Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Welterklärungsversuche

scheinung ist, aber eine Erscheinung, die das Wesen des Unbedingten nicht
enthüllt, sondern eitel Lug und Trug ist, während doch das Unbedingte nicht
lügen und betrügen kann, sondern die ewige Wahrheit ist. Wir sollen ein
Unbedingtes glauben, das nicht Macht, sondern bloß Norm ist, und die
Menschenseelen, die selber das in Individuen zersplitterte Unbedingte sind,
sollen die Norm zur Geltung bringen in dieser abnormen physischen Welt. Wie
können sie das, wenn das Normale keine Macht hat? Wenn alle Schöpser-
mcicht bei dem unbekannten und unerkennbaren Wesen ruht, das die Gott tod-
seindliche Welt erschaffen und dein Unbedingten einen trügerischen Schein auf-
gezwungen hat, wodurch dieses sich selbst zu betrügen gezwungen ist, da es
doch sonst nirgends vorhanden ist, als in den betrognen Menschenseelen? Und
sind es nicht ganz leere Redensarten, wenn von einer Fortdauer des Göttlichen
über deu Untergang unsers Planeten hinaus geredet wird, da doch die
Menschen, die einzigen Träger des Göttlichen in der Welt, längst vernichtet
sein müssen, wenn unser Planet untergeht? Und was bleibt von Gott übrig,
wenn der Zweck des Menschendaseins erfüllt, das sittliche Ideal verwirklicht
wird durch Aufhebung der Individualität? Ist die Körperwelt ein Nichts,
so wäre ein unbewußter Geist ein Nichts in zweiter Potenz; wenn irgend ein
Wort eines Philosophen wahr ist, so ist es das Wort Lotzes, daß nichts in
der Welt wirklich sei als der bewußte Geist. Giebt es keinen bewußten Geist
außer dem Menschengeiste, so giebt es auch keinen Gott; wird aber derMenschen-
gcist Gott genannt, so hört Gott mit dem letzten Menschen auf zu sein. Die
Annahme einer unbewußten Fortdauer des in den Menschen lebenden Geistes
hat keinen Sinn; niemand vermag sich darunter etwas zu denken.

In der Sittenlehre fällt Spirs Auffassung insoweit mit unsrer zusammen,
als er die Sittlichkeit in der Behauptung des eignen wahren, höhern Wesens
des Menschen sieht. "Die Pflicht gegen das Ganze fällt für uns mit der Pflicht
gegen uns selbst, mit unserm eignen höchsten Interesses zusammen" (IV, 80).
Wir nennen diese Selbstbehauptung mit Herbart die Verwirklichung der sitt¬
lichen Ideen, und da es eben mehrere sittliche Ideen giebt, nicht bloß die eine
des Wohlwollens oder der Liebe, so folgt daraus, wie schon im ersten Aschnitt
dieses Aufsatzes hervorgehoben wurde, daß die Sittlichkeit keineswegs in der
Nächstenliebe oder dem Altruismus aufgeht. Spir verfüllt aber trotz seiner
richtigen Grundbestimmung der Sittlichkeit in diesen heutigen Modefehler und
verwickelt sich dadurch in einen unlösbaren Widerspruch. Die Selbstbehauptung
der sittlichen Persönlichkeit schlägt in die Verleugnung des Egoismus um,
deren höchster Grad die Aufhebung der Individualität ist. Nun soll aber
das sittliche Handeln das Wohl des Nächsten, also die Erhaltung der In¬
dividualität zum Zweck haben. Während also die sittliche Gesinnung die
Aufhebung der Individualität fordert, besteht das sittliche Handeln in der
Förderung des Einzeldaseins -- ein offenbarer Unsinn.


Grenzboten III 1896 28
Welterklärungsversuche

scheinung ist, aber eine Erscheinung, die das Wesen des Unbedingten nicht
enthüllt, sondern eitel Lug und Trug ist, während doch das Unbedingte nicht
lügen und betrügen kann, sondern die ewige Wahrheit ist. Wir sollen ein
Unbedingtes glauben, das nicht Macht, sondern bloß Norm ist, und die
Menschenseelen, die selber das in Individuen zersplitterte Unbedingte sind,
sollen die Norm zur Geltung bringen in dieser abnormen physischen Welt. Wie
können sie das, wenn das Normale keine Macht hat? Wenn alle Schöpser-
mcicht bei dem unbekannten und unerkennbaren Wesen ruht, das die Gott tod-
seindliche Welt erschaffen und dein Unbedingten einen trügerischen Schein auf-
gezwungen hat, wodurch dieses sich selbst zu betrügen gezwungen ist, da es
doch sonst nirgends vorhanden ist, als in den betrognen Menschenseelen? Und
sind es nicht ganz leere Redensarten, wenn von einer Fortdauer des Göttlichen
über deu Untergang unsers Planeten hinaus geredet wird, da doch die
Menschen, die einzigen Träger des Göttlichen in der Welt, längst vernichtet
sein müssen, wenn unser Planet untergeht? Und was bleibt von Gott übrig,
wenn der Zweck des Menschendaseins erfüllt, das sittliche Ideal verwirklicht
wird durch Aufhebung der Individualität? Ist die Körperwelt ein Nichts,
so wäre ein unbewußter Geist ein Nichts in zweiter Potenz; wenn irgend ein
Wort eines Philosophen wahr ist, so ist es das Wort Lotzes, daß nichts in
der Welt wirklich sei als der bewußte Geist. Giebt es keinen bewußten Geist
außer dem Menschengeiste, so giebt es auch keinen Gott; wird aber derMenschen-
gcist Gott genannt, so hört Gott mit dem letzten Menschen auf zu sein. Die
Annahme einer unbewußten Fortdauer des in den Menschen lebenden Geistes
hat keinen Sinn; niemand vermag sich darunter etwas zu denken.

