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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterverstchernng

schaft in unsrer Arbeiterversicherung kann durch diese genossenschaftliche Verherr¬
lichung nicht mehr weggeleugnet und uoch weniger weggeschafft werden, am
allerwenigsten mit der unerhörten und doch oft gehörten Behauptung, daß
es eine Pflicht der Pietät gegen Kaiser Wilhelm I. sei, die Bernfsgenossen-
schciften nicht antasten zu lassen, weil in dem Wortlaut der kaiserlichen Botschaft
vom 17. November 1881 von der "Zusammenfassung des Volkslebens in der
Form konzentrirter Verbände" gesprochen ist. Uns erscheint diese Behauptung
eine arge Impietät gegenüber dem Andenken an diesen großen und doch so
bescheidnen Monarchen und Staatsmann zu sein, gegen die wir ebenso pro-
testiren müssen wie gegen die Einflüsse, die, wie es scheint, neuerdings gewissen
staatswissenschaftlicher Lehrmeinungen des Papstes in der Zunftsrage auf ge¬
wichtige Kreise der zur Gesetzgebung berufnen Vertreter des deutscheu Volkes
beigelegt werden sollen. Die genossenschaftliche Berufsorganisation und die
Selbstverwaltung sind in unsrer egoistischen Zeit mit großer Borsicht zu gebrauchen,
damit sie nicht dem Egoismus selbst dienstbar werden. Nur wo diese Gefahr
ausgeschlossen ist, darf man sie verwenden, dann allerdings als eine gute,
unersetzliche Sache. Das gilt auch für die Arbeiterversichcrnng.

Zum Schluß ist noch einem Einwand zu begegnen, der mit besondern! Erfolg
gegen das Verlangen nach einer baldigen durchgreifenden und zusammenfassenden
Reform der Arbeiterverstchernng erhoben zu werden pflegt. Die Gesetzgebungs¬
maschine hat in den letzten Jahrzehnten übereifrig gearbeitet, namentlich auf
wirtschaftlichem und sozialem Gebiete. Wir halten den Wunsch für sehr gerecht¬
fertigt, daß den vielen neugeschaffnem Einrichtungen Zeit gelassen werde, sich
einzuleben, daß dem Volke nicht durch immer neue gesetzgeberische Versuche das
Vertrauen und das Verständnis für die großen sozialen Reformen in unserm
Staatsleben unmöglich gemacht werde. Aber dieses Verlangen nach Ruhe
wird zur gedankenlosen Phrase, wo es sich darum handelt, drei ihrem Wesen
und Zweck nach zusammengehörige Einrichtungen, die nur aus äußerlichen
Ursachen getrennt aufgebaut worden sind, und deren getrennter weiterer
Ausbau die sach- und zweckgemäße Zusammenfassung von Jahr zu Jahr
mehr erschwert, endlich unter ein Dach zu bringen. Die Vereinfachung
und Verbilligung der Gesamtarbeiterversicherung, im Interesse namentlich einer
größern Leistung für die Versicherten bei gleichem Aufwand von National¬
vermögen, das ist keine Reform, mit der man warten darf, bis immer weitere
Millionen unnütz ausgegeben sind und das Vertrauen zu der segensreichen sozialen
Wirkung des großen Werks immer weiter erschüttert ist. Thatsächlich wird
man denn auch im Neichscimt des Innern durch die Rücksicht auf die in der
soziale" Gesetzgebung erwünschte Ruhe wohl am wenigsten gehindert, mit
der Zusammenfassung der Arbeiterversicherung Ernst zu machen. Es ist
nur die Rücksicht auf die Berufsgenossenschaften und ihre Verfechter, die


Grenzboten III 1896 32
Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterverstchernng

schaft in unsrer Arbeiterversicherung kann durch diese genossenschaftliche Verherr¬
lichung nicht mehr weggeleugnet und uoch weniger weggeschafft werden, am
allerwenigsten mit der unerhörten und doch oft gehörten Behauptung, daß
es eine Pflicht der Pietät gegen Kaiser Wilhelm I. sei, die Bernfsgenossen-
schciften nicht antasten zu lassen, weil in dem Wortlaut der kaiserlichen Botschaft
vom 17. November 1881 von der „Zusammenfassung des Volkslebens in der
Form konzentrirter Verbände" gesprochen ist. Uns erscheint diese Behauptung
eine arge Impietät gegenüber dem Andenken an diesen großen und doch so
bescheidnen Monarchen und Staatsmann zu sein, gegen die wir ebenso pro-
testiren müssen wie gegen die Einflüsse, die, wie es scheint, neuerdings gewissen
staatswissenschaftlicher Lehrmeinungen des Papstes in der Zunftsrage auf ge¬
wichtige Kreise der zur Gesetzgebung berufnen Vertreter des deutscheu Volkes
beigelegt werden sollen. Die genossenschaftliche Berufsorganisation und die
Selbstverwaltung sind in unsrer egoistischen Zeit mit großer Borsicht zu gebrauchen,
damit sie nicht dem Egoismus selbst dienstbar werden. Nur wo diese Gefahr
ausgeschlossen ist, darf man sie verwenden, dann allerdings als eine gute,
unersetzliche Sache. Das gilt auch für die Arbeiterversichcrnng.

