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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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durch mechanische Veränderungen zustande käme, könnte von Moralität und
Rechtsordnung keine Rede sein, denn der Prüfstein des Moralischen ist eben der
Widerstand der vernünftigen Wesen gegen die mechanischen Mächte (IV, 44ff.).

Was Kant das Ding an sich genannt hat, das ist nichts andres als die
Substanz. Die Körperwelt, d. h. die Gesamtheit unsrer Wahrnehmungen, die
wir irrtümlich für eine außer uns vorhandne Körperwelt halten, nennen die
Philosophen Erscheinung; aber nicht, weil in ihnen die Substanz erschiene,
sondern weil die Körper uns erscheinen, ist diese Bezeichnung berechtigt. Wohl
erscheint das allein Seiende in der schlechten Wirklichkeit, aber nicht so, wie
es an sich ist, und das ist so gut, wie wenn es gar nicht erschiene (I, 336--337).
Auch unser Ich, das wir infolge der großen, die Erfahrungswelt beherrschenden
Täuschung ebenfalls für etwas wahrhaft Seiendes, für eine Substanz halten,
ist keine (II, 204--206). Wie sich die Körper in lauter Beziehungen auf¬
lösen, sodaß bei ihrer wissenschaftlichen Zergliederung von ihnen nichts übrig
bleibt, so ist auch unser Ich ein Zusammenfluß von Einwirkungen der Außen¬
welt. (II, 206--208. Daß es zuerst keine Außenwelt und dann kein wirk¬
liches Ich geben soll, daß einmal die Außenwelt das Erzeugnis des Ich und
dann wieder das Ich das Erzeugnis der Außenwelt sein soll, ist ein Wider¬
spruch, den wir bloß anmerken, ohne dabei zu verweilen.) Das Ich ist ein
bloßes Geschehen, ein Prozeß (I, 291 und III, 135). "Vergeblich suche ich
nach dem geringsten konkreten Inhalt, von dem ich sagen könnte: das bin
ich, nichts derartiges ist vorhanden. Ich kann allerdings Lust und Unlust
empfinden und scheine somit etwas reales zu sein. Aber Lust und Unlust
bilden nicht mein Ich, denn es giebt Zeiten, wo ich weder Lust noch Unlust
fühle und dennoch existire. Einen konkreten Inhalt finde ich bloß in Farben,
Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, kurz, bloß in dem, was nicht mir, sondern der
Außenwelt angehört. Wäre dieser mir fremde Inhalt ganz abwesend und auch
die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis entfernt, fo würde ich mich in
völlige Leere auflösen, in nichts verschwinden. Es ist also klar, daß ich über¬
haupt kein realer Gegenstand, sondern eine bloße Form, eine Art Phantom bin.
Wohl sind meine innern Zustände: Gefühle, Wünsche, Gedanken, etwas reales :
aber ich selbst, die einheitliche und beharrliche Persönlichkeit, die diese Zustände
besitzen soll, ich existire nur durch eine Vorstellung, die jeden Augenblick neu
erzeugt wird. Mein Wesen und Leben ist gleichsam ein Strom verschieden¬
artiger Erscheinungen und Zustände, der durch eine naturnotwendige Täuschung
sich selbst als ein einfacher, konkreter, zu allen Zeiten sich gleich bleibender
Gegenstand erscheint" (IV, 181--182). Ein lebendes Wesen -- heißt es ein
paar Seiten weiter -- "hat nichts ihm wahrhaft eignes, als seine Gefühle von
Lust und Unlust, oder vielmehr es besteht aus ihnen." Was die Vorstellungen
betrifft, so haben die ja keinen eignen Inhalt; fehlten die Gefühle, so würden
die mit Intelligenz begabten Wesen nichts sein, als tote Spiegel von einem Stück


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durch mechanische Veränderungen zustande käme, könnte von Moralität und
Rechtsordnung keine Rede sein, denn der Prüfstein des Moralischen ist eben der
Widerstand der vernünftigen Wesen gegen die mechanischen Mächte (IV, 44ff.).

Was Kant das Ding an sich genannt hat, das ist nichts andres als die
Substanz. Die Körperwelt, d. h. die Gesamtheit unsrer Wahrnehmungen, die
wir irrtümlich für eine außer uns vorhandne Körperwelt halten, nennen die
Philosophen Erscheinung; aber nicht, weil in ihnen die Substanz erschiene,
sondern weil die Körper uns erscheinen, ist diese Bezeichnung berechtigt. Wohl
erscheint das allein Seiende in der schlechten Wirklichkeit, aber nicht so, wie
es an sich ist, und das ist so gut, wie wenn es gar nicht erschiene (I, 336—337).
Auch unser Ich, das wir infolge der großen, die Erfahrungswelt beherrschenden
Täuschung ebenfalls für etwas wahrhaft Seiendes, für eine Substanz halten,
ist keine (II, 204—206). Wie sich die Körper in lauter Beziehungen auf¬
lösen, sodaß bei ihrer wissenschaftlichen Zergliederung von ihnen nichts übrig
bleibt, so ist auch unser Ich ein Zusammenfluß von Einwirkungen der Außen¬
welt. (II, 206—208. Daß es zuerst keine Außenwelt und dann kein wirk¬
liches Ich geben soll, daß einmal die Außenwelt das Erzeugnis des Ich und
dann wieder das Ich das Erzeugnis der Außenwelt sein soll, ist ein Wider¬
spruch, den wir bloß anmerken, ohne dabei zu verweilen.) Das Ich ist ein
bloßes Geschehen, ein Prozeß (I, 291 und III, 135). „Vergeblich suche ich
nach dem geringsten konkreten Inhalt, von dem ich sagen könnte: das bin
ich, nichts derartiges ist vorhanden. Ich kann allerdings Lust und Unlust
empfinden und scheine somit etwas reales zu sein. Aber Lust und Unlust
bilden nicht mein Ich, denn es giebt Zeiten, wo ich weder Lust noch Unlust
fühle und dennoch existire. Einen konkreten Inhalt finde ich bloß in Farben,
Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, kurz, bloß in dem, was nicht mir, sondern der
Außenwelt angehört. Wäre dieser mir fremde Inhalt ganz abwesend und auch
die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis entfernt, fo würde ich mich in
völlige Leere auflösen, in nichts verschwinden. Es ist also klar, daß ich über¬
haupt kein realer Gegenstand, sondern eine bloße Form, eine Art Phantom bin.
Wohl sind meine innern Zustände: Gefühle, Wünsche, Gedanken, etwas reales :
aber ich selbst, die einheitliche und beharrliche Persönlichkeit, die diese Zustände
besitzen soll, ich existire nur durch eine Vorstellung, