Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Welterklärungsversuche

Leugnung. Denn diese verletzt nicht auf gleiche Weise unsern moralischen und
religiösen Sinn. Sehr löblich ist darum das Bestreben der christlichen Dog-
matik, die abnorme Beschaffenheit der Welt aus einem Sündenfall abzuleiten,
wiewohl die Annahme eines Sündenfalls selbst ganz unhaltbar ist. Das Ab¬
norme ist eben keiner Erklärung fähig" (IV, 77). "Die wahre Religion, heißt
es III, 144, setzt als ihre theoretische Grundlage Marine Menschheit!^ die kritische
Philosophie voraus, die von dem Begriff des eignen unbedingten Wesens der
Dinge, als dem obersten Denkgesetz ausgeht. Wie für das religiöse und
moralische Gefühl Gott nicht der Grund oder die Ursache des Ungöttlichcn
und Verwerflichen, des Übels und des Bösen in der Welt sein kann, so kann
auch für die kritische Philosophie das normale Wesen der Dinge, das "Ding
an sich," nicht der Grund oder die Ursache der Elemente der Natur sein, die
ihm fremd sind, also eine Abnormität darstellen. Aber außer dem Wesen der
Dinge giebt es selbstverständlich nichts wirkliches, was den Grund dieser
Elemente enthalten könnte. Diese haben also gar keinen Grund; ihr Vor¬
handensein ist schlechthin unbegreiflich und unerklärlich." Wäre das Unbe¬
dingte der Weltschöpfer, so würde auch das Böse in ihm wurzeln, und es
gäbe keinen Unterschied zwischen Gut und Böse (III, 116 bis 117). Der
Irrtum der Religionsstifter ist daraus entstanden, daß sie meinten, das Un¬
bedingte mit allen in der Welt vorkommenden Vollkommenheiten ausstatten,
ihm also auch die Macht im höchsten Grade verleihen zu müssen; so haben
sie ihm alle menschlichen Eigenschaften beigelegt und den Menschen das Eben¬
bild Gottes genannt. Folgerichtig müßten sie Gott auch (wie es ja übrigens
wirklich in einigen Religionen geschehen ist) mit Hörnern und Schweif aus¬
statten, weil die zur Vollkommenheit des Rindes gehören, das doch auch ein
Teil der Welt ist. Nicht ähnlich ist der Mensch Gott, sondern verwandt; das
eine fordert durchaus nicht notwendig das andre. Indem der Mensch die
Natur als das Nichtseinsollende erkennt, offenbart sich in ihm sein wahres
Wesen; dieses sein wahres, höheres Wesen, das als das Moralische in ihm
das Physische verurteilt, ist eben das Göttliche, ist Gott selbst, und daher kann
Gott nicht physische Eigenschaften haben wie die Macht. Die bestehenden Re¬
ligionen Pflegen allesamt den Kultus der Macht statt den Kultus des Guten,
und das Ideal ihrer Religiosität ist das Schaf. Daß sogar die höhere Natur
des Menschen mit sich selbst in Widerspruch, die Religion mit der Wissenschaft
in Streit geraten ist, muß man als das allergrößte Unglück beklagen. Man
hat bis jetzt immer nur die Grausamkeit der Unduldsamkeit gebrandmarkt, aber
ihre ungeheuerliche Unsittlichkeit nicht beachtet, die darin besteht, daß sie den
Wahrheitssinn vernichtet, indem sie die edelsten Geister hindert, ihrem Forschungs¬
triebe zu folgen und das Gefundne aufrichtig auszusprechen. Solange man
Gott für den Allmächtigen und für den Schöpfer hält, ist es unmöglich, ihn
als den Guten und Heiligen anzuerkennen; alle Theodiceen sind kläglich alß-


Welterklärungsversuche

Leugnung. Denn diese verletzt nicht auf gleiche Weise unsern moralischen und