Zum Schluß ist noch einem Einwand zu begegnen, der mit besondern! Erfolg
gegen das Verlangen nach einer baldigen durchgreifenden und zusammenfassenden
Reform der Arbeiterverstchernng erhoben zu werden pflegt. Die Gesetzgebungs¬
maschine hat in den letzten Jahrzehnten übereifrig gearbeitet, namentlich auf
wirtschaftlichem und sozialem Gebiete. Wir halten den Wunsch für sehr gerecht¬
fertigt, daß den vielen neugeschaffnem Einrichtungen Zeit gelassen werde, sich
einzuleben, daß dem Volke nicht durch immer neue gesetzgeberische Versuche das
Vertrauen und das Verständnis für die großen sozialen Reformen in unserm
Staatsleben unmöglich gemacht werde. Aber dieses Verlangen nach Ruhe
wird zur gedankenlosen Phrase, wo es sich darum handelt, drei ihrem Wesen
und Zweck nach zusammengehörige Einrichtungen, die nur aus äußerlichen
Ursachen getrennt aufgebaut worden sind, und deren getrennter weiterer
Ausbau die sach- und zweckgemäße Zusammenfassung von Jahr zu Jahr
mehr erschwert, endlich unter ein Dach zu bringen. Die Vereinfachung
und Verbilligung der Gesamtarbeiterversicherung, im Interesse namentlich einer
größern Leistung für die Versicherten bei gleichem Aufwand von National¬
vermögen, das ist keine Reform, mit der man warten darf, bis immer weitere
Millionen unnütz ausgegeben sind und das Vertrauen zu der segensreichen sozialen
Wirkung des großen Werks immer weiter erschüttert ist. Thatsächlich wird
man denn auch im Neichscimt des Innern durch die Rücksicht auf die in der
soziale» Gesetzgebung erwünschte Ruhe wohl am wenigsten gehindert, mit
der Zusammenfassung der Arbeiterversicherung Ernst zu machen. Es ist
nur die Rücksicht auf die Berufsgenossenschaften und ihre Verfechter, die


Grenzboten III 1896 32
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[0257] Die schlechte Wirtschaft in der Arbeiterverstchernng schaft in unsrer Arbeiterversicherung kann durch diese genossenschaftliche Verherr¬ lichung nicht mehr weggeleugnet und uoch weniger weggeschafft werden, am allerwenigsten mit der unerhörten und doch oft gehörten Behauptung, daß es eine Pflicht der Pietät gegen Kaiser Wilhelm I. sei, die Bernfsgenossen- schciften nicht antasten zu lassen, weil in dem Wortlaut der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 von der „Zusammenfassung des Volkslebens in der Form konzentrirter Verbände" gesprochen ist. Uns erscheint diese Behauptung eine arge Impietät gegenüber dem Andenken an diesen großen und doch so bescheidnen Monarchen und Staatsmann zu sein, gegen die wir ebenso pro- testiren müssen wie gegen die Einflüsse, die, wie es scheint, neuerdings gewissen staatswissenschaftlicher Lehrmeinungen des Papstes in der Zunftsrage auf ge¬ wichtige Kreise der zur Gesetzgebung berufnen Vertreter des deutscheu Volkes beigelegt werden sollen. Die genossenschaftliche Berufsorganisation und die Selbstverwaltung sind in unsrer egoistischen Zeit mit großer Borsicht zu gebrauchen, damit sie nicht dem Egoismus selbst dienstbar werden. Nur wo diese Gefahr ausgeschlossen ist, darf man sie verwenden, dann allerdings als eine gute, unersetzliche Sache. Das gilt auch für die Arbeiterversichcrnng. Zum Schluß ist noch einem Einwand zu begegnen, der mit besondern! Erfolg gegen das Verlangen nach einer baldigen durchgreifenden und zusammenfassenden Reform der Arbeiterverstchernng erhoben zu werden pflegt. Die Gesetzgebungs¬ maschine hat in den letzten Jahrzehnten übereifrig gearbeitet, namentlich auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete. Wir halten den Wunsch für sehr gerecht¬ fertigt, daß den vielen neugeschaffnem Einrichtungen Zeit gelassen werde, sich einzuleben, daß dem Volke nicht durch immer neue gesetzgeberische Versuche das Vertrauen und das Verständnis für die großen sozialen Reformen in unserm Staatsleben unmöglich gemacht werde. Aber dieses Verlangen nach Ruhe wird zur gedankenlosen Phrase, wo es sich darum handelt, drei ihrem Wesen und Zweck nach zusammengehörige Einrichtungen, die nur aus äußerlichen Ursachen getrennt aufgebaut worden sind, und deren getrennter weiterer Ausbau die sach- und zweckgemäße Zusammenfassung von Jahr zu Jahr mehr erschwert, endlich unter ein Dach zu bringen. Die Vereinfachung und Verbilligung der Gesamtarbeiterversicherung, im Interesse namentlich einer größern Leistung für die Versicherten bei gleichem Aufwand von National¬ vermögen, das ist keine Reform, mit der man warten darf, bis immer weitere Millionen unnütz ausgegeben sind und das Vertrauen zu der segensreichen sozialen Wirkung des großen Werks immer weiter erschüttert ist. Thatsächlich wird man denn auch im Neichscimt des Innern durch die Rücksicht auf die in der soziale» Gesetzgebung erwünschte Ruhe wohl am wenigsten gehindert, mit der Zusammenfassung der Arbeiterversicherung Ernst zu machen. Es ist nur die Rücksicht auf die Berufsgenossenschaften und ihre Verfechter, die Grenzboten III 1896 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/257>, abgerufen am 01.09.2024.