Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Alten und die Jungen

den Genannten, deren Zahl natürlich noch bedeutend zu vermehren wäre, kann
man die Unsterblichkeit versprechen, aber alle zusammen ergeben doch das
glänzende Bild einer litterarischen Kulturperiode, wie sie Deutschland vorher
nie gehabt hat. Fehlen auch alles überragende Größen wie Goethe und
Schiller, so sind doch einige "partielle" Genies und ungewöhnlich viel große
Talente vorhanden, und es giebt kein Gebiet der Dichtung, das nicht hervor¬
ragende Vertreter aufwiese. Selbst die niedre, die Unterhaltungslitteratur war
in diesen Tagen besser als jemals in Deutschland vertreten.

So leuchtet ohne weiteres ein, daß die Auffassung der fünfziger Jahre
als Neaktiousperiode, in der alle Dichtung schwächlich, mark- und mutlos ge¬
wesen sei, nicht haltbar ist. Man kann, wenn man will, eine große Anzahl
von Werken mit "Amaranth" und "Was sich der Wald erzählt" an der Spitze
zusammenstellen, die, besonders wenn man die Titel der vor 1848 erschienenen
Politischen Gedichtsammlungen dagegen hält, einen merkwürdig zahmen Charakter
der ganzen Periode zu beweisen scheinen, und man hat das wirklich gethan;
aber das ist Spiegelfechterei, die Redwitzsche katholisirende Spätromantik und
die ihr im protestantischen Norddeutschland entsprechende Wald- und Blumen-
Poesie waren im Nu überwunden, waren überhaupt nur eine Mode, keine
litterarische Richtung. Will man mit einem Schlagwort die ganze Litteratur
der Zeit kennzeichnen, so muß man nicht das politische Schlagwort "Reaktion"
wählen, sondern das ästhetische "Rückkehr zur Kunst," das, wenn ich nicht irre,
Adolf Stern zuerst angewandt hat. Man muß auch nicht die neue Zeit mit
dem Jahre 1848 oder 1850 begiunen, sondern die Anfänge der ihr entsprechenden
Kunst in die vierziger Jahre zurückverfolgen, und da hat man dann als die
Hauptvertreter einer Dichtung, die der Tendenzpoesie, dem jungen Deutschland
wie der politischen Lyrik gegenübertreten, einerseits Hebbel und die aufkommenden
Realisten, wie Jeremias Gotthelf, Meinhold, Willibald Alexis, auch Stifter
und Auerbach (wenn man nicht gar bis zu Immermanns "Oberhof" zurück¬
gehen will), andrerseits Geibel und die nach und nach hervortretenden Nen-
romcmtiker und klassizistischen Eklektiker. Einige Jahreszahlen mögen das be¬
legen: 1840 erschienen Geibels "Gedichte" und Alexis "Roland von Berlin,"
1841 Hebbels "Judith" und Gotthelfs "Mi der Knecht," 1843 Meinholds
"Vernsteinhexe," Auerbachs erste Dorfgeschichten und Kinkels "Gedichte," 1844
Hebbels "Maria Magdalena" und Stifters erste "Studien," 1846 Kinkels
"Otto der Schütz." In diesen Werken sind die Richtungen der deutschen
Poesie von 1850 an durchaus vorgebildet. Es ist aber noch eine dritte Richtung
zu erwähnen: die aus dem jungen Deutschland hervorwachsende, an deren
Spitze Gutzkow mit seinen großen Zeitromanen steht, und der Dichter wie
Bauernfeld, seiner Art nach, und Gustav Freytag in seinen Anfängen ("Die
Valentine," 1847) angehören. Auch diese Richtung kehrt zur Kunst zurück,
wenn auch die Mehrzahl der zu ihr zu zählenden jüngern Dichter, Hartmann,


Grenzboten III 189S 29
Die Alten und die Jungen

den Genannten, deren Zahl natürlich noch bedeutend zu vermehren wäre, kann
man die Unsterblichkeit versprechen, aber alle zusammen ergeben doch das
glänzende Bild einer litterarischen Kulturperiode, wie sie Deutschland vorher
nie gehabt hat. Fehlen auch alles überragende Größen wie Goethe und
Schiller, so sind doch einige „partielle" Genies und ungewöhnlich viel große
Talente vorhanden, und es giebt kein Gebiet der Dichtung, das nicht hervor¬
ragende Vertreter aufwiese. Selbst die niedre, die Unterhaltungslitteratur war
in diesen Tagen besser als jemals in Deutschland vertreten.

