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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

was es war, nämlich die ungeheuer angeschwollne Masse der Gebildeten. Mit
welchen Mitteln aber die Münchner das einmütige Wohlgefallen der Gebildeten
errangen, wird eine kurze Betrachtung der hervorragendsten Dichter lehren.

Emanuel Geibel hat ein Vierteljahrhundert lang als der größte deutsche
Dichter seiner Zeit gegolten und hatte auch als "Herold des nationalen Ge¬
dankens" eine hervorragende Stellung verdient. Heute ist nicht viel mehr von
ihm die Rede, er gehörte eben zu den Dichtern, die vor allem die Sprecher
ihrer Zeit sind und daher, sobald eine neue Zeit kommt, von andern abgelöst
werden. Eine genaue Durchsicht von Geibels Werken wird ergeben, daß wenig
oder nichts von ihm den höchsten Ansprüchen genügt, obwohl andrerseits nicht
zu verkennen ist, daß der Dichter an der Ausbildung seines beschränkten Talents
unaufhörlich gearbeitet und in der That eine größere Mannichfaltigkeit der
Stoffe wie die vollständige Beherrschung der äußern Form erreicht hat. Die
elementare Kraft wie das feine Gefühl für innere Form kann man sich aber
nicht geben, und so finde ich bei Geibel kaum ein spezifisch lyrisches Gedicht,
nicht einmal einen ganz eignen Ton, wohl aber, zumal in der ersten Sammlung,
die Töne aller bedeutenden Vorgänger Geibels, ja selbst ihre Erfindungen,
wie z. B. die Lotosblume Heines. Und Eklektiker ist der Dichter sein Leben
lang geblieben. Als ihm ganz eigen erscheint nur jene rührselige Rhetorik,
die Gedichte wie "O rühret, rühret nicht daran," "Wenn sich zwei Herzen
scheiden," "Sie redeten ihr zu, er liebt dich nicht" zu dem Entzücken der weitesten
Kreise gemacht hat. In- seiner spätern Dichtung ist diese Rührseligkeit aller¬
dings echte Resignation, der Dichter überhaupt männlicher geworden, namentlich
auch durch die Berührung mit der Geschichte; doch kann ich selbst die Be¬
wunderung für den "Tod des Tiberius," in dem Geibel nach einem unsrer
jüngsten Lyriker "eine sonst nur dem Genie vorbehaltene Höhe" erreicht haben
soll, nicht teilen. Die Geschichte mit dem Szepter, das der kranke Tiberius
aus dem Fenster wirft und der germanische Legionssoldat, der Christus hat
sterben sehen, aufhebt -- es soll den Übergang der Weltherrschaft von den
Römern zu den Germanen und den einstigen Sieg des Christentums sym-
bolisiren ist mir zu gemacht, ein bloßer Einfall, ein Blender, der an die
Concetti der alten akademischen Kunst erinnert. Über die Dramen Geibels
braucht man kein Wort zu verlieren. Dramatisches ist ja nicht darin. Stellt
sich aber das poetische Verdienst Geibels heute als nicht so bedeutend dar,
wie man im Hinblick auf die von dem Dichter so lange eingenommne Stellung
annehmen sollte, so ist doch die ihm bei Lebzeiten dargebrachte Verehrung und
Bewunderung Wohl verständlich. Geibel ist der letzte deutsche Dichter, der mit
Glück eine Art hohenpriesterlicher Würde zu bewahren wußte, seine Poesie ist
in jeder Beziehung rein und vornehm, und als Herold des nationalen Ge¬
dankens hat er, wie gesagt, nicht seinesgleichen. So war er zum Haupte einer
Schule wie berufen, so konnte er die weitesten Kreise eines nach klingender und


Die Alten und die Jungen

was es war, nämlich die ungeheuer angeschwollne Masse der Gebildeten. Mit
welchen Mitteln aber die Münchner das einmütige Wohlgefallen der Gebildeten
errangen, wird eine kurze Betrachtung der hervorragendsten Dichter lehren.

