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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Material, das die Zeit nach und nach zusammentr
sind nicht wissenschaftlich, wird m

.
ie an sagen; vielleicht nicht, aber sie nehmen
ehr oft das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung voraus, und mit der
eit werden sie ja auch geschichtliches Material.
Im übrigen glaube ich, daß wir nach und nach eine Reihe von Gesetzen
es geistigen Lebens entdecken werden, die dem Litteraturgeschichtschreiber der
egenwart sein Werk bedeutend erleichtern. Schon früher einmal habe ich an
ieser Stelle auf die Gesetzmäßigkeit aufmerksam gemacht, mit der z. B. in
nsrer deutschen Litteratur jedes Menschenalter eine Art Sturm und Drang
iederkehrt, und ich hatte später das Vergnügen, meine Ausführung?" über
iesen Punkt fast wörtlich in dem Vortrage eines nicht unbekannten Litteratur¬
istorikers wiederzufinden. (Vielleicht hat aber jemand vor mir die Entdeckung
gemacht, obgleich die Auffassung der Münchner als Stürmer und Dränger
icht so nahe liegt.) Ich bin überzeugt, daß man noch zu ganz andern,
geradezu auffallenden Ergebnissen gelangen würde, wenn man vor allem die
Zahlen der Litteraturgeschichte einmal gründlich durcharbeitete. So ist es z. B.
wohl kaum ganz zufällig, daß das Jahr 1813 Hebbel, Ludwig und Wagner,
das Jahr 1815 Geibel, Kinkel, Schack und Gerok, das Jahr 1819 Keller,
Groth, Fontane, Jordan und Bodenstedt, das Jahr 1830 Heyse und Hamer-¬

ing hervorbrachte. Ohne in Zahlenmystik zu verfallen, würde ein tiefer
lickender Literarhistoriker in dem einfachen Neben- und Nacheinander der
ichter wie auch in dem Erscheinen ihrer Werke Gesetze des geistigen Lebens
inden, die den Materialismus Buckles, der ja auch seine Berechtigung hat,
glücklich nach der idealistischen Seite ergänzten. Ebenso würde eine genaue
Vergleichung der einzelnen Nationallitteraturen und ihrer verschiednen Perioden
ehr fruchtbar fein. Auf alle Fälle wären für die Litteratur der Gegenwart
eine größere Übersichtlichkeit und tieferes Verständnis zu gewinnen. Die Haupt¬
sache bleibt freilich immer, daß der Litteraturgeschichtschreiber den "Blick" sür
die Eigenart der Erscheinungen hat; auch auf dem Gebiete der Litteratur giebt
s Typen, vielleicht nicht einmal sehr zahlreiche, die immer wiederkehren und
elten bloß durch eine Persönlichkeit vertreten sind; hat man eine klare An¬
chauung von ihnen, dann ordnen sich die Einzelnen von selbst zu Gruppen,
nd es entsteht, ohne daß man die beliebten äußerlichen Klassifizirungen vor¬
zunehmen braucht, ein übersichtliches Bild der Gesamtlitteratur, in das man
alle neu auftauchenden Erscheinungen, die äußerst seltnen IioininW sui xorigris,
für die überhaupt immer ein besondrer Platz dasein muß, ausgenommen,
zwanglos einfügen kann. Aber jener "Blick" ist eben auch nicht allzu häufig,
noch seltner verbindet er sich mit einer gründlichen Kenntnis der Vergangen¬
heit und einer unbeirrbaren Aufmerksamkeit auf alles neue. Möglich ist eine


teraturgeschichte der Gegenwart, gewiß -- aber wer ist in der
Material, das die Zeit nach und nach zusammentr
sind nicht wissenschaftlich, wird m

.
ie an sagen; vielleicht nicht, aber sie nehmen
ehr oft das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung voraus, und mit der
eit werden sie ja auch geschichtliches Material.
Im übrigen glaube ich, daß wir nach und nach eine Reihe von Gesetzen
es geistigen Lebens entdecken werden, die dem Litteraturgeschichtschreiber der
egenwart sein Werk bedeutend erleichtern. Schon früher einmal habe ich an
ieser Stelle auf die Gesetzmäßigkeit aufmerksam gemacht, mit der z. B. in
nsrer deutschen Litteratur jedes Menschenalter eine Art Sturm und Drang
iederkehrt, und ich hatte später das Vergnügen, meine Ausführung?» über
iesen Punkt fast wörtlich in dem Vortrage eines nicht unbekannten Litteratur¬
istorikers wiederzufinden. (Vielleicht hat aber jemand vor mir die Entdeckung
gemacht, obgleich die Auffassung der Münchner als Stürmer und Dränger
icht so nahe liegt.) Ich bin überzeugt, daß man noch zu ganz andern,
geradezu auffallenden Ergebnissen gelangen würde, wenn man vor allem die
Zahlen der Litteraturgeschichte einmal gründlich durcharbeitete. So ist es z. B.
wohl kaum ganz zufällig, daß das Jahr 1813 Hebbel, Ludwig und Wagner,
das Jahr 1815 Geibel, Kinkel, Schack und Gerok, das Jahr 1819 Keller,
Groth, Fontane, Jordan und Bodenstedt, das Jahr 1830 Heyse und Hamer-¬

