch die Gesetzgebung eine Richtung eingeschlagen, die für die Bekämpfung der Sozialdemokratie keineswegs förderlich ist. Und während man sich so einredet, daß die Pflichten gegen die untern Klassen vollauf erfüllt seien, hat durch gesetzgeberische Maßregeln und durch das Verhalten der obern Gesellschaftsklassen die Sozialdemokratie nur neue Nahrung erhalten. Die Behauptung, daß die arbeitenden Klassen durch Leistungen des Staates nicht zu befriedigen seien, ist ja nicht ganz unrichtig. Aber das liegt doch daran, daß von Anfang an die Fähigkeiten der Staatsgewalt überschützt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/300>, abgerufen am 01.09.2024.