Emanuel Geibel hat ein Vierteljahrhundert lang als der größte deutsche
Dichter seiner Zeit gegolten und hatte auch als „Herold des nationalen Ge¬
dankens" eine hervorragende Stellung verdient. Heute ist nicht viel mehr von
ihm die Rede, er gehörte eben zu den Dichtern, die vor allem die Sprecher
ihrer Zeit sind und daher, sobald eine neue Zeit kommt, von andern abgelöst
werden. Eine genaue Durchsicht von Geibels Werken wird ergeben, daß wenig
oder nichts von ihm den höchsten Ansprüchen genügt, obwohl andrerseits nicht
zu verkennen ist, daß der Dichter an der Ausbildung seines beschränkten Talents
unaufhörlich gearbeitet und in der That eine größere Mannichfaltigkeit der
Stoffe wie die vollständige Beherrschung der äußern Form erreicht hat. Die
elementare Kraft wie das feine Gefühl für innere Form kann man sich aber
nicht geben, und so finde ich bei Geibel kaum ein spezifisch lyrisches Gedicht,
nicht einmal einen ganz eignen Ton, wohl aber, zumal in der ersten Sammlung,
die Töne aller bedeutenden Vorgänger Geibels, ja selbst ihre Erfindungen,
wie z. B. die Lotosblume Heines. Und Eklektiker ist der Dichter sein Leben
lang geblieben. Als ihm ganz eigen erscheint nur jene rührselige Rhetorik,
die Gedichte wie „O rühret, rühret nicht daran," „Wenn sich zwei Herzen
scheiden," „Sie redeten ihr zu, er liebt dich nicht" zu dem Entzücken der weitesten
Kreise gemacht hat. In- seiner spätern Dichtung ist diese Rührseligkeit aller¬
dings echte Resignation, der Dichter überhaupt männlicher geworden, namentlich
auch durch die Berührung mit der Geschichte; doch kann ich selbst die Be¬
wunderung für den „Tod des Tiberius," in dem Geibel nach einem unsrer
jüngsten Lyriker „eine sonst nur dem Genie vorbehaltene Höhe" erreicht haben
soll, nicht teilen. Die Geschichte mit dem Szepter, das der kranke Tiberius
aus dem Fenster wirft und der germanische Legionssoldat, der Christus hat
sterben sehen, aufhebt — es soll den Übergang der Weltherrschaft von den
Römern zu den Germanen und den einstigen Sieg des Christentums sym-
bolisiren ist mir zu gemacht, ein bloßer Einfall, ein Blender, der an die
Concetti der alten akademischen Kunst erinnert. Über die Dramen Geibels
braucht man kein Wort zu verlieren. Dramatisches ist ja nicht darin. Stellt
sich aber das poetische Verdienst Geibels heute als nicht so bedeutend dar,
wie man im Hinblick auf die von dem Dichter so lange eingenommne Stellung
annehmen sollte, so ist doch die ihm bei Lebzeiten dargebrachte Verehrung und
Bewunderung Wohl verständlich. Geibel ist der letzte deutsche Dichter, der mit
Glück eine Art hohenpriesterlicher Würde zu bewahren wußte, seine Poesie ist
in jeder Beziehung rein und vornehm, und als Herold des nationalen Ge¬
dankens hat er, wie gesagt, nicht seinesgleichen. So war er zum Haupte einer
Schule wie berufen, so konnte er die weitesten Kreise eines nach klingender und


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[0284] Die Alten und die Jungen was es war, nämlich die ungeheuer angeschwollne Masse der Gebildeten. Mit welchen Mitteln aber die Münchner das einmütige Wohlgefallen der Gebildeten errangen, wird eine kurze Betrachtung der hervorragendsten Dichter lehren. Emanuel Geibel hat ein Vierteljahrhundert lang als der größte deutsche Dichter seiner Zeit gegolten und hatte auch als „Herold des nationalen Ge¬ dankens" eine hervorragende Stellung verdient. Heute ist nicht viel mehr von ihm die Rede, er gehörte eben zu den Dichtern, die vor allem die Sprecher ihrer Zeit sind und daher, sobald eine neue Zeit kommt, von andern abgelöst werden. Eine genaue Durchsicht von Geibels Werken wird ergeben, daß wenig oder nichts von ihm den höchsten Ansprüchen genügt, obwohl andrerseits nicht zu verkennen ist, daß der Dichter an der Ausbildung seines beschränkten Talents unaufhörlich gearbeitet und in der That eine größere Mannichfaltigkeit der Stoffe wie die vollständige Beherrschung der äußern Form erreicht hat. Die elementare Kraft wie das feine Gefühl für innere Form kann man sich aber nicht geben, und so finde ich bei Geibel kaum ein spezifisch lyrisches Gedicht, nicht einmal einen ganz eignen Ton, wohl aber, zumal in der ersten Sammlung, die Töne aller bedeutenden Vorgänger Geibels, ja selbst ihre Erfindungen, wie z. B. die Lotosblume Heines. Und Eklektiker ist der Dichter sein Leben lang geblieben. Als ihm ganz eigen erscheint nur jene rührselige Rhetorik, die Gedichte wie „O rühret, rühret nicht daran," „Wenn sich zwei Herzen scheiden," „Sie redeten ihr zu, er liebt dich nicht" zu dem Entzücken der weitesten Kreise gemacht hat. In- seiner spätern Dichtung ist diese Rührseligkeit aller¬ dings echte Resignation, der Dichter überhaupt männlicher geworden, namentlich auch durch die Berührung mit der Geschichte; doch kann ich selbst die Be¬ wunderung für den „Tod des Tiberius," in dem Geibel nach einem unsrer jüngsten Lyriker „eine sonst nur dem Genie vorbehaltene Höhe" erreicht haben soll, nicht teilen. Die Geschichte mit dem Szepter, das der kranke Tiberius aus dem Fenster wirft und der germanische Legionssoldat, der Christus hat sterben sehen, aufhebt — es soll den Übergang der Weltherrschaft von den Römern zu den Germanen und den einstigen Sieg des Christentums sym- bolisiren ist mir zu gemacht, ein bloßer Einfall, ein Blender, der an die Concetti der alten akademischen Kunst erinnert. Über die Dramen Geibels braucht man kein Wort zu verlieren. Dramatisches ist ja nicht darin. Stellt sich aber das poetische Verdienst Geibels heute als nicht so bedeutend dar, wie man im Hinblick auf die von dem Dichter so lange eingenommne Stellung annehmen sollte, so ist doch die ihm bei Lebzeiten dargebrachte Verehrung und Bewunderung Wohl verständlich. Geibel ist der letzte deutsche Dichter, der mit Glück eine Art hohenpriesterlicher Würde zu bewahren wußte, seine Poesie ist in jeder Beziehung rein und vornehm, und als Herold des nationalen Ge¬ dankens hat er, wie gesagt, nicht seinesgleichen. So war er zum Haupte einer Schule wie berufen, so konnte er die weitesten Kreise eines nach klingender und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/284>, abgerufen am 01.09.2024.