religiösen Sinn. Sehr löblich ist darum das Bestreben der christlichen Dog-
matik, die abnorme Beschaffenheit der Welt aus einem Sündenfall abzuleiten,
wiewohl die Annahme eines Sündenfalls selbst ganz unhaltbar ist. Das Ab¬
norme ist eben keiner Erklärung fähig" (IV, 77). „Die wahre Religion, heißt
es III, 144, setzt als ihre theoretische Grundlage Marine Menschheit!^ die kritische
Philosophie voraus, die von dem Begriff des eignen unbedingten Wesens der
Dinge, als dem obersten Denkgesetz ausgeht. Wie für das religiöse und
moralische Gefühl Gott nicht der Grund oder die Ursache des Ungöttlichcn
und Verwerflichen, des Übels und des Bösen in der Welt sein kann, so kann
auch für die kritische Philosophie das normale Wesen der Dinge, das »Ding
an sich,« nicht der Grund oder die Ursache der Elemente der Natur sein, die
ihm fremd sind, also eine Abnormität darstellen. Aber außer dem Wesen der
Dinge giebt es selbstverständlich nichts wirkliches, was den Grund dieser
Elemente enthalten könnte. Diese haben also gar keinen Grund; ihr Vor¬
handensein ist schlechthin unbegreiflich und unerklärlich." Wäre das Unbe¬
dingte der Weltschöpfer, so würde auch das Böse in ihm wurzeln, und es
gäbe keinen Unterschied zwischen Gut und Böse (III, 116 bis 117). Der
Irrtum der Religionsstifter ist daraus entstanden, daß sie meinten, das Un¬
bedingte mit allen in der Welt vorkommenden Vollkommenheiten ausstatten,
ihm also auch die Macht im höchsten Grade verleihen zu müssen; so haben
sie ihm alle menschlichen Eigenschaften beigelegt und den Menschen das Eben¬
bild Gottes genannt. Folgerichtig müßten sie Gott auch (wie es ja übrigens
wirklich in einigen Religionen geschehen ist) mit Hörnern und Schweif aus¬
statten, weil die zur Vollkommenheit des Rindes gehören, das doch auch ein
Teil der Welt ist. Nicht ähnlich ist der Mensch Gott, sondern verwandt; das
eine fordert durchaus nicht notwendig das andre. Indem der Mensch die
Natur als das Nichtseinsollende erkennt, offenbart sich in ihm sein wahres
Wesen; dieses sein wahres, höheres Wesen, das als das Moralische in ihm
das Physische verurteilt, ist eben das Göttliche, ist Gott selbst, und daher kann
Gott nicht physische Eigenschaften haben wie die Macht. Die bestehenden Re¬
ligionen Pflegen allesamt den Kultus der Macht statt den Kultus des Guten,
und das Ideal ihrer Religiosität ist das Schaf. Daß sogar die höhere Natur
des Menschen mit sich selbst in Widerspruch, die Religion mit der Wissenschaft
in Streit geraten ist, muß man als das allergrößte Unglück beklagen. Man
hat bis jetzt immer nur die Grausamkeit der Unduldsamkeit gebrandmarkt, aber
ihre ungeheuerliche Unsittlichkeit nicht beachtet, die darin besteht, daß sie den
Wahrheitssinn vernichtet, indem sie die edelsten Geister hindert, ihrem Forschungs¬
triebe zu folgen und das Gefundne aufrichtig auszusprechen. Solange man
Gott für den Allmächtigen und für den Schöpfer hält, ist es unmöglich, ihn
als den Guten und Heiligen anzuerkennen; alle Theodiceen sind kläglich alß-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0218" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223160"/>
          <fw type="header" place="top"> Welterklärungsversuche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_656" prev="#ID_655" next="#ID_657"> Leugnung. Denn diese verletzt nicht auf gleiche Weise unsern moralischen und<lb/>
