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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Weltorklärungsversuche

raten; einen Plan herauszufinden, der den Weltschöpfer rechtfertigte, ist un¬
möglich. "Nichts kann trauriger und entsetzlicher sein als die Geschichte der
Menschheit." Auch geht es nicht an, sich damit herauszureden, daß Gott un-
erforschlich und seine Wege unergründlich seien. Ich darf wohl zugestehen,
daß ich das Übel in der Welt nicht zu erklären vermag, denn das Übel ist
eine Thatsache, aber ich darf nicht sagen: wie die Weisheit und Güte des
Weltschöpfers mit dem Übel zu vereinbaren sei, ist unerklärlich, denn daß der
Weltschöpfer die Weisheit und Güte, oder daß die ewige Güte der Weltschöpfer
sei, das ist keine Thatsache, sondern eine willkürliche Annahme. (Diese Sätze
finden sich an so vielen Stellen zerstreut, daß es nicht möglich ist, sie alle an¬
zugeben.) Nicht der Entstehungsgrund der Welt ist das Unbedingte, sondern
die Norm sür das menschliche Denken, Wollen und Handeln (I. 414); Gott
ist das Gute. Die zwei Artikel von Spirs Religion lauten: "1. Es giebt
einen Gott, ein höchstes, vollkommnes Wesen, an dem auch wir Teil haben,
mit dem wir innerlich verwandt sind. Gott ist das wahrhaft eigne, das nor¬
male Wesen der Dinge, dem die Vielheit und die Individualität der empi¬
rischen Objekte und deren Physische Beschaffenheit fremd ist. 2. Wer das Gute
um des Guten willen, d. h. aus reiner Hingebung an Gott als das Ideal,
als die normale Natur der Dinge thut, der nähert sich Gott und arbeitet für
die Ewigkeit. Was über diese zwei Artikel hinausgeht, ist vom Übel" (IV, 200).
Weil das Individuelle der Natur angehört, Gott also kein Einzelwesen sein
kann, so kann er auch kein Bewußtsein haben, denn eben das Bewußtsein
scheidet die Individuen von einander. Das Verhältnis des Menschen zu Gott
klar zu machen, ist Spir nicht gelungen. Da nach IV, 51 Gott außerhalb
der Welt ist, so müßte er auch außerhalb des Menschen sein, der ja zur Welt
gehört; dann aber sind wieder wir selbst Gott. Von Aristoteles, heißt es
IV, 78, "wurde die Ansicht ausgesprochen, daß Gott der selbst unbewegte Be¬
weger sei, der alles an sich zieht. So unhaltbar dies als eine Erklärung
Physikalischer Thatsachen ist, so zutreffend ist es in Hinsicht der moralischen
Thatsachen. In der That bewegt uns Gott, ohne zu wirken. durch sein bloßes
Dasein. Denn Gott ist unsre eigne höhere Natur. Das eigentlich bewegende
ist allerdings nicht Gott, sondern die innere UnHaltbarkeit unsers abnormen
empirischen Wesens, die uns über unsre Individualität hinaus drängt; aber die
Richtung der Bewegung ist durch Gott bestimmt" (IV, 78). Wenn wir selbst
Gott sind, so kann von einer Bewegung in der Richtung auf ihn nicht most
die Rede sein, sondern nur von der Abstreifnng des Ungöttlichen. Spir er¬
innert an Platos Eros; er Hütte noch an die Schlnßterzine der Göttlichen
Komödie erinnern können:


