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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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gründe erinnerte. Man kann die Periode vor 1870 recht gut mit der vor
der französischen Revolution vergleichen, nur daß das deutsche Bürgertum der
Noblesse des g-ireisn rv^uns natürlich im Gutem und Bösem nicht gleichkam;
aber wie diese die große Revolution nicht sah und an ein anbrechendes goldnes
Zeitalter der Freiheit und Humanität glaubte, so erwartete die deutsche Gesell¬
schaft alles Heil von dem bevorstehenden Sieg der liberalen und nationalen
Ideen und freute sich, uuter deu Segnungen der Industrie des bisher in
Deutschland üblichen knappen Zuschnitts der Lebensführung endlich ledig, seines
Lebens. Noch ruhten die sozialen Fragen im Zeitenschoße, trotzdem daß die
Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten
immer größer wurde, trotz Lassalle, der eben nur eine interessante Erscheinung
war; noch waren freilich auch das neumodische Protzentum und die wilde
Genußsucht erst in der Entwicklung, die alte freie humane Bildung hielt noch
vor. Es war, wie gesagt, ein schöner Abend der alten deutschen Kultur, ein
prächtiger Herbsttag vor Einbruch der Herbststürme, und das damalige deutsche
Dichtergeschlecht, eben die Münchner, hat ihn genossen und uns ein Bild von
ihm hinterlassen, das uns, die wir in einer viel schwerern Zeit stehen, wohl
mit Neid und Wehmut erfüllen kann. Wir sollten aber doch nicht ungerecht
darüber werden. Kein Volk, keine Zeit bringt lauter Titanen hervor, und der
feingebildete Vertreter einer Bildungskunst, einer Kulturpoesie ist doch auch nicht
zu verachten. Damit sollen die Sünden der Münchner, vor allem ihre Furcht
vor dem wahrhaft Großen und Bedeutenden, ihr allzu eifriges Streben nach
dem Erfolg nicht entschuldigt sein, wir wollen nur nicht vergessen, daß sie die
deutsche Dichtung doch im ganzen auf der Höhe der Kultur erhalten haben
und Künstler waren. Daß es eine alte, vielleicht dem Untergange geweihte
Kultur war, ist nicht ihre Schuld.

^-unscvuna folgt)




Decadencehelden

IN März 1801 schickte Schiller von Jena aus den Roman "Flo-
rentin" von Dorothea Veit (deren Ehescheidung und Verbindung mit
i Friedrich Schlegel eben bevorstand) mit der Charakteristik "eine selt¬
same Fratze" an Goethe, und dieser antwortete, nachdem er etwa
hundert Seiten des Buches gelesen hatte: "Obgleich Florentin als
ein Erdgeborner auftritt, so ließe sich doch recht gut seine Stamm¬
tafel machen, es können durch diese Filiationen noch wunderliche Geschöpfe ent¬
stehen. Was sich aber ein Student freuen muß, wenn er einen solchen Helden
gewahr wird! Denn so ungefähr möchten sie doch gern alle aussehen!"


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gründe erinnerte. Man kann die Periode vor 1870 recht gut mit der vor
der französischen Revolution vergleichen, nur daß das deutsche Bürgertum der
Noblesse des g-ireisn rv^uns natürlich im Gutem und Bösem nicht gleichkam;
aber wie diese die große Revolution nicht sah und an ein anbrechendes goldnes
Zeitalter der Freiheit und Humanität glaubte, so erwartete die deutsche Gesell¬
schaft alles Heil von dem bevorstehenden Sieg der liberalen und nationalen
Ideen und freute sich, uuter deu Segnungen der Industrie des bisher in
Deutschland üblichen knappen Zuschnitts der Lebensführung endlich ledig, seines
Lebens. Noch ruhten die sozialen Fragen im Zeitenschoße, trotzdem daß die
Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten
immer größer wurde, trotz Lassalle, der eben nur eine interessante Erscheinung
war; noch waren freilich auch das neumodische Protzentum und die wilde
Genußsucht erst in der Entwicklung, die alte freie humane Bildung hielt noch
vor. Es war, wie gesagt, ein schöner Abend der alten deutschen Kultur, ein
prächtiger Herbsttag vor Einbruch der Herbststürme, und das damalige deutsche
Dichtergeschlecht, eben die Münchner, hat ihn genossen und uns ein Bild von
ihm hinterlassen, das uns, die wir in einer viel schwerern Zeit stehen, wohl
mit Neid und Wehmut erfüllen kann. Wir sollten aber doch nicht ungerecht
darüber werden. Kein Volk, keine Zeit bringt lauter Titanen hervor, und der
feingebildete Vertreter einer Bildungskunst, einer Kulturpoesie ist doch auch nicht
zu verachten. Damit sollen die Sünden der Münchner, vor allem ihre Furcht
vor dem wahrhaft Großen und Bedeutenden, ihr allzu eifriges Streben nach
dem Erfolg nicht entschuldigt sein, wir wollen nur nicht vergessen, daß sie die
deutsche Dichtung doch im ganzen auf der Höhe der Kultur erhalten haben
und Künstler waren. Daß es eine alte, vielleicht dem Untergange geweihte
Kultur war, ist nicht ihre Schuld.