In der Sittenlehre fällt Spirs Auffassung insoweit mit unsrer zusammen,
als er die Sittlichkeit in der Behauptung des eignen wahren, höhern Wesens
des Menschen sieht. „Die Pflicht gegen das Ganze fällt für uns mit der Pflicht
gegen uns selbst, mit unserm eignen höchsten Interesses zusammen" (IV, 80).
Wir nennen diese Selbstbehauptung mit Herbart die Verwirklichung der sitt¬
lichen Ideen, und da es eben mehrere sittliche Ideen giebt, nicht bloß die eine
des Wohlwollens oder der Liebe, so folgt daraus, wie schon im ersten Aschnitt
dieses Aufsatzes hervorgehoben wurde, daß die Sittlichkeit keineswegs in der
Nächstenliebe oder dem Altruismus aufgeht. Spir verfüllt aber trotz seiner
richtigen Grundbestimmung der Sittlichkeit in diesen heutigen Modefehler und
verwickelt sich dadurch in einen unlösbaren Widerspruch. Die Selbstbehauptung
der sittlichen Persönlichkeit schlägt in die Verleugnung des Egoismus um,
deren höchster Grad die Aufhebung der Individualität ist. Nun soll aber
das sittliche Handeln das Wohl des Nächsten, also die Erhaltung der In¬
dividualität zum Zweck haben. Während also die sittliche Gesinnung die
Aufhebung der Individualität fordert, besteht das sittliche Handeln in der
Förderung des Einzeldaseins — ein offenbarer Unsinn.