ing hervorbrachte. Ohne in Zahlenmystik zu verfallen, würde ein tiefer
lickender Literarhistoriker in dem einfachen Neben- und Nacheinander der
ichter wie auch in dem Erscheinen ihrer Werke Gesetze des geistigen Lebens
inden, die den Materialismus Buckles, der ja auch seine Berechtigung hat,
glücklich nach der idealistischen Seite ergänzten. Ebenso würde eine genaue
Vergleichung der einzelnen Nationallitteraturen und ihrer verschiednen Perioden
ehr fruchtbar fein. Auf alle Fälle wären für die Litteratur der Gegenwart
eine größere Übersichtlichkeit und tieferes Verständnis zu gewinnen. Die Haupt¬
sache bleibt freilich immer, daß der Litteraturgeschichtschreiber den „Blick" sür
die Eigenart der Erscheinungen hat; auch auf dem Gebiete der Litteratur giebt
s Typen, vielleicht nicht einmal sehr zahlreiche, die immer wiederkehren und
elten bloß durch eine Persönlichkeit vertreten sind; hat man eine klare An¬
chauung von ihnen, dann ordnen sich die Einzelnen von selbst zu Gruppen,
nd es entsteht, ohne daß man die beliebten äußerlichen Klassifizirungen vor¬
zunehmen braucht, ein übersichtliches Bild der Gesamtlitteratur, in das man
alle neu auftauchenden Erscheinungen, die äußerst seltnen IioininW sui xorigris,
für die überhaupt immer ein besondrer Platz dasein muß, ausgenommen,
zwanglos einfügen kann. Aber jener „Blick" ist eben auch nicht allzu häufig,
noch seltner verbindet er sich mit einer gründlichen Kenntnis der Vergangen¬
heit und einer unbeirrbaren Aufmerksamkeit auf alles neue. Möglich ist eine


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[0229] Material, das die Zeit nach und nach zusammentr sind nicht wissenschaftlich, wird m . ie an sagen; vielleicht nicht, aber sie nehmen ehr oft das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung voraus, und mit der eit werden sie ja auch geschichtliches Material. Im übrigen glaube ich, daß wir nach und nach eine Reihe von Gesetzen es geistigen Lebens entdecken werden, die dem Litteraturgeschichtschreiber der egenwart sein Werk bedeutend erleichtern. Schon früher einmal habe ich an ieser Stelle auf die Gesetzmäßigkeit aufmerksam gemacht, mit der z. B. in nsrer deutschen Litteratur jedes Menschenalter eine Art Sturm und Drang iederkehrt, und ich hatte später das Vergnügen, meine Ausführung?» über iesen Punkt fast wörtlich in dem Vortrage eines nicht unbekannten Litteratur¬ istorikers wiederzufinden. (Vielleicht hat aber jemand vor mir die Entdeckung gemacht, obgleich die Auffassung der Münchner als Stürmer und Dränger icht so nahe liegt.) Ich bin überzeugt, daß man noch zu ganz andern, geradezu auffallenden Ergebnissen gelangen würde, wenn man vor allem die Zahlen der Litteraturgeschichte einmal gründlich durcharbeitete. So ist es z. B. wohl kaum ganz zufällig, daß das Jahr 1813 Hebbel, Ludwig und Wagner, das Jahr 1815 Geibel, Kinkel, Schack und Gerok, das Jahr 1819 Keller, Groth, Fontane, Jordan und Bodenstedt, das Jahr 1830 Heyse und Hamer-¬ ing hervorbrachte. Ohne in Zahlenmystik zu verfallen, würde ein tiefer lickender Literarhistoriker in dem einfachen Neben- und Nacheinander der ichter wie auch in dem Erscheinen ihrer Werke Gesetze des geistigen Lebens inden, die den Materialismus Buckles, der ja auch seine Berechtigung hat, glücklich nach der idealistischen Seite ergänzten. Ebenso würde eine genaue Vergleichung der einzelnen Nationallitteraturen und ihrer verschiednen Perioden ehr fruchtbar fein. Auf alle Fälle wären für die Litteratur der Gegenwart eine größere Übersichtlichkeit und tieferes Verständnis zu gewinnen. Die Haupt¬ sache bleibt freilich immer, daß der Litteraturgeschichtschreiber den „Blick" sür die Eigenart der Erscheinungen hat; auch auf dem Gebiete der Litteratur giebt s Typen, vielleicht nicht einmal sehr zahlreiche, die immer wiederkehren und elten bloß durch eine Persönlichkeit vertreten sind; hat man eine klare An¬ chauung von ihnen, dann ordnen sich die Einzelnen von selbst zu Gruppen, nd es entsteht, ohne daß man die beliebten äußerlichen Klassifizirungen vor¬ zunehmen braucht, ein übersichtliches Bild der Gesamtlitteratur, in das man alle neu auftauchenden Erscheinungen, die äußerst seltnen IioininW sui xorigris, für die überhaupt immer ein besondrer Platz dasein muß, ausgenommen, zwanglos einfügen kann. Aber jener „Blick" ist eben auch nicht allzu häufig, noch seltner verbindet er sich mit einer gründlichen Kenntnis der Vergangen¬ heit und einer unbeirrbaren Aufmerksamkeit auf alles neue. Möglich ist eine teraturgeschichte der Gegenwart, gewiß — aber wer ist in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/229>, abgerufen am 01.09.2024.