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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Innern ein klares, in sich abgeschlossenes Bild der Ereignisse und Persönlich¬
keiten tragen, die er behandelt. Er muß sich vor allen Dingen bei jeder ein¬
zelnen Erscheinung die Frage vorlegen und scharf und genau beantworten
können i Was verdankt sie ihren Vorgängern, was ihrer eignen Individualität,
was der allgemeinen Strömung ihrer Zeit, und schließlich und vor allem:
wie ist ihre Wirkung auf die Nachwelt? Es liegt also auf der Hand, daß ein
solches abschließendes Urteil nur über Zeiten und Persönlichkeiten gefällt werden
kann, die sich ganz oder doch in der Hauptsache ausgelebt haben, d. h. deren
Ideale bereits verwirklicht und von nachfolgenden Geschlechtern nur weiter
ausgebaut worden sind."

Ich halte diese Behauptungen sür anfechtbar. Schafft man sich allerdings
eine ideale Geschichtsdarstellung, in der alles endgiltig abgeschlossen ist, und
nimmt von ihr die Maßstäbe, dann wird eine Litteraturgeschichte der
Gegenwart als ein Unding erscheinen. Aber wo wäre je eine endgiltige
Geschichte, sei es eine politische oder sonst eine, geschrieben worden? Das
Wort Fe5 gilt nicht bloß von den Dingen, sondern auch von den
Urteilen über die Dinge, ein für alle Zeit feststehendes, unangreifbares Urteil
läßt sich nur selten füllen; denn unser geschichtliches Wissen von Ereignissen
wie von Persönlichkeiten bleibt ewig lückenhaft, und je bedeutender ein Mensch
gewesen ist, um so eher sind verschiedne Auffassungen seines Wesens möglich.
Die hohe Aufgabe der Geschichte, lebendige Menschen hinzustellen, läßt sich
eben nicht aktenmäßig lösen. Eher vielleicht kommt einer geschichtlichen Gestalt
die persönliche Anschauung des Mitlebenden bei, wie dieser auch den eigen¬
tümlichen Glanz und Duft der Ereignisse besser faßt als ein Nachlebender;
der Nachlebende kann ohne zeitgenössische Berichte, und wären sie auch voll
geschichtlicher Irrtümer, wenig machen. So hat Lessing im Grunde nicht
Unrecht, wenn er sagt, daß jeder Geschichtschreiber nur die Geschichte seiner
eignen Zeit schreiben könne; schreibt er die einer andern, so wird er auch damit
wieder nur einen Beitrag zur Geschichte der seinigen liefern. Was aber für
die allgemeine Geschichte gilt -- und daß es gilt, beweisen die großen Geschicht¬
schreiber des Altertums und nicht wenige der Neuzeit --, gilt natürlich auch
für die Litteraturgeschichte, ja für sie noch in höherm Grade; denn sie ist so
glücklich, eine Wissenschaft zu sein, die nur mit Dokumenten, eben den Werken
der Dichter und Schriftsteller arbeitet. Daß für die neuere Litteraturgeschicht¬
schreibung diese Werke oft viel weniger wichtig erscheinen als die auszugrabenden
Nachrichten über das Leben der Dichter und das sonstige Drum und Dran,
braucht uns hier nicht zu kümmern.

Meiner Ansicht nach ist also eine Geschichte der Litteratur der Gegen¬
wart möglich. Mag mau die litterarische Bewegung immerhin mit einem
Strom vergleichen wie die geschichtliche selbst, deren Spiegelbild sie ist, ihr
ganzer Verlauf ist doch durch Bücher und Schriften festgelegt, ja es steht nichts


Die Alten und die Jungen

Innern ein klares, in sich abgeschlossenes Bild der Ereignisse und Persönlich¬
keiten tragen, die er behandelt. Er muß sich vor allen Dingen bei jeder ein¬
zelnen Erscheinung die Frage vorlegen und scharf und genau beantworten
können i Was verdankt sie ihren Vorgängern, was ihrer eignen Individualität,
was der allgemeinen Strömung ihrer Zeit, und schließlich und vor allem:
wie ist ihre Wirkung auf die Nachwelt? Es liegt also auf der Hand, daß ein
solches abschließendes Urteil nur über Zeiten und Persönlichkeiten gefällt werden
kann, die sich ganz oder doch in der Hauptsache ausgelebt haben, d. h. deren
Ideale bereits verwirklicht und von nachfolgenden Geschlechtern nur weiter
ausgebaut worden sind."