Grenzboten III 1896 28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223167"/>
          <fw type="header" place="top"> Welterklärungsversuche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_667" prev="#ID_666"> scheinung ist, aber eine Erscheinung, die das Wesen des Unbedingten nicht<lb/>
enthüllt, sondern eitel Lug und Trug ist, während doch das Unbedingte nicht<lb/>
lügen und betrügen kann, sondern die ewige Wahrheit ist. Wir sollen ein<lb/>
Unbedingtes glauben, das nicht Macht, sondern bloß Norm ist, und die<lb/>
Menschenseelen, die selber das in Individuen zersplitterte Unbedingte sind,<lb/>
sollen die Norm zur Geltung bringen in dieser abnormen physischen Welt. Wie<lb/>
können sie das, wenn das Normale keine Macht hat? Wenn alle Schöpser-<lb/>
mcicht bei dem unbekannten und unerkennbaren Wesen ruht, das die Gott tod-<lb/>
seindliche Welt erschaffen und dein Unbedingten einen trügerischen Schein auf-<lb/>
gezwungen hat, wodurch dieses sich selbst zu betrügen gezwungen ist, da es<lb/>
doch sonst nirgends vorhanden ist, als in den betrognen Menschenseelen? Und<lb/>
sind es nicht ganz leere Redensarten, wenn von einer Fortdauer des Göttlichen<lb/>
über deu Untergang unsers Planeten hinaus geredet wird, da doch die<lb/>
Menschen, die einzigen Träger des Göttlichen in der Welt, längst vernichtet<lb/>
sein müssen, wenn unser Planet untergeht? Und was bleibt von Gott übrig,<lb/>
wenn der Zweck des Menschendaseins erfüllt, das sittliche Ideal verwirklicht<lb/>
wird durch Aufhebung der Individualität? Ist die Körperwelt ein Nichts,<lb/>
so wäre ein unbewußter Geist ein Nichts in zweiter Potenz; wenn irgend ein<lb/>
Wort eines Philosophen wahr ist, so ist es das Wort Lotzes, daß nichts in<lb/>
der Welt wirklich sei als der bewußte Geist. Giebt es keinen bewußten Geist<lb/>
außer dem Menschengeiste, so giebt es auch keinen Gott; wird aber derMenschen-<lb/>
gcist Gott genannt, so hört Gott mit dem letzten Menschen auf zu sein. Die<lb/>
Annahme einer unbewußten Fortdauer des in den Menschen lebenden Geistes<lb/>
hat keinen Sinn; niemand vermag sich darunter etwas zu denken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_668"> In der Sittenlehre fällt Spirs Auffassung insoweit mit unsrer zusammen,<lb/>
als er die Sittlichkeit in der Behauptung des eignen wahren, höhern Wesens<lb/>
des Menschen sieht. &#x201E;Die Pflicht gegen das Ganze fällt für uns mit der Pflicht<lb/>
gegen uns selbst, mit unserm eignen höchsten Interesses zusammen" (IV, 80).<lb/>
Wir nennen diese Selbstbehauptung mit Herbart die Verwirklichung der sitt¬<lb/>
lichen Ideen, und da es eben mehrere sittliche Ideen giebt, nicht bloß die eine<lb/>
des Wohlwollens oder der Liebe, so folgt daraus, wie schon im ersten Aschnitt<lb/>
dieses Aufsatzes hervorgehoben wurde, daß die Sittlichkeit keineswegs in der<lb/>
Nächstenliebe oder dem Altruismus aufgeht. Spir verfüllt aber trotz seiner<lb/>
richtigen Grundbestimmung der Sittlichkeit in diesen heutigen Modefehler und<lb/>
verwickelt sich dadurch in einen unlösbaren Widerspruch. Die Selbstbehauptung<lb/>
der sittlichen Persönlichkeit schlägt in die Verleugnung des Egoismus um,<lb/>
deren höchster Grad die Aufhebung der Individualität ist. Nun soll aber<lb/>
das sittliche Handeln das Wohl des Nächsten, also die Erhaltung der In¬<lb/>
dividualität zum Zweck haben. Während also die sittliche Gesinnung die<lb/>
Aufhebung der Individualität fordert, besteht das sittliche Handeln in der<lb/>
Förderung des Einzeldaseins &#x2014; ein offenbarer Unsinn.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1896 28</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Welterklärungsversuche scheinung ist, aber eine Erscheinung, die das Wesen des Unbedingten nicht enthüllt, sondern eitel Lug und Trug ist, während doch das Unbedingte nicht lügen und betrügen kann, sondern die ewige Wahrheit ist. Wir sollen ein Unbedingtes glauben, das nicht Macht, sondern bloß Norm ist, und die Menschenseelen, die selber das in Individuen zersplitterte Unbedingte sind, sollen die Norm zur Geltung bringen in dieser abnormen physischen Welt. Wie können sie das, wenn das Normale keine Macht hat? Wenn alle Schöpser- mcicht bei dem unbekannten und unerkennbaren Wesen ruht, das die Gott tod- seindliche Welt erschaffen und dein Unbedingten einen trügerischen Schein auf- gezwungen hat, wodurch dieses sich selbst zu betrügen gezwungen ist, da es doch sonst nirgends vorhanden ist, als in den betrognen Menschenseelen? Und sind es nicht ganz leere Redensarten, wenn von einer Fortdauer des Göttlichen über deu Untergang unsers Planeten hinaus geredet wird, da doch die Menschen, die einzigen Träger des Göttlichen in der Welt, längst vernichtet sein müssen, wenn unser Planet untergeht? Und was bleibt von Gott übrig, wenn der Zweck des Menschendaseins erfüllt, das sittliche Ideal verwirklicht wird durch Aufhebung der Individualität? Ist die Körperwelt ein Nichts, so wäre ein unbewußter Geist ein Nichts in zweiter Potenz; wenn irgend ein Wort eines Philosophen wahr ist, so ist es das Wort Lotzes, daß nichts in der Welt wirklich sei als der bewußte Geist. Giebt es keinen bewußten Geist außer dem Menschengeiste, so giebt es auch keinen Gott; wird aber derMenschen- gcist Gott genannt, so hört Gott mit dem letzten Menschen auf zu sein. Die Annahme einer unbewußten Fortdauer des in den Menschen lebenden Geistes hat keinen Sinn; niemand vermag sich darunter etwas zu denken. In der Sittenlehre fällt Spirs Auffassung insoweit mit unsrer zusammen, als er die Sittlichkeit in der Behauptung des eignen wahren, höhern Wesens des Menschen sieht. „Die Pflicht gegen das Ganze fällt für uns mit der Pflicht gegen uns selbst, mit unserm eignen höchsten Interesses zusammen" (IV, 80). Wir nennen diese Selbstbehauptung mit Herbart die Verwirklichung der sitt¬ lichen Ideen, und da es eben mehrere sittliche Ideen giebt, nicht bloß die eine des Wohlwollens oder der Liebe, so folgt daraus, wie schon im ersten Aschnitt dieses Aufsatzes hervorgehoben wurde, daß die Sittlichkeit keineswegs in der Nächstenliebe oder dem Altruismus aufgeht. Spir verfüllt aber trotz seiner richtigen Grundbestimmung der Sittlichkeit in diesen heutigen Modefehler und verwickelt sich dadurch in einen unlösbaren Widerspruch. Die Selbstbehauptung der sittlichen Persönlichkeit schlägt in die Verleugnung des Egoismus um, deren höchster Grad die Aufhebung der Individualität ist. Nun soll aber das sittliche Handeln das Wohl des Nächsten, also die Erhaltung der In¬ dividualität zum Zweck haben. Während also die sittliche Gesinnung die Aufhebung der Individualität fordert, besteht das sittliche Handeln in der Förderung des Einzeldaseins — ein offenbarer Unsinn. Grenzboten III 1896 28

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/225>, abgerufen am 01.09.2024.