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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der sozialpolitische Kurs

Laune oder schwankenden Meinung hervorgehen. Und wenn Irrtümer be¬
gangen wurden, so sollte untersucht werden, wie das kam; es sollten hieraus
sür die Zukunft die nötigen Lehren gezogen werden, es sollte am wenigsten
wieder zurückgegriffen werden auf das, was einmal als verkehrt erkannt worden
ist, und es sollte nicht einmal der Verdacht entstehen können, daß die Gesetz¬
gebung hierzu willig und erbötig sei, denn dadurch entsteht bedauerliche Un¬
sicherheit.

Diesen billigen Anforderungen hat unsre Gesetzgebung und hat die Ne-
gierungspolitik nicht entsprochen. Wenn z. B. bald nach dem Abschluß der
Handelsverträge, die sich als eine Notwendigkeit herausgestellt hatten, und die
die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Volksvertretung fanden,
ja noch vor dem Abschluß des letzten dieser Vertrage eine lebhafte Agitation
entstand, die das Werk noch vor dem vollständigen Abschluß zu stören suchte
und es dann nach seiner Vollendung mit großer Heftigkeit bekämpfte, ja sogar
rückgängig zu machen suchte, so war es nicht zu billigen, daß die Regierung
dieser Agitation eine gewisse Berechtigung zugestand und sie mit Wohlwollen
behandelte, ihr Zugeständnisse machte, um sie zu gewinnen und zu versöhnen.
Denn daraus konnte leicht der Schluß gezogen werden, daß die Negierung
ihr eignes, eben mit so großer Mühe zustande gebrachte Werk mißbillige,
daß sie glaube, damit einen schweren Fehlgriff begangen zu haben. Die wirt¬
schaftliche Lage aber berechtigte nicht zu solcher Auffassung. Nur agrarische
Entstellungen hatten es zuwege gebracht, daß so falsche Urteile über den
Wert und die Bedeutung der Handelsvertragspolitik gefällt wurden. Die
Regierung hat bei dieser Gelegenheit eine auffällige Unselbständigkeit und Ab¬
hängigkeit von extremen Parteibestrebungen bewiesen.

Zur Rechtfertigung unsrer Negierungspolitik könnte vielleicht darauf
hingewiesen werden, daß auch anderswo ähnliche Schwankungen der Gesetz¬
gebung und ihrer leitenden Grundsätze, wenn auch nicht so jäh und auffällig,
bemerkt worden sind. Auch in andern Ländern herrscht wirtschaftliche Un¬
zufriedenheit und erzeugt eine Unruhe, die beständig Änderungen an der Gesetz¬
gebung vornehmen möchte. Das Bedenkliche dabei ist aber, daß in diesen
Bestrebungen viel mehr Willkür und Laune, verfehlter Eifer und eine falsche
Vorstellung von dem Wirken der gesetzgeberischen Thätigkeit erkennbar ist, als
wohlbegründete Einsicht.

Und wenn man uns einreden möchte, daß besonders bei uns die Regierung,
der eignen höhern Einsicht folgend, von Zeitströmungen unabhängig sei, so
lehren doch die Thatsachen das Gegenteil. Obgleich grundsätzlich die Ver¬
pflichtung nicht anerkannt wird, der Volksmeinung den Einfluß auf die Gesetz¬
gebung einzuräumen, der ihr nach konstitutionellen Grundsätzen zukommt, ist
doch gerade bei uns eine starke Abhängigkeit der leitenden Kreise von Tages¬
meinungen bemerkbar, ja man kann wohl sagen, eine Ängstlichkeit und Un-


Der sozialpolitische Kurs

Laune oder schwankenden Meinung hervorgehen. Und wenn Irrtümer be¬
gangen wurden, so sollte untersucht werden, wie das kam; es sollten hieraus
sür die Zukunft die nötigen Lehren gezogen werden, es sollte am wenigsten
wieder zurückgegriffen werden auf das, was einmal als verkehrt erkannt worden
ist, und es sollte nicht einmal der Verdacht entstehen können, daß die Gesetz¬
gebung hierzu willig und erbötig sei, denn dadurch entsteht bedauerliche Un¬
sicherheit.

Diesen billigen Anforderungen hat unsre Gesetzgebung und hat die Ne-
gierungspolitik nicht entsprochen. Wenn z. B. bald nach dem Abschluß der
Handelsverträge, die sich als eine Notwendigkeit herausgestellt hatten, und die
die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Volksvertretung fanden,
ja noch vor dem Abschluß des letzten dieser Vertrage eine lebhafte Agitation
entstand, die das Werk noch vor dem vollständigen Abschluß zu stören suchte
und es dann nach seiner Vollendung mit großer Heftigkeit bekämpfte, ja sogar
rückgängig zu machen suchte, so war es nicht zu billigen, daß die Regierung
dieser Agitation eine gewisse Berechtigung zugestand und sie mit Wohlwollen
behandelte, ihr Zugeständnisse machte, um sie zu gewinnen und zu versöhnen.
Denn daraus konnte leicht der Schluß gezogen werden, daß die Negierung
ihr eignes, eben mit so großer Mühe zustande gebrachte Werk mißbillige,
daß sie glaube, damit einen schweren Fehlgriff begangen zu haben. Die wirt¬
schaftliche Lage aber berechtigte nicht zu solcher Auffassung. Nur agrarische
Entstellungen hatten es zuwege gebracht, daß so falsche Urteile über den
Wert und die Bedeutung der Handelsvertragspolitik gefällt wurden. Die
Regierung hat bei dieser Gelegenheit eine auffällige Unselbständigkeit und Ab¬
hängigkeit von extremen Parteibestrebungen bewiesen.