Ich halte diese Behauptungen sür anfechtbar. Schafft man sich allerdings
eine ideale Geschichtsdarstellung, in der alles endgiltig abgeschlossen ist, und
nimmt von ihr die Maßstäbe, dann wird eine Litteraturgeschichte der
Gegenwart als ein Unding erscheinen. Aber wo wäre je eine endgiltige
Geschichte, sei es eine politische oder sonst eine, geschrieben worden? Das
Wort Fe5 gilt nicht bloß von den Dingen, sondern auch von den
Urteilen über die Dinge, ein für alle Zeit feststehendes, unangreifbares Urteil
läßt sich nur selten füllen; denn unser geschichtliches Wissen von Ereignissen
wie von Persönlichkeiten bleibt ewig lückenhaft, und je bedeutender ein Mensch
gewesen ist, um so eher sind verschiedne Auffassungen seines Wesens möglich.
Die hohe Aufgabe der Geschichte, lebendige Menschen hinzustellen, läßt sich
eben nicht aktenmäßig lösen. Eher vielleicht kommt einer geschichtlichen Gestalt
die persönliche Anschauung des Mitlebenden bei, wie dieser auch den eigen¬
tümlichen Glanz und Duft der Ereignisse besser faßt als ein Nachlebender;
der Nachlebende kann ohne zeitgenössische Berichte, und wären sie auch voll
geschichtlicher Irrtümer, wenig machen. So hat Lessing im Grunde nicht
Unrecht, wenn er sagt, daß jeder Geschichtschreiber nur die Geschichte seiner
eignen Zeit schreiben könne; schreibt er die einer andern, so wird er auch damit
wieder nur einen Beitrag zur Geschichte der seinigen liefern. Was aber für
die allgemeine Geschichte gilt — und daß es gilt, beweisen die großen Geschicht¬
schreiber des Altertums und nicht wenige der Neuzeit —, gilt natürlich auch
für die Litteraturgeschichte, ja für sie noch in höherm Grade; denn sie ist so
glücklich, eine Wissenschaft zu sein, die nur mit Dokumenten, eben den Werken
der Dichter und Schriftsteller arbeitet. Daß für die neuere Litteraturgeschicht¬
schreibung diese Werke oft viel weniger wichtig erscheinen als die auszugrabenden
Nachrichten über das Leben der Dichter und das sonstige Drum und Dran,
braucht uns hier nicht zu kümmern.

Meiner Ansicht nach ist also eine Geschichte der Litteratur der Gegen¬
wart möglich. Mag mau die litterarische Bewegung immerhin mit einem
Strom vergleichen wie die geschichtliche selbst, deren Spiegelbild sie ist, ihr
ganzer Verlauf ist doch durch Bücher und Schriften festgelegt, ja es steht nichts


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[0227] Die Alten und die Jungen Innern ein klares, in sich abgeschlossenes Bild der Ereignisse und Persönlich¬ keiten tragen, die er behandelt. Er muß sich vor allen Dingen bei jeder ein¬ zelnen Erscheinung die Frage vorlegen und scharf und genau beantworten können i Was verdankt sie ihren Vorgängern, was ihrer eignen Individualität, was der allgemeinen Strömung ihrer Zeit, und schließlich und vor allem: wie ist ihre Wirkung auf die Nachwelt? Es liegt also auf der Hand, daß ein solches abschließendes Urteil nur über Zeiten und Persönlichkeiten gefällt werden kann, die sich ganz oder doch in der Hauptsache ausgelebt haben, d. h. deren Ideale bereits verwirklicht und von nachfolgenden Geschlechtern nur weiter ausgebaut worden sind." Ich halte diese Behauptungen sür anfechtbar. Schafft man sich allerdings eine ideale Geschichtsdarstellung, in der alles endgiltig abgeschlossen ist, und nimmt von ihr die Maßstäbe, dann wird eine Litteraturgeschichte der Gegenwart als ein Unding erscheinen. Aber wo wäre je eine endgiltige Geschichte, sei es eine politische oder sonst eine, geschrieben worden? Das Wort Fe5 gilt nicht bloß von den Dingen, sondern auch von den Urteilen über die Dinge, ein für alle Zeit feststehendes, unangreifbares Urteil läßt sich nur selten füllen; denn unser geschichtliches Wissen von Ereignissen wie von Persönlichkeiten bleibt ewig lückenhaft, und je bedeutender ein Mensch gewesen ist, um so eher sind verschiedne Auffassungen seines Wesens möglich. Die hohe Aufgabe der Geschichte, lebendige Menschen hinzustellen, läßt sich eben nicht aktenmäßig lösen. Eher vielleicht kommt einer geschichtlichen Gestalt die persönliche Anschauung des Mitlebenden bei, wie dieser auch den eigen¬ tümlichen Glanz und Duft der Ereignisse besser faßt als ein Nachlebender; der Nachlebende kann ohne zeitgenössische Berichte, und wären sie auch voll geschichtlicher Irrtümer, wenig machen. So hat Lessing im Grunde nicht Unrecht, wenn er sagt, daß jeder Geschichtschreiber nur die Geschichte seiner eignen Zeit schreiben könne; schreibt er die einer andern, so wird er auch damit wieder nur einen Beitrag zur Geschichte der seinigen liefern. Was aber für die allgemeine Geschichte gilt — und daß es gilt, beweisen die großen Geschicht¬ schreiber des Altertums und nicht wenige der Neuzeit —, gilt natürlich auch für die Litteraturgeschichte, ja für sie noch in höherm Grade; denn sie ist so glücklich, eine Wissenschaft zu sein, die nur mit Dokumenten, eben den Werken der Dichter und Schriftsteller arbeitet. Daß für die neuere Litteraturgeschicht¬ schreibung diese Werke oft viel weniger wichtig erscheinen als die auszugrabenden Nachrichten über das Leben der Dichter und das sonstige Drum und Dran, braucht uns hier nicht zu kümmern. Meiner Ansicht nach ist also eine Geschichte der Litteratur der Gegen¬ wart möglich. Mag mau die litterarische Bewegung immerhin mit einem Strom vergleichen wie die geschichtliche selbst, deren Spiegelbild sie ist, ihr ganzer Verlauf ist doch durch Bücher und Schriften festgelegt, ja es steht nichts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/227>, abgerufen am 24.11.2024.