So leuchtet ohne weiteres ein, daß die Auffassung der fünfziger Jahre
als Neaktiousperiode, in der alle Dichtung schwächlich, mark- und mutlos ge¬
wesen sei, nicht haltbar ist. Man kann, wenn man will, eine große Anzahl
von Werken mit „Amaranth" und „Was sich der Wald erzählt" an der Spitze
zusammenstellen, die, besonders wenn man die Titel der vor 1848 erschienenen
Politischen Gedichtsammlungen dagegen hält, einen merkwürdig zahmen Charakter
der ganzen Periode zu beweisen scheinen, und man hat das wirklich gethan;
aber das ist Spiegelfechterei, die Redwitzsche katholisirende Spätromantik und
die ihr im protestantischen Norddeutschland entsprechende Wald- und Blumen-
Poesie waren im Nu überwunden, waren überhaupt nur eine Mode, keine
litterarische Richtung. Will man mit einem Schlagwort die ganze Litteratur
der Zeit kennzeichnen, so muß man nicht das politische Schlagwort „Reaktion"
wählen, sondern das ästhetische „Rückkehr zur Kunst," das, wenn ich nicht irre,
Adolf Stern zuerst angewandt hat. Man muß auch nicht die neue Zeit mit
dem Jahre 1848 oder 1850 begiunen, sondern die Anfänge der ihr entsprechenden
Kunst in die vierziger Jahre zurückverfolgen, und da hat man dann als die
Hauptvertreter einer Dichtung, die der Tendenzpoesie, dem jungen Deutschland
wie der politischen Lyrik gegenübertreten, einerseits Hebbel und die aufkommenden
Realisten, wie Jeremias Gotthelf, Meinhold, Willibald Alexis, auch Stifter
und Auerbach (wenn man nicht gar bis zu Immermanns „Oberhof" zurück¬
gehen will), andrerseits Geibel und die nach und nach hervortretenden Nen-
romcmtiker und klassizistischen Eklektiker. Einige Jahreszahlen mögen das be¬
legen: 1840 erschienen Geibels „Gedichte" und Alexis „Roland von Berlin,"
1841 Hebbels „Judith" und Gotthelfs „Mi der Knecht," 1843 Meinholds
„Vernsteinhexe," Auerbachs erste Dorfgeschichten und Kinkels „Gedichte," 1844
Hebbels „Maria Magdalena" und Stifters erste „Studien," 1846 Kinkels
„Otto der Schütz." In diesen Werken sind die Richtungen der deutschen
Poesie von 1850 an durchaus vorgebildet. Es ist aber noch eine dritte Richtung
zu erwähnen: die aus dem jungen Deutschland hervorwachsende, an deren
Spitze Gutzkow mit seinen großen Zeitromanen steht, und der Dichter wie
Bauernfeld, seiner Art nach, und Gustav Freytag in seinen Anfängen („Die
Valentine," 1847) angehören. Auch diese Richtung kehrt zur Kunst zurück,
wenn auch die Mehrzahl der zu ihr zu zählenden jüngern Dichter, Hartmann,