religiösen Sinn. Sehr löblich ist darum das Bestreben der christlichen Dog-<lb/>
matik, die abnorme Beschaffenheit der Welt aus einem Sündenfall abzuleiten,<lb/>
wiewohl die Annahme eines Sündenfalls selbst ganz unhaltbar ist. Das Ab¬<lb/>
norme ist eben keiner Erklärung fähig" (IV, 77). &#x201E;Die wahre Religion, heißt<lb/>
es III, 144, setzt als ihre theoretische Grundlage Marine Menschheit!^ die kritische<lb/>
Philosophie voraus, die von dem Begriff des eignen unbedingten Wesens der<lb/>
Dinge, als dem obersten Denkgesetz ausgeht. Wie für das religiöse und<lb/>
moralische Gefühl Gott nicht der Grund oder die Ursache des Ungöttlichcn<lb/>
und Verwerflichen, des Übels und des Bösen in der Welt sein kann, so kann<lb/>
auch für die kritische Philosophie das normale Wesen der Dinge, das »Ding<lb/>
an sich,« nicht der Grund oder die Ursache der Elemente der Natur sein, die<lb/>
ihm fremd sind, also eine Abnormität darstellen. Aber außer dem Wesen der<lb/>
Dinge giebt es selbstverständlich nichts wirkliches, was den Grund dieser<lb/>
Elemente enthalten könnte. Diese haben also gar keinen Grund; ihr Vor¬<lb/>
handensein ist schlechthin unbegreiflich und unerklärlich." Wäre das Unbe¬<lb/>
dingte der Weltschöpfer, so würde auch das Böse in ihm wurzeln, und es<lb/>
gäbe keinen Unterschied zwischen Gut und Böse (III, 116 bis 117). Der<lb/>
Irrtum der Religionsstifter ist daraus entstanden, daß sie meinten, das Un¬<lb/>
bedingte mit allen in der Welt vorkommenden Vollkommenheiten ausstatten,<lb/>
ihm also auch die Macht im höchsten Grade verleihen zu müssen; so haben<lb/>
sie ihm alle menschlichen Eigenschaften beigelegt und den Menschen das Eben¬<lb/>
bild Gottes genannt. Folgerichtig müßten sie Gott auch (wie es ja übrigens<lb/>
wirklich in einigen Religionen geschehen ist) mit Hörnern und Schweif aus¬<lb/>
statten, weil die zur Vollkommenheit des Rindes gehören, das doch auch ein<lb/>
Teil der Welt ist. Nicht ähnlich ist der Mensch Gott, sondern verwandt; das<lb/>
eine fordert durchaus nicht notwendig das andre. Indem der Mensch die<lb/>
Natur als das Nichtseinsollende erkennt, offenbart sich in ihm sein wahres<lb/>
Wesen; dieses sein wahres, höheres Wesen, das als das Moralische in ihm<lb/>
das Physische verurteilt, ist eben das Göttliche, ist Gott selbst, und daher kann<lb/>
Gott nicht physische Eigenschaften haben wie die Macht. Die bestehenden Re¬<lb/>
ligionen Pflegen allesamt den Kultus der Macht statt den Kultus des Guten,<lb/>
und das Ideal ihrer Religiosität ist das Schaf. Daß sogar die höhere Natur<lb/>
des Menschen mit sich selbst in Widerspruch, die Religion mit der Wissenschaft<lb/>
in Streit geraten ist, muß man als das allergrößte Unglück beklagen. Man<lb/>
hat bis jetzt immer nur die Grausamkeit der Unduldsamkeit gebrandmarkt, aber<lb/>
ihre ungeheuerliche Unsittlichkeit nicht beachtet, die darin besteht, daß sie den<lb/>
Wahrheitssinn vernichtet, indem sie die edelsten Geister hindert, ihrem Forschungs¬<lb/>
triebe zu folgen und das Gefundne aufrichtig auszusprechen. Solange man<lb/>
Gott für den Allmächtigen und für den Schöpfer hält, ist es unmöglich, ihn<lb/>
