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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)

le größten Dichter der Zeit von 1840 bis 1865, die einzigen
Genies der ganzen Periode sind ohne Zweifel Friedrich Hebbel
und Otto Ludwig. Ich habe ihnen im vorigen Jahre in den
Grenzboten eine größere Arbeit gewidmet und kann mich daher
hier auf weniges beschränken. Ihre Dichtung, ihr Drama ist
wirklich größten Stils, sodaß man es ohne Furcht mit dem Shakespeares
zusammen zu nennen wagt, ihr Gesamlschaffen, zumal das Hebbels, so reich
und vielseitig, daß man ihre Werke mit einigem Recht neben denen Goethes
und Schillers aufstellen kaun, und an Kunstverständnis übertreffen sie die
meisten deutschen Dichter, vielleicht nur Goethe ausgenommen. Bleiben sie
dennoch an Bedeutung und Wirkung hinter deu größten der Klassiker zurück,
so liegt das eben darau, daß sie Söhne einer sinkenden, nicht einer aufstrebenden
Zeit waren, und daß sie das, besonders Hebbel, auch nur zu gut wußten.
Nicht ein kranker Titan, wie man wohl gesagt hat, war der Wesselburener
Dichter, aber er verbrauchte einen große" Teil seiner gewaltigen Kraft, um
gesund zu bleiben, und seine Dichtung ward nicht leicht und frei, sondern
unter qualvollen Ringen geboren. Sie trügt den düstern Zug der Schmerzen,
stammt aber doch aus dem tiefsten Leben und reicht zum Höchsten empor.
Haben wir Deutschen eine Tragödie, so ist es nicht die Schillers, sondern die
Kleists, Hebbels und Ludwigs -- darüber sollte nun kein Zweifel mehr sein,
so sicher es andrerseits ist, daß nicht einmal alle drei zusammen die nationale
Bedeutung Schillers erreichen. Die liberale Bourgeoisie der fünfziger und
sechziger Jahre konnte freilich keine Tragödie brauchen, noch weniger die wüste
Gesellschaft, die in den siebziger Jahren den Ton angab, und so sind Hebbel
und Ludwig in der Hauptsache um ihre unmittelbare Wirkung gekommen und
leider selbst ohne größern Einfluß auf das ihnen nachfolgende Dichtergeschlecht
geblieben; erst jetzt ist ihre Zeit gekommen. Aber das Genie ist in seiner




Die Alten und die Jungen
Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart
Adolf Barrels von(Fortsetzung)

le größten Dichter der Zeit von 1840 bis 1865, die einzigen
Genies der ganzen Periode sind ohne Zweifel Friedrich Hebbel
und Otto Ludwig. Ich habe ihnen im vorigen Jahre in den
Grenzboten eine größere Arbeit gewidmet und kann mich daher
hier auf weniges beschränken. Ihre Dichtung, ihr Drama ist
wirklich größten Stils, sodaß man es ohne Furcht mit dem Shakespeares
zusammen zu nennen wagt, ihr Gesamlschaffen, zumal das Hebbels, so reich
und vielseitig, daß man ihre Werke mit einigem Recht neben denen Goethes
und Schillers aufstellen kaun, und an Kunstverständnis übertreffen sie die
meisten deutschen Dichter, vielleicht nur Goethe ausgenommen. Bleiben sie
dennoch an Bedeutung und Wirkung hinter deu größten der Klassiker zurück,
so liegt das eben darau, daß sie Söhne einer sinkenden, nicht einer aufstrebenden
Zeit waren, und daß sie das, besonders Hebbel, auch nur zu gut wußten.
Nicht ein kranker Titan, wie man wohl gesagt hat, war der Wesselburener
Dichter, aber er verbrauchte einen große« Teil seiner gewaltigen Kraft, um
gesund zu bleiben, und seine Dichtung ward nicht leicht und frei, sondern
unter qualvollen Ringen geboren. Sie trügt den düstern Zug der Schmerzen,
stammt aber doch aus dem tiefsten Leben und reicht zum Höchsten empor.
Haben wir Deutschen eine Tragödie, so ist es nicht die Schillers, sondern die
Kleists, Hebbels und Ludwigs — darüber sollte nun kein Zweifel mehr sein,
so sicher es andrerseits ist, daß nicht einmal alle drei zusammen die nationale
Bedeutung Schillers erreichen. Die liberale Bourgeoisie der fünfziger und
sechziger Jahre konnte freilich keine Tragödie brauchen, noch weniger die wüste
Gesellschaft, die in den siebziger Jahren den Ton angab, und so sind Hebbel
und Ludwig in der Hauptsache um ihre unmittelbare Wirkung gekommen und
leider selbst ohne größern Einfluß auf das ihnen nachfolgende Dichtergeschlecht
geblieben; erst jetzt ist ihre Zeit gekommen. Aber das Genie ist in seiner


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[0274] [Abbildung] Die Alten und die Jungen Lin Beitrag zur deutschen Litteraturgeschichte der Gegenwart Adolf Barrels von(Fortsetzung) le größten Dichter der Zeit von 1840 bis 1865, die einzigen Genies der ganzen Periode sind ohne Zweifel Friedrich Hebbel und Otto Ludwig. Ich habe ihnen im vorigen Jahre in den Grenzboten eine größere Arbeit gewidmet und kann mich daher hier auf weniges beschränken. Ihre Dichtung, ihr Drama ist wirklich größten Stils, sodaß man es ohne Furcht mit dem Shakespeares zusammen zu nennen wagt, ihr Gesamlschaffen, zumal das Hebbels, so reich und vielseitig, daß man ihre Werke mit einigem Recht neben denen Goethes und Schillers aufstellen kaun, und an Kunstverständnis übertreffen sie die meisten deutschen Dichter, vielleicht nur Goethe ausgenommen. Bleiben sie dennoch an Bedeutung und Wirkung hinter deu größten der Klassiker zurück, so liegt das eben darau, daß sie Söhne einer sinkenden, nicht einer aufstrebenden Zeit waren, und daß sie das, besonders Hebbel, auch nur zu gut wußten. Nicht ein kranker Titan, wie man wohl gesagt hat, war der Wesselburener Dichter, aber er verbrauchte einen große« Teil seiner gewaltigen Kraft, um gesund zu bleiben, und seine Dichtung ward nicht leicht und frei, sondern unter qualvollen Ringen geboren. Sie trügt den düstern Zug der Schmerzen, stammt aber doch aus dem tiefsten Leben und reicht zum Höchsten empor. Haben wir Deutschen eine Tragödie, so ist es nicht die Schillers, sondern die Kleists, Hebbels und Ludwigs — darüber sollte nun kein Zweifel mehr sein, so sicher es andrerseits ist, daß nicht einmal alle drei zusammen die nationale Bedeutung Schillers erreichen. Die liberale Bourgeoisie der fünfziger und sechziger Jahre konnte freilich keine Tragödie brauchen, noch weniger die wüste Gesellschaft, die in den siebziger Jahren den Ton angab, und so sind Hebbel und Ludwig in der Hauptsache um ihre unmittelbare Wirkung gekommen und leider selbst ohne größern Einfluß auf das ihnen nachfolgende Dichtergeschlecht geblieben; erst jetzt ist ihre Zeit gekommen. Aber das Genie ist in seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/274>, abgerufen am 26.11.2024.