Weltorklärungsversuche

raten; einen Plan herauszufinden, der den Weltschöpfer rechtfertigte, ist un¬
möglich. „Nichts kann trauriger und entsetzlicher sein als die Geschichte der
Menschheit." Auch geht es nicht an, sich damit herauszureden, daß Gott un-
erforschlich und seine Wege unergründlich seien. Ich darf wohl zugestehen,
daß ich das Übel in der Welt nicht zu erklären vermag, denn das Übel ist
eine Thatsache, aber ich darf nicht sagen: wie die Weisheit und Güte des
Weltschöpfers mit dem Übel zu vereinbaren sei, ist unerklärlich, denn daß der
Weltschöpfer die Weisheit und Güte, oder daß die ewige Güte der Weltschöpfer
sei, das ist keine Thatsache, sondern eine willkürliche Annahme. (Diese Sätze
finden sich an so vielen Stellen zerstreut, daß es nicht möglich ist, sie alle an¬
zugeben.) Nicht der Entstehungsgrund der Welt ist das Unbedingte, sondern
die Norm sür das menschliche Denken, Wollen und Handeln (I. 414); Gott
ist das Gute. Die zwei Artikel von Spirs Religion lauten: „1. Es giebt
einen Gott, ein höchstes, vollkommnes Wesen, an dem auch wir Teil haben,
mit dem wir innerlich verwandt sind. Gott ist das wahrhaft eigne, das nor¬
male Wesen der Dinge, dem die Vielheit und die Individualität der empi¬
rischen Objekte und deren Physische Beschaffenheit fremd ist. 2. Wer das Gute
um des Guten willen, d. h. aus reiner Hingebung an Gott als das Ideal,
als die normale Natur der Dinge thut, der nähert sich Gott und arbeitet für
die Ewigkeit. Was über diese zwei Artikel hinausgeht, ist vom Übel" (IV, 200).
Weil das Individuelle der Natur angehört, Gott also kein Einzelwesen sein
kann, so kann er auch kein Bewußtsein haben, denn eben das Bewußtsein
scheidet die Individuen von einander. Das Verhältnis des Menschen zu Gott
klar zu machen, ist Spir nicht gelungen. Da nach IV, 51 Gott außerhalb
der Welt ist, so müßte er auch außerhalb des Menschen sein, der ja zur Welt
gehört; dann aber sind wieder wir selbst Gott. Von Aristoteles, heißt es
IV, 78, „wurde die Ansicht ausgesprochen, daß Gott der selbst unbewegte Be¬
weger sei, der alles an sich zieht. So unhaltbar dies als eine Erklärung
Physikalischer Thatsachen ist, so zutreffend ist es in Hinsicht der moralischen
Thatsachen. In der That bewegt uns Gott, ohne zu wirken. durch sein bloßes
Dasein. Denn Gott ist unsre eigne höhere Natur. Das eigentlich bewegende
ist allerdings nicht Gott, sondern die innere UnHaltbarkeit unsers abnormen
empirischen Wesens, die uns über unsre Individualität hinaus drängt; aber die
Richtung der Bewegung ist durch Gott bestimmt" (IV, 78). Wenn wir selbst
Gott sind, so kann von einer Bewegung in der Richtung auf ihn nicht most
die Rede sein, sondern nur von der Abstreifnng des Ungöttlichen. Spir er¬
innert an Platos Eros; er Hütte noch an die Schlnßterzine der Göttlichen
Komödie erinnern können:


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[0219] Weltorklärungsversuche raten; einen Plan herauszufinden, der den Weltschöpfer rechtfertigte, ist un¬ möglich. „Nichts kann trauriger und entsetzlicher sein als die Geschichte der Menschheit." Auch geht es nicht an, sich damit herauszureden, daß Gott un- erforschlich und seine Wege unergründlich seien. Ich darf wohl zugestehen, daß ich das Übel in der Welt nicht zu erklären vermag, denn das Übel ist eine Thatsache, aber ich darf nicht sagen: wie die Weisheit und Güte des Weltschöpfers mit dem Übel zu vereinbaren sei, ist unerklärlich, denn daß der Weltschöpfer die Weisheit und Güte, oder daß die ewige Güte der Weltschöpfer sei, das ist keine Thatsache, sondern eine willkürliche Annahme. (Diese Sätze finden sich an so vielen Stellen zerstreut, daß es nicht möglich ist, sie alle an¬ zugeben.) Nicht der Entstehungsgrund der Welt ist das Unbedingte, sondern die Norm sür das menschliche Denken, Wollen und Handeln (I. 414); Gott ist das Gute. Die zwei Artikel von Spirs Religion lauten: „1. Es giebt einen Gott, ein höchstes, vollkommnes Wesen, an dem auch wir Teil haben, mit dem wir innerlich verwandt sind. Gott ist das wahrhaft eigne, das nor¬ male Wesen der Dinge, dem die Vielheit und die Individualität der empi¬ rischen Objekte und deren Physische Beschaffenheit fremd ist. 2. Wer das Gute um des Guten willen, d. h. aus reiner Hingebung an Gott als das Ideal, als die normale Natur der Dinge thut, der nähert sich Gott und arbeitet für die Ewigkeit. Was über diese zwei Artikel hinausgeht, ist vom Übel" (IV, 200). Weil das Individuelle der Natur angehört, Gott also kein Einzelwesen sein kann, so kann er auch kein Bewußtsein haben, denn eben das Bewußtsein scheidet die Individuen von einander. Das Verhältnis des Menschen zu Gott klar zu machen, ist Spir nicht gelungen. Da nach IV, 51 Gott außerhalb der Welt ist, so müßte er auch außerhalb des Menschen sein, der ja zur Welt gehört; dann aber sind wieder wir selbst Gott. Von Aristoteles, heißt es IV, 78, „wurde die Ansicht ausgesprochen, daß Gott der selbst unbewegte Be¬ weger sei, der alles an sich zieht. So unhaltbar dies als eine Erklärung Physikalischer Thatsachen ist, so zutreffend ist es in Hinsicht der moralischen Thatsachen. In der That bewegt uns Gott, ohne zu wirken. durch sein bloßes Dasein. Denn Gott ist unsre eigne höhere Natur. Das eigentlich bewegende ist allerdings nicht Gott, sondern die innere UnHaltbarkeit unsers abnormen empirischen Wesens, die uns über unsre Individualität hinaus drängt; aber die Richtung der Bewegung ist durch Gott bestimmt" (IV, 78). Wenn wir selbst Gott sind, so kann von einer Bewegung in der Richtung auf ihn nicht most die Rede sein, sondern nur von der Abstreifnng des Ungöttlichen. Spir er¬ innert an Platos Eros; er Hütte noch an die Schlnßterzine der Göttlichen Komödie erinnern können:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/219>, abgerufen am 25.11.2024.