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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Welterklärungsversuche

vereinigt werden könnten, als durch eine Sonne, die einen sie in großer Ent¬
fernung umkreisenden Planeten bestrahlt. Wir sehen ferner nicht, durch welche
andre Einrichtung eine bessere Verteilung der Wärme auf unsrer Erde Hütte
erreicht werden können, als durch die schiefe Stellung der Erdachse, und wie
bei dieser nach den Jahreszeiten wechselnden Verteilungsart die Temperatur¬
wechsel, die Stürme, der Wechsel von Sonnenbrand und Regengüssen vermieden
werden könnten. Aus dem Klima aber stammt neben vielfachem Segen auch
ein großer Teil der irdischen Übel, wie Hungersnöte und Überschwemmungen,
und daß die Menschen in den warmen Gegenden manchmal verschmachten, in
den kalten nicht selten verkümmern, während in unsern Gegenden des veränder¬
lichen Niederschlages neben der Lungenentzündung und dem Gliederreißen
Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Leibweh dafür sorgen, daß die Tragik des
Lebens mit einem Zusätze von Komik gewürzt werde. Das ist ja alles recht
schlimm, um so schlimmer, je schlimmer man es nimmt, aber ehe wir heraus¬
bekommen haben, wie dieses Schlimme vermieden werden könnte, dürfen wir
unserm Herrgott keinen Vorwurf daraus machen, daß er die Welt lieber so
als gar nicht geschaffen hat. Höchstens dann wäre der Vorwurf berechtigt,
wenn die Mehrheit der Menschen die Bilanz des Lebens für negativ erklärte;
das muß aber wohl nicht der Fall sein, sonst würde doch die Mehrheit durch
Selbstmord enden; die meisten ziehen es aber vor, fortzuhusten, sortzuächzen,
zu krächzen und zu schnupfen oder zu jammern. Spir freilich erklärt auch die
Furcht vor dem Tode, die vom Selbstmord abhält, für eine von der Natur
erzeugte Selbsttäuschung. Daß er sich bei alledem weder für einen Pessimisten,
noch für einen Buddhisten hält, sondern gegen deren Lebensansicht polemisirt,
darf man wohl für eine der seltsamsten Selbsttäuschungen erklären. War nun
das physische Leben der Menschen ohne Übel nicht möglich, so noch weniger
das sittliche, weil es eben die physischen Übel sind, die zu aller Thätigkeit, daher
auch zur Entfaltung des höhern sittlichen Lebens zwingen, und weil das sittlich
Gute gar nicht denkbar wäre, ja gar keinen Sinn Hütte, wenn sein Gegensatz,
das Böse, unmöglich oder unbekannt würe; die Menschen würden dann nur in
demselben Sinne gut sein wie die Fruchtbäume, als reine Naturwesen. Da wir
uns also eine anders eingerichtete Welt gar nicht vorstellen können, so ist die
Annahme erlaubt, daß keine andre möglich, und daß Gott nicht im gebräuch¬
lichen Sinne des Wortes allmächtig und frei sei, daß er also höchstens die Wahl
gehabt habe, ob er gar keine bewußten Geschöpfe ins Dasein rufen wollte, oder
solche, die sich ihr bescheiden Teil von Glück mit Ungemach erkaufen müssen,
und bis jetzt hat die Mehrzahl der Menschen seiner Entscheidung Recht gegeben.

Übrigens haben wir uns mit unserm Bekenntnis, daß wir die Ratschlüsse
Gottes nicht verstehen, durchaus nicht zu schämen gegenüber den Unbegreiflich¬
keiten, die uns Spir zumutet. Wir sollen ein Unbedingtes glauben, von dem
das Bedingte, die wirkliche Welt, nicht die Wirkung, sondern nur die Er-


Welterklärungsversuche

vereinigt werden könnten, als durch eine Sonne, die einen sie in großer Ent¬
fernung umkreisenden Planeten bestrahlt. Wir sehen ferner nicht, durch welche
andre Einrichtung eine bessere Verteilung der Wärme auf unsrer Erde Hütte
erreicht werden können, als durch die schiefe Stellung der Erdachse, und wie
bei dieser nach den Jahreszeiten wechselnden Verteilungsart die Temperatur¬
wechsel, die Stürme, der Wechsel von Sonnenbrand und Regengüssen vermieden
werden könnten. Aus dem Klima aber stammt neben vielfachem Segen auch
ein großer Teil der irdischen Übel, wie Hungersnöte und Überschwemmungen,
und daß die Menschen in den warmen Gegenden manchmal verschmachten, in
den kalten nicht selten verkümmern, während in unsern Gegenden des veränder¬
lichen Niederschlages neben der Lungenentzündung und dem Gliederreißen
Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Leibweh dafür sorgen, daß die Tragik des
Lebens mit einem Zusätze von Komik gewürzt werde. Das ist ja alles recht
schlimm, um so schlimmer, je schlimmer man es nimmt, aber ehe wir heraus¬
bekommen haben, wie dieses Schlimme vermieden werden könnte, dürfen wir
unserm Herrgott keinen Vorwurf daraus machen, daß er die Welt lieber so
als gar nicht geschaffen hat. Höchstens dann wäre der Vorwurf berechtigt,
wenn die Mehrheit der Menschen die Bilanz des Lebens für negativ erklärte;
das muß aber wohl nicht der Fall sein, sonst würde doch die Mehrheit durch
Selbstmord enden; die meisten ziehen es aber vor, fortzuhusten, sortzuächzen,
zu krächzen und zu schnupfen oder zu jammern. Spir freilich erklärt auch die
Furcht vor dem Tode, die vom Selbstmord abhält, für eine von der Natur
erzeugte Selbsttäuschung. Daß er sich bei alledem weder für einen Pessimisten,
noch für einen Buddhisten hält, sondern gegen deren Lebensansicht polemisirt,
darf man wohl für eine der seltsamsten Selbsttäuschungen erklären. War nun
das physische Leben der Menschen ohne Übel nicht möglich, so noch weniger
das sittliche, weil es eben die physischen Übel sind, die zu aller Thätigkeit, daher
auch zur Entfaltung des höhern sittlichen Lebens zwingen, und weil das sittlich
Gute gar nicht denkbar wäre, ja gar keinen Sinn Hütte, wenn sein Gegensatz,
das Böse, unmöglich oder unbekannt würe; die Menschen würden dann nur in
demselben Sinne gut sein wie die Fruchtbäume, als reine Naturwesen. Da wir
uns also eine anders eingerichtete Welt gar nicht vorstellen können, so ist die
Annahme erlaubt, daß keine andre möglich, und daß Gott nicht im gebräuch¬
lichen Sinne des Wortes allmächtig und frei sei, daß er also höchstens die Wahl
gehabt habe, ob er gar keine bewußten Geschöpfe ins Dasein rufen wollte, oder
solche, die sich ihr bescheiden Teil von Glück mit Ungemach erkaufen müssen,
und bis jetzt hat die Mehrzahl der Menschen seiner Entscheidung Recht gegeben.