Zur Rechtfertigung unsrer Negierungspolitik könnte vielleicht darauf
hingewiesen werden, daß auch anderswo ähnliche Schwankungen der Gesetz¬
gebung und ihrer leitenden Grundsätze, wenn auch nicht so jäh und auffällig,
bemerkt worden sind. Auch in andern Ländern herrscht wirtschaftliche Un¬
zufriedenheit und erzeugt eine Unruhe, die beständig Änderungen an der Gesetz¬
gebung vornehmen möchte. Das Bedenkliche dabei ist aber, daß in diesen
Bestrebungen viel mehr Willkür und Laune, verfehlter Eifer und eine falsche
Vorstellung von dem Wirken der gesetzgeberischen Thätigkeit erkennbar ist, als
wohlbegründete Einsicht.

Und wenn man uns einreden möchte, daß besonders bei uns die Regierung,
der eignen höhern Einsicht folgend, von Zeitströmungen unabhängig sei, so
lehren doch die Thatsachen das Gegenteil. Obgleich grundsätzlich die Ver¬
pflichtung nicht anerkannt wird, der Volksmeinung den Einfluß auf die Gesetz¬
gebung einzuräumen, der ihr nach konstitutionellen Grundsätzen zukommt, ist
doch gerade bei uns eine starke Abhängigkeit der leitenden Kreise von Tages¬
meinungen bemerkbar, ja man kann wohl sagen, eine Ängstlichkeit und Un-


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[0298] Der sozialpolitische Kurs Laune oder schwankenden Meinung hervorgehen. Und wenn Irrtümer be¬ gangen wurden, so sollte untersucht werden, wie das kam; es sollten hieraus sür die Zukunft die nötigen Lehren gezogen werden, es sollte am wenigsten wieder zurückgegriffen werden auf das, was einmal als verkehrt erkannt worden ist, und es sollte nicht einmal der Verdacht entstehen können, daß die Gesetz¬ gebung hierzu willig und erbötig sei, denn dadurch entsteht bedauerliche Un¬ sicherheit. Diesen billigen Anforderungen hat unsre Gesetzgebung und hat die Ne- gierungspolitik nicht entsprochen. Wenn z. B. bald nach dem Abschluß der Handelsverträge, die sich als eine Notwendigkeit herausgestellt hatten, und die die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Volksvertretung fanden, ja noch vor dem Abschluß des letzten dieser Vertrage eine lebhafte Agitation entstand, die das Werk noch vor dem vollständigen Abschluß zu stören suchte und es dann nach seiner Vollendung mit großer Heftigkeit bekämpfte, ja sogar rückgängig zu machen suchte, so war es nicht zu billigen, daß die Regierung dieser Agitation eine gewisse Berechtigung zugestand und sie mit Wohlwollen behandelte, ihr Zugeständnisse machte, um sie zu gewinnen und zu versöhnen. Denn daraus konnte leicht der Schluß gezogen werden, daß die Negierung ihr eignes, eben mit so großer Mühe zustande gebrachte Werk mißbillige, daß sie glaube, damit einen schweren Fehlgriff begangen zu haben. Die wirt¬ schaftliche Lage aber berechtigte nicht zu solcher Auffassung. Nur agrarische Entstellungen hatten es zuwege gebracht, daß so falsche Urteile über den Wert und die Bedeutung der Handelsvertragspolitik gefällt wurden. Die Regierung hat bei dieser Gelegenheit eine auffällige Unselbständigkeit und Ab¬ hängigkeit von extremen Parteibestrebungen bewiesen. Zur Rechtfertigung unsrer Negierungspolitik könnte vielleicht darauf hingewiesen werden, daß auch anderswo ähnliche Schwankungen der Gesetz¬ gebung und ihrer leitenden Grundsätze, wenn auch nicht so jäh und auffällig, bemerkt worden sind. Auch in andern Ländern herrscht wirtschaftliche Un¬ zufriedenheit und erzeugt eine Unruhe, die beständig Änderungen an der Gesetz¬ gebung vornehmen möchte. Das Bedenkliche dabei ist aber, daß in diesen Bestrebungen viel mehr Willkür und Laune, verfehlter Eifer und eine falsche Vorstellung von dem Wirken der gesetzgeberischen Thätigkeit erkennbar ist, als wohlbegründete Einsicht. Und wenn man uns einreden möchte, daß besonders bei uns die Regierung, der eignen höhern Einsicht folgend, von Zeitströmungen unabhängig sei, so lehren doch die Thatsachen das Gegenteil. Obgleich grundsätzlich die Ver¬ pflichtung nicht anerkannt wird, der Volksmeinung den Einfluß auf die Gesetz¬ gebung einzuräumen, der ihr nach konstitutionellen Grundsätzen zukommt, ist doch gerade bei uns eine starke Abhängigkeit der leitenden Kreise von Tages¬ meinungen bemerkbar, ja man kann wohl sagen, eine Ängstlichkeit und Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/298>, abgerufen am 01.09.2024.