Grenzboten III 189S 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223175"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_685" prev="#ID_684"> den Genannten, deren Zahl natürlich noch bedeutend zu vermehren wäre, kann<lb/>
man die Unsterblichkeit versprechen, aber alle zusammen ergeben doch das<lb/>
glänzende Bild einer litterarischen Kulturperiode, wie sie Deutschland vorher<lb/>
nie gehabt hat. Fehlen auch alles überragende Größen wie Goethe und<lb/>
Schiller, so sind doch einige &#x201E;partielle" Genies und ungewöhnlich viel große<lb/>
Talente vorhanden, und es giebt kein Gebiet der Dichtung, das nicht hervor¬<lb/>
ragende Vertreter aufwiese. Selbst die niedre, die Unterhaltungslitteratur war<lb/>
in diesen Tagen besser als jemals in Deutschland vertreten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_686" next="#ID_687"> So leuchtet ohne weiteres ein, daß die Auffassung der fünfziger Jahre<lb/>
als Neaktiousperiode, in der alle Dichtung schwächlich, mark- und mutlos ge¬<lb/>
wesen sei, nicht haltbar ist. Man kann, wenn man will, eine große Anzahl<lb/>
von Werken mit &#x201E;Amaranth" und &#x201E;Was sich der Wald erzählt" an der Spitze<lb/>
zusammenstellen, die, besonders wenn man die Titel der vor 1848 erschienenen<lb/>
Politischen Gedichtsammlungen dagegen hält, einen merkwürdig zahmen Charakter<lb/>
der ganzen Periode zu beweisen scheinen, und man hat das wirklich gethan;<lb/>
aber das ist Spiegelfechterei, die Redwitzsche katholisirende Spätromantik und<lb/>
die ihr im protestantischen Norddeutschland entsprechende Wald- und Blumen-<lb/>
Poesie waren im Nu überwunden, waren überhaupt nur eine Mode, keine<lb/>
litterarische Richtung. Will man mit einem Schlagwort die ganze Litteratur<lb/>
der Zeit kennzeichnen, so muß man nicht das politische Schlagwort &#x201E;Reaktion"<lb/>
wählen, sondern das ästhetische &#x201E;Rückkehr zur Kunst," das, wenn ich nicht irre,<lb/>
Adolf Stern zuerst angewandt hat. Man muß auch nicht die neue Zeit mit<lb/>
dem Jahre 1848 oder 1850 begiunen, sondern die Anfänge der ihr entsprechenden<lb/>
Kunst in die vierziger Jahre zurückverfolgen, und da hat man dann als die<lb/>
Hauptvertreter einer Dichtung, die der Tendenzpoesie, dem jungen Deutschland<lb/>
wie der politischen Lyrik gegenübertreten, einerseits Hebbel und die aufkommenden<lb/>
Realisten, wie Jeremias Gotthelf, Meinhold, Willibald Alexis, auch Stifter<lb/>
und Auerbach (wenn man nicht gar bis zu Immermanns &#x201E;Oberhof" zurück¬<lb/>
gehen will), andrerseits Geibel und die nach und nach hervortretenden Nen-<lb/>
romcmtiker und klassizistischen Eklektiker. Einige Jahreszahlen mögen das be¬<lb/>
legen: 1840 erschienen Geibels &#x201E;Gedichte" und Alexis &#x201E;Roland von Berlin,"<lb/>
1841 Hebbels &#x201E;Judith" und Gotthelfs &#x201E;Mi der Knecht," 1843 Meinholds<lb/>
&#x201E;Vernsteinhexe," Auerbachs erste Dorfgeschichten und Kinkels &#x201E;Gedichte," 1844<lb/>
Hebbels &#x201E;Maria Magdalena" und Stifters erste &#x201E;Studien," 1846 Kinkels<lb/>
&#x201E;Otto der Schütz." In diesen Werken sind die Richtungen der deutschen<lb/>
Poesie von 1850 an durchaus vorgebildet. Es ist aber noch eine dritte Richtung<lb/>
zu erwähnen: die aus dem jungen Deutschland hervorwachsende, an deren<lb/>
Spitze Gutzkow mit seinen großen Zeitromanen steht, und der Dichter wie<lb/>
Bauernfeld, seiner Art nach, und Gustav Freytag in seinen Anfängen (&#x201E;Die<lb/>
Valentine," 1847) angehören. Auch diese Richtung kehrt zur Kunst zurück,<lb/>