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IN März 1801 schickte Schiller von Jena aus den Roman „Flo-
rentin" von Dorothea Veit (deren Ehescheidung und Verbindung mit
i Friedrich Schlegel eben bevorstand) mit der Charakteristik „eine selt¬
same Fratze" an Goethe, und dieser antwortete, nachdem er etwa
hundert Seiten des Buches gelesen hatte: „Obgleich Florentin als
ein Erdgeborner auftritt, so ließe sich doch recht gut seine Stamm¬
tafel machen, es können durch diese Filiationen noch wunderliche Geschöpfe ent¬
stehen. Was sich aber ein Student freuen muß, wenn er einen solchen Helden
gewahr wird! Denn so ungefähr möchten sie doch gern alle aussehen!"


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[0288] Decadoncehelden gründe erinnerte. Man kann die Periode vor 1870 recht gut mit der vor der französischen Revolution vergleichen, nur daß das deutsche Bürgertum der Noblesse des g-ireisn rv^uns natürlich im Gutem und Bösem nicht gleichkam; aber wie diese die große Revolution nicht sah und an ein anbrechendes goldnes Zeitalter der Freiheit und Humanität glaubte, so erwartete die deutsche Gesell¬ schaft alles Heil von dem bevorstehenden Sieg der liberalen und nationalen Ideen und freute sich, uuter deu Segnungen der Industrie des bisher in Deutschland üblichen knappen Zuschnitts der Lebensführung endlich ledig, seines Lebens. Noch ruhten die sozialen Fragen im Zeitenschoße, trotzdem daß die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten immer größer wurde, trotz Lassalle, der eben nur eine interessante Erscheinung war; noch waren freilich auch das neumodische Protzentum und die wilde Genußsucht erst in der Entwicklung, die alte freie humane Bildung hielt noch vor. Es war, wie gesagt, ein schöner Abend der alten deutschen Kultur, ein prächtiger Herbsttag vor Einbruch der Herbststürme, und das damalige deutsche Dichtergeschlecht, eben die Münchner, hat ihn genossen und uns ein Bild von ihm hinterlassen, das uns, die wir in einer viel schwerern Zeit stehen, wohl mit Neid und Wehmut erfüllen kann. Wir sollten aber doch nicht ungerecht darüber werden. Kein Volk, keine Zeit bringt lauter Titanen hervor, und der feingebildete Vertreter einer Bildungskunst, einer Kulturpoesie ist doch auch nicht zu verachten. Damit sollen die Sünden der Münchner, vor allem ihre Furcht vor dem wahrhaft Großen und Bedeutenden, ihr allzu eifriges Streben nach dem Erfolg nicht entschuldigt sein, wir wollen nur nicht vergessen, daß sie die deutsche Dichtung doch im ganzen auf der Höhe der Kultur erhalten haben und Künstler waren. Daß es eine alte, vielleicht dem Untergange geweihte Kultur war, ist nicht ihre Schuld. ^-unscvuna folgt) Decadencehelden IN März 1801 schickte Schiller von Jena aus den Roman „Flo- rentin" von Dorothea Veit (deren Ehescheidung und Verbindung mit i Friedrich Schlegel eben bevorstand) mit der Charakteristik „eine selt¬ same Fratze" an Goethe, und dieser antwortete, nachdem er etwa hundert Seiten des Buches gelesen hatte: „Obgleich Florentin als ein Erdgeborner auftritt, so ließe sich doch recht gut seine Stamm¬ tafel machen, es können durch diese Filiationen noch wunderliche Geschöpfe ent¬ stehen. Was sich aber ein Student freuen muß, wenn er einen solchen Helden gewahr wird! Denn so ungefähr möchten sie doch gern alle aussehen!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/288>, abgerufen am 01.09.2024.