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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Mörike und Hebbel mit seinen paar Dutzend einzigen Gedichten. Aber das,
was ich "spezifische Lyrik" nenne, ist die Storms auch, und den Novellisten
Storm übertrifft für mich mir einer: Gottfried Keller.

Gottfried Keller ist für mich der größte der Sieben, ein Talent, das
dem Genie in seinen Wirkungen nahekommt. Seinen "Grünen Heinrich" nenne
ich den besten deutschen Roman nach Goethes "Werther" und nehme für ihn
allgemein-menschliche, zeitlose Bedeutung in Anspruch, und seiner Novellen-
scnnmlnng "Die Leute von Seldwyla" finde ich nichts an die Seite zu setzen,
höchstens, daß man aus Turgenjews Novellen einen gleichwertige!? Band zu¬
sammenstellen könnte. Der Deutsche und der Russe stehen einander überhaupt
nicht allzufern, auf beide könnte man wohl die von Turgenjew irgendwo gebrauchte
Bezeichnung eines "partiellen Goethe" anwenden. Gegen Storm gehalten, ist
Keller trotz seines Schweizerinn^ "man muß Gotthelf lesen, um dieses bei
Keller auf seine wahre Bedeutung zurückzuführen) fast Weltdichter, gegen Paul
Hesse, den dritten großen deutschen Novellisten, vor allem eine Natur. Ich
verhehle mir nicht, daß Kellers Entwicklung im Laufe der sechziger und
siebziger Jahre seinen Anfängen nicht entsprach, so wunderbar auch einzelne
seiner spätern Novellen sind, so sicher auch "Martin Salander" noch ein Welt¬
bild giebt; aber in der Gesamtheit seines Schaffens ist Keller doch eine ganz
einzige Erscheinung, und er allem wäre, wenn die in die Zukunft weihenden
Genies Hebbel und Ludwig nicht dawären, imstande, den Vorwurf des Epigonen¬
tums von der Litteratur der fünfziger und sechziger Jahre abzuwälzen. Be¬
zeichnend ist übrigens, daß er von den Sieben zwei Jahrzehnte hindurch die
geringsten Erfolge gehabt hat; erst in den achtziger Jahren begann er all¬
gemein bekannt zu werden -- als der Bankerott der eigentlichen Bourgeois-
Poesie nicht mehr zu verkennen war.

Der richtige Mann des Erfolgs ist dagegen Joseph Viktor Scheffel ge¬
wesen, wenn auch nicht gleich nach seinein Auftreten. Ich habe, das muß ich
aufrichtig gestehen, einiges Bedenken getragen, Scheffel nnter die Großen auf¬
zunehmen -- man hat sich eben zu oft über die "Scheffelei" geärgert. Aber
es wäre doch unrecht, den Dichter des "Ekkehard" und auch des "Trompeters"
von den großen Dichtern der Zeit auszuschließen, selbst wenn er den Ansprüchen
an eine bestimmte Ausschöpfung des Lebens nach seiner Breite und Tiefe weniger
als die andern sechs gerecht werden sollte. Die beiden genannten Werke sind
vollgiltige Kunstwerke und als solche unvergänglich, soweit man hier eben von
UnVergänglichkeit reden kann. Dabei darf uns die archciisirende Richtung
Scheffels nicht weiter stören; soweit sie in seinen Hauptwerken zu Tage tritt,
war sie unbedingt berechtigt, gehört zur Charakteristik der Zeit, in der Scheffel
lebte, und kann jederzeit so wieder kommen, ohne daß man deshalb der Dich¬
tung das unmittelbare Leben absprechen dürfte. Am nächsten von den sechs
Genoffen steht er im Grunde Freytag, er ist dessen süddeutsche Ergänzung,


Die Alten und die Jungen

Mörike und Hebbel mit seinen paar Dutzend einzigen Gedichten. Aber das,
was ich „spezifische Lyrik" nenne, ist die Storms auch, und den Novellisten
Storm übertrifft für mich mir einer: Gottfried Keller.

Gottfried Keller ist für mich der größte der Sieben, ein Talent, das
dem Genie in seinen Wirkungen nahekommt. Seinen „Grünen Heinrich" nenne
ich den besten deutschen Roman nach Goethes „Werther" und nehme für ihn
allgemein-menschliche, zeitlose Bedeutung in Anspruch, und seiner Novellen-
scnnmlnng „Die Leute von Seldwyla" finde ich nichts an die Seite zu setzen,
höchstens, daß man aus Turgenjews Novellen einen gleichwertige!? Band zu¬
sammenstellen könnte. Der Deutsche und der Russe stehen einander überhaupt
nicht allzufern, auf beide könnte man wohl die von Turgenjew irgendwo gebrauchte
Bezeichnung eines „partiellen Goethe" anwenden. Gegen Storm gehalten, ist
Keller trotz seines Schweizerinn^ «man muß Gotthelf lesen, um dieses bei
Keller auf seine wahre Bedeutung zurückzuführen) fast Weltdichter, gegen Paul
Hesse, den dritten großen deutschen Novellisten, vor allem eine Natur. Ich
verhehle mir nicht, daß Kellers Entwicklung im Laufe der sechziger und
siebziger Jahre seinen Anfängen nicht entsprach, so wunderbar auch einzelne
seiner spätern Novellen sind, so sicher auch „Martin Salander" noch ein Welt¬
bild giebt; aber in der Gesamtheit seines Schaffens ist Keller doch eine ganz
einzige Erscheinung, und er allem wäre, wenn die in die Zukunft weihenden
Genies Hebbel und Ludwig nicht dawären, imstande, den Vorwurf des Epigonen¬
tums von der Litteratur der fünfziger und sechziger Jahre abzuwälzen. Be¬
zeichnend ist übrigens, daß er von den Sieben zwei Jahrzehnte hindurch die
geringsten Erfolge gehabt hat; erst in den achtziger Jahren begann er all¬
gemein bekannt zu werden — als der Bankerott der eigentlichen Bourgeois-
Poesie nicht mehr zu verkennen war.