wenn auch die Mehrzahl der zu ihr zu zählenden jüngern Dichter, Hartmann,</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 189S 29</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0233] Die Alten und die Jungen den Genannten, deren Zahl natürlich noch bedeutend zu vermehren wäre, kann man die Unsterblichkeit versprechen, aber alle zusammen ergeben doch das glänzende Bild einer litterarischen Kulturperiode, wie sie Deutschland vorher nie gehabt hat. Fehlen auch alles überragende Größen wie Goethe und Schiller, so sind doch einige „partielle" Genies und ungewöhnlich viel große Talente vorhanden, und es giebt kein Gebiet der Dichtung, das nicht hervor¬ ragende Vertreter aufwiese. Selbst die niedre, die Unterhaltungslitteratur war in diesen Tagen besser als jemals in Deutschland vertreten. So leuchtet ohne weiteres ein, daß die Auffassung der fünfziger Jahre als Neaktiousperiode, in der alle Dichtung schwächlich, mark- und mutlos ge¬ wesen sei, nicht haltbar ist. Man kann, wenn man will, eine große Anzahl von Werken mit „Amaranth" und „Was sich der Wald erzählt" an der Spitze zusammenstellen, die, besonders wenn man die Titel der vor 1848 erschienenen Politischen Gedichtsammlungen dagegen hält, einen merkwürdig zahmen Charakter der ganzen Periode zu beweisen scheinen, und man hat das wirklich gethan; aber das ist Spiegelfechterei, die Redwitzsche katholisirende Spätromantik und die ihr im protestantischen Norddeutschland entsprechende Wald- und Blumen- Poesie waren im Nu überwunden, waren überhaupt nur eine Mode, keine litterarische Richtung. Will man mit einem Schlagwort die ganze Litteratur der Zeit kennzeichnen, so muß man nicht das politische Schlagwort „Reaktion" wählen, sondern das ästhetische „Rückkehr zur Kunst," das, wenn ich nicht irre, Adolf Stern zuerst angewandt hat. Man muß auch nicht die neue Zeit mit dem Jahre 1848 oder 1850 begiunen, sondern die Anfänge der ihr entsprechenden Kunst in die vierziger Jahre zurückverfolgen, und da hat man dann als die Hauptvertreter einer Dichtung, die der Tendenzpoesie, dem jungen Deutschland wie der politischen Lyrik gegenübertreten, einerseits Hebbel und die aufkommenden Realisten, wie Jeremias Gotthelf, Meinhold, Willibald Alexis, auch Stifter und Auerbach (wenn man nicht gar bis zu Immermanns „Oberhof" zurück¬ gehen will), andrerseits Geibel und die nach und nach hervortretenden Nen- romcmtiker und klassizistischen Eklektiker. Einige Jahreszahlen mögen das be¬ legen: 1840 erschienen Geibels „Gedichte" und Alexis „Roland von Berlin," 1841 Hebbels „Judith" und Gotthelfs „Mi der Knecht," 1843 Meinholds „Vernsteinhexe," Auerbachs erste Dorfgeschichten und Kinkels „Gedichte," 1844 Hebbels „Maria Magdalena" und Stifters erste „Studien," 1846 Kinkels „Otto der Schütz." In diesen Werken sind die Richtungen der deutschen Poesie von 1850 an durchaus vorgebildet. Es ist aber noch eine dritte Richtung zu erwähnen: die aus dem jungen Deutschland hervorwachsende, an deren Spitze Gutzkow mit seinen großen Zeitromanen steht, und der Dichter wie Bauernfeld, seiner Art nach, und Gustav Freytag in seinen Anfängen („Die Valentine," 1847) angehören. Auch diese Richtung kehrt zur Kunst zurück, wenn auch die Mehrzahl der zu ihr zu zählenden jüngern Dichter, Hartmann, Grenzboten III 189S 29

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/233
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/233>, abgerufen am 01.09.2024.