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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Lage, ihr sein ganzes Leben widmen zu können, wer ohne den Ehrgeiz, seine
Gaben anders, äußerlich ersprießlicher zu verwenden? Man müßte in der That
ganz in der Litteratur seiner Zeit leben, wenn man ein Werk schreiben wollte,
das ihr getreues Spiegelbild sein sollte. Durch die Fülle der Erscheinungen
erdrückt zu werden, brauchte man zwar uicht zu fürchten, wesentliches und
unwesentliches zu unterscheiden füllt bei einiger Übung nicht schwer, und wenn
man uicht allzu schnell nach Ergebnissen drängt, kommen sie nach und uach
von selber; aber freilich, Dank würde man von niemand haben, und auf äußern
Erfolg müßte man verzichten, die Dichter und Schriftsteller würden der Mehr¬
zahl uach grollen und hassen, und die zünftigen Litteraturgeschichtschreiber von
ihrem "Kollegen" wenig wissen wollen. So giebts gewiß in Deutschland deu
einen und den andern, der eine wirkliche, unabhängige Geschichte der Gegen¬
wart schreiben könnte, aber er läßt es bleiben.")

Was ich in nachfolgendem gebe, ist nur ein Versuch zur Orientirung
über die neuere und neueste deutsche Dichtung, weiter nichts. Ich habe nie
die Muße gefunden, die moderne Litteratur so gründlich zu studiren, wie es
ihr Geschichtschreiber müßte; nur einige neue Gesichtspunkte der Gruppirung,
einer natürlichen Gruppirung glaube ich entdeckt zu haben, die weitern Kreisen,
die sich ein Herz für die Litteratur bewahrt haben, aber durch das scheinbare
Chaos abgestoßen werden, vielleicht bequem sind und dem wirklichen Geschicht¬
schreiber die Arbeit erleichtern.


2

Die deutschen Litteraturgeschichtschreiber lieben es, wenigstens bei der Litte¬
raturgeschichte unsers Jahrhunderts, die politisch epochemachenden Jahre auch
zu litteraturgeschichtlichen Abschnitten zu verwenden. So sehen wir die politisch
wichtigen Jahre 1830, 1848. 1870 und 1890, dies als das Jahr des Rück¬
tritts Vismarcks, auch als die Anfänge neuer litteraturgeschichtlicher Perioden
hingestellt. Nun Hunger politisches und litterarisches Leben ja gewiß zusammen,
wie alle Gebiete menschlicher Bethätigung, aber die alte Annahme, daß eine
Zeit politischen Aufschwungs auch stets eine des litterarischen, eine Zeit des
politischen Verfalls auch eine des litterarischen sei, ist doch nicht zu halten,
wie es die Geschichte unsrer klassischen Dichtung und die der Blütezeiten der
italienischen und spanischen Dichtung hinreichend klar darthun. Noch viel
weniger kann man eine Bedeutung einzelner großer politischer Ereignisse für



Nach Vollendung dieses Aufsatzes ist mir die "Geschichte der deutsche" Litteratur in
der Gegenwart" von Eugen Wolfs (Leipzig, S, Hirzel, 18!)6) zugegangen. Daß sie uicht die
Geschichte der Litteratur der Gegenwart ist, beweist schon die unglückliche Einteilung des Stoffs
nach den Gattungen der Poesie in "Drama und Theater," "Epos, Roman und Novelle,"
"Lyrik und Didaktik" und "Kritik," die eine zusammenhangende geschichtliche Darstellung von
vornherein unmöglich macht und zu einer "pnpiernen" Auffassung aller Erscheinungen führt.
Die Alten und die Jungen

Lage, ihr sein ganzes Leben widmen zu können, wer ohne den Ehrgeiz, seine
Gaben anders, äußerlich ersprießlicher zu verwenden? Man müßte in der That
ganz in der Litteratur seiner Zeit leben, wenn man ein Werk schreiben wollte,
das ihr getreues Spiegelbild sein sollte. Durch die Fülle der Erscheinungen
erdrückt zu werden, brauchte man zwar uicht zu fürchten, wesentliches und
unwesentliches zu unterscheiden füllt bei einiger Übung nicht schwer, und wenn
man uicht allzu schnell nach Ergebnissen drängt, kommen sie nach und uach
von selber; aber freilich, Dank würde man von niemand haben, und auf äußern
Erfolg müßte man verzichten, die Dichter und Schriftsteller würden der Mehr¬
zahl uach grollen und hassen, und die zünftigen Litteraturgeschichtschreiber von
ihrem „Kollegen" wenig wissen wollen. So giebts gewiß in Deutschland deu
einen und den andern, der eine wirkliche, unabhängige Geschichte der Gegen¬
wart schreiben könnte, aber er läßt es bleiben.")

Was ich in nachfolgendem gebe, ist nur ein Versuch zur Orientirung
über die neuere und neueste deutsche Dichtung, weiter nichts. Ich habe nie
die Muße gefunden, die moderne Litteratur so gründlich zu studiren, wie es
ihr Geschichtschreiber müßte; nur einige neue Gesichtspunkte der Gruppirung,
einer natürlichen Gruppirung glaube ich entdeckt zu haben, die weitern Kreisen,
die sich ein Herz für die Litteratur bewahrt haben, aber durch das scheinbare
Chaos abgestoßen werden, vielleicht bequem sind und dem wirklichen Geschicht¬
schreiber die Arbeit erleichtern.


2

Die deutschen Litteraturgeschichtschreiber lieben es, wenigstens bei der Litte¬
raturgeschichte unsers Jahrhunderts, die politisch epochemachenden Jahre auch
zu litteraturgeschichtlichen Abschnitten zu verwenden. So sehen wir die politisch
wichtigen Jahre 1830, 1848. 1870 und 1890, dies als das Jahr des Rück¬
tritts Vismarcks, auch als die Anfänge neuer litteraturgeschichtlicher Perioden
hingestellt. Nun Hunger politisches und litterarisches Leben ja gewiß zusammen,
wie alle Gebiete menschlicher Bethätigung, aber die alte Annahme, daß eine
Zeit politischen Aufschwungs auch stets eine des litterarischen, eine Zeit des
politischen Verfalls auch eine des litterarischen sei, ist doch nicht zu halten,
wie es die Geschichte unsrer klassischen Dichtung und die der Blütezeiten der
italienischen und spanischen Dichtung hinreichend klar darthun. Noch viel
weniger kann man eine Bedeutung einzelner großer politischer Ereignisse für



Nach Vollendung dieses Aufsatzes ist mir die „Geschichte der deutsche» Litteratur in
der Gegenwart" von Eugen Wolfs (Leipzig, S, Hirzel, 18!)6) zugegangen. Daß sie uicht die
Geschichte der Litteratur der Gegenwart ist, beweist schon die unglückliche Einteilung des Stoffs
nach den Gattungen der Poesie in „Drama und Theater," „Epos, Roman und Novelle,"
„Lyrik und Didaktik" und „Kritik," die eine zusammenhangende geschichtliche Darstellung von
vornherein unmöglich macht und zu einer „pnpiernen" Auffassung aller Erscheinungen führt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/230>, abgerufen am 24.11.2024.