Der richtige Mann des Erfolgs ist dagegen Joseph Viktor Scheffel ge¬
wesen, wenn auch nicht gleich nach seinein Auftreten. Ich habe, das muß ich
aufrichtig gestehen, einiges Bedenken getragen, Scheffel nnter die Großen auf¬
zunehmen — man hat sich eben zu oft über die „Scheffelei" geärgert. Aber
es wäre doch unrecht, den Dichter des „Ekkehard" und auch des „Trompeters"
von den großen Dichtern der Zeit auszuschließen, selbst wenn er den Ansprüchen
an eine bestimmte Ausschöpfung des Lebens nach seiner Breite und Tiefe weniger
als die andern sechs gerecht werden sollte. Die beiden genannten Werke sind
vollgiltige Kunstwerke und als solche unvergänglich, soweit man hier eben von
UnVergänglichkeit reden kann. Dabei darf uns die archciisirende Richtung
Scheffels nicht weiter stören; soweit sie in seinen Hauptwerken zu Tage tritt,
war sie unbedingt berechtigt, gehört zur Charakteristik der Zeit, in der Scheffel
lebte, und kann jederzeit so wieder kommen, ohne daß man deshalb der Dich¬
tung das unmittelbare Leben absprechen dürfte. Am nächsten von den sechs
Genoffen steht er im Grunde Freytag, er ist dessen süddeutsche Ergänzung,


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[0279] Die Alten und die Jungen Mörike und Hebbel mit seinen paar Dutzend einzigen Gedichten. Aber das, was ich „spezifische Lyrik" nenne, ist die Storms auch, und den Novellisten Storm übertrifft für mich mir einer: Gottfried Keller. Gottfried Keller ist für mich der größte der Sieben, ein Talent, das dem Genie in seinen Wirkungen nahekommt. Seinen „Grünen Heinrich" nenne ich den besten deutschen Roman nach Goethes „Werther" und nehme für ihn allgemein-menschliche, zeitlose Bedeutung in Anspruch, und seiner Novellen- scnnmlnng „Die Leute von Seldwyla" finde ich nichts an die Seite zu setzen, höchstens, daß man aus Turgenjews Novellen einen gleichwertige!? Band zu¬ sammenstellen könnte. Der Deutsche und der Russe stehen einander überhaupt nicht allzufern, auf beide könnte man wohl die von Turgenjew irgendwo gebrauchte Bezeichnung eines „partiellen Goethe" anwenden. Gegen Storm gehalten, ist Keller trotz seines Schweizerinn^ «man muß Gotthelf lesen, um dieses bei Keller auf seine wahre Bedeutung zurückzuführen) fast Weltdichter, gegen Paul Hesse, den dritten großen deutschen Novellisten, vor allem eine Natur. Ich verhehle mir nicht, daß Kellers Entwicklung im Laufe der sechziger und siebziger Jahre seinen Anfängen nicht entsprach, so wunderbar auch einzelne seiner spätern Novellen sind, so sicher auch „Martin Salander" noch ein Welt¬ bild giebt; aber in der Gesamtheit seines Schaffens ist Keller doch eine ganz einzige Erscheinung, und er allem wäre, wenn die in die Zukunft weihenden Genies Hebbel und Ludwig nicht dawären, imstande, den Vorwurf des Epigonen¬ tums von der Litteratur der fünfziger und sechziger Jahre abzuwälzen. Be¬ zeichnend ist übrigens, daß er von den Sieben zwei Jahrzehnte hindurch die geringsten Erfolge gehabt hat; erst in den achtziger Jahren begann er all¬ gemein bekannt zu werden — als der Bankerott der eigentlichen Bourgeois- Poesie nicht mehr zu verkennen war. Der richtige Mann des Erfolgs ist dagegen Joseph Viktor Scheffel ge¬ wesen, wenn auch nicht gleich nach seinein Auftreten. Ich habe, das muß ich aufrichtig gestehen, einiges Bedenken getragen, Scheffel nnter die Großen auf¬ zunehmen — man hat sich eben zu oft über die „Scheffelei" geärgert. Aber es wäre doch unrecht, den Dichter des „Ekkehard" und auch des „Trompeters" von den großen Dichtern der Zeit auszuschließen, selbst wenn er den Ansprüchen an eine bestimmte Ausschöpfung des Lebens nach seiner Breite und Tiefe weniger als die andern sechs gerecht werden sollte. Die beiden genannten Werke sind vollgiltige Kunstwerke und als solche unvergänglich, soweit man hier eben von UnVergänglichkeit reden kann. Dabei darf uns die archciisirende Richtung Scheffels nicht weiter stören; soweit sie in seinen Hauptwerken zu Tage tritt, war sie unbedingt berechtigt, gehört zur Charakteristik der Zeit, in der Scheffel lebte, und kann jederzeit so wieder kommen, ohne daß man deshalb der Dich¬ tung das unmittelbare Leben absprechen dürfte. Am nächsten von den sechs Genoffen steht er im Grunde Freytag, er ist dessen süddeutsche Ergänzung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/279>, abgerufen am 01.09.2024.