als den Guten und Heiligen anzuerkennen; alle Theodiceen sind kläglich alß-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0218] Welterklärungsversuche Leugnung. Denn diese verletzt nicht auf gleiche Weise unsern moralischen und religiösen Sinn. Sehr löblich ist darum das Bestreben der christlichen Dog- matik, die abnorme Beschaffenheit der Welt aus einem Sündenfall abzuleiten, wiewohl die Annahme eines Sündenfalls selbst ganz unhaltbar ist. Das Ab¬ norme ist eben keiner Erklärung fähig" (IV, 77). „Die wahre Religion, heißt es III, 144, setzt als ihre theoretische Grundlage Marine Menschheit!^ die kritische Philosophie voraus, die von dem Begriff des eignen unbedingten Wesens der Dinge, als dem obersten Denkgesetz ausgeht. Wie für das religiöse und moralische Gefühl Gott nicht der Grund oder die Ursache des Ungöttlichcn und Verwerflichen, des Übels und des Bösen in der Welt sein kann, so kann auch für die kritische Philosophie das normale Wesen der Dinge, das »Ding an sich,« nicht der Grund oder die Ursache der Elemente der Natur sein, die ihm fremd sind, also eine Abnormität darstellen. Aber außer dem Wesen der Dinge giebt es selbstverständlich nichts wirkliches, was den Grund dieser Elemente enthalten könnte. Diese haben also gar keinen Grund; ihr Vor¬ handensein ist schlechthin unbegreiflich und unerklärlich." Wäre das Unbe¬ dingte der Weltschöpfer, so würde auch das Böse in ihm wurzeln, und es gäbe keinen Unterschied zwischen Gut und Böse (III, 116 bis 117). Der Irrtum der Religionsstifter ist daraus entstanden, daß sie meinten, das Un¬ bedingte mit allen in der Welt vorkommenden Vollkommenheiten ausstatten, ihm also auch die Macht im höchsten Grade verleihen zu müssen; so haben sie ihm alle menschlichen Eigenschaften beigelegt und den Menschen das Eben¬ bild Gottes genannt. Folgerichtig müßten sie Gott auch (wie es ja übrigens wirklich in einigen Religionen geschehen ist) mit Hörnern und Schweif aus¬ statten, weil die zur Vollkommenheit des Rindes gehören, das doch auch ein Teil der Welt ist. Nicht ähnlich ist der Mensch Gott, sondern verwandt; das eine fordert durchaus nicht notwendig das andre. Indem der Mensch die Natur als das Nichtseinsollende erkennt, offenbart sich in ihm sein wahres Wesen; dieses sein wahres, höheres Wesen, das als das Moralische in ihm das Physische verurteilt, ist eben das Göttliche, ist Gott selbst, und daher kann Gott nicht physische Eigenschaften haben wie die Macht. Die bestehenden Re¬ ligionen Pflegen allesamt den Kultus der Macht statt den Kultus des Guten, und das Ideal ihrer Religiosität ist das Schaf. Daß sogar die höhere Natur des Menschen mit sich selbst in Widerspruch, die Religion mit der Wissenschaft in Streit geraten ist, muß man als das allergrößte Unglück beklagen. Man hat bis jetzt immer nur die Grausamkeit der Unduldsamkeit gebrandmarkt, aber ihre ungeheuerliche Unsittlichkeit nicht beachtet, die darin besteht, daß sie den Wahrheitssinn vernichtet, indem sie die edelsten Geister hindert, ihrem Forschungs¬ triebe zu folgen und das Gefundne aufrichtig auszusprechen. Solange man Gott für den Allmächtigen und für den Schöpfer hält, ist es unmöglich, ihn als den Guten und Heiligen anzuerkennen; alle Theodiceen sind kläglich alß-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/218
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/218>, abgerufen am 01.09.2024.