Übrigens haben wir uns mit unserm Bekenntnis, daß wir die Ratschlüsse
Gottes nicht verstehen, durchaus nicht zu schämen gegenüber den Unbegreiflich¬
keiten, die uns Spir zumutet. Wir sollen ein Unbedingtes glauben, von dem
das Bedingte, die wirkliche Welt, nicht die Wirkung, sondern nur die Er-


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[0224] Welterklärungsversuche vereinigt werden könnten, als durch eine Sonne, die einen sie in großer Ent¬ fernung umkreisenden Planeten bestrahlt. Wir sehen ferner nicht, durch welche andre Einrichtung eine bessere Verteilung der Wärme auf unsrer Erde Hütte erreicht werden können, als durch die schiefe Stellung der Erdachse, und wie bei dieser nach den Jahreszeiten wechselnden Verteilungsart die Temperatur¬ wechsel, die Stürme, der Wechsel von Sonnenbrand und Regengüssen vermieden werden könnten. Aus dem Klima aber stammt neben vielfachem Segen auch ein großer Teil der irdischen Übel, wie Hungersnöte und Überschwemmungen, und daß die Menschen in den warmen Gegenden manchmal verschmachten, in den kalten nicht selten verkümmern, während in unsern Gegenden des veränder¬ lichen Niederschlages neben der Lungenentzündung und dem Gliederreißen Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Leibweh dafür sorgen, daß die Tragik des Lebens mit einem Zusätze von Komik gewürzt werde. Das ist ja alles recht schlimm, um so schlimmer, je schlimmer man es nimmt, aber ehe wir heraus¬ bekommen haben, wie dieses Schlimme vermieden werden könnte, dürfen wir unserm Herrgott keinen Vorwurf daraus machen, daß er die Welt lieber so als gar nicht geschaffen hat. Höchstens dann wäre der Vorwurf berechtigt, wenn die Mehrheit der Menschen die Bilanz des Lebens für negativ erklärte; das muß aber wohl nicht der Fall sein, sonst würde doch die Mehrheit durch Selbstmord enden; die meisten ziehen es aber vor, fortzuhusten, sortzuächzen, zu krächzen und zu schnupfen oder zu jammern. Spir freilich erklärt auch die Furcht vor dem Tode, die vom Selbstmord abhält, für eine von der Natur erzeugte Selbsttäuschung. Daß er sich bei alledem weder für einen Pessimisten, noch für einen Buddhisten hält, sondern gegen deren Lebensansicht polemisirt, darf man wohl für eine der seltsamsten Selbsttäuschungen erklären. War nun das physische Leben der Menschen ohne Übel nicht möglich, so noch weniger das sittliche, weil es eben die physischen Übel sind, die zu aller Thätigkeit, daher auch zur Entfaltung des höhern sittlichen Lebens zwingen, und weil das sittlich Gute gar nicht denkbar wäre, ja gar keinen Sinn Hütte, wenn sein Gegensatz, das Böse, unmöglich oder unbekannt würe; die Menschen würden dann nur in demselben Sinne gut sein wie die Fruchtbäume, als reine Naturwesen. Da wir uns also eine anders eingerichtete Welt gar nicht vorstellen können, so ist die Annahme erlaubt, daß keine andre möglich, und daß Gott nicht im gebräuch¬ lichen Sinne des Wortes allmächtig und frei sei, daß er also höchstens die Wahl gehabt habe, ob er gar keine bewußten Geschöpfe ins Dasein rufen wollte, oder solche, die sich ihr bescheiden Teil von Glück mit Ungemach erkaufen müssen, und bis jetzt hat die Mehrzahl der Menschen seiner Entscheidung Recht gegeben. Übrigens haben wir uns mit unserm Bekenntnis, daß wir die Ratschlüsse Gottes nicht verstehen, durchaus nicht zu schämen gegenüber den Unbegreiflich¬ keiten, die uns Spir zumutet. Wir sollen ein Unbedingtes glauben, von dem das Bedingte, die wirkliche Welt, nicht die Wirkung, sondern nur die Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/224>, abgerufen am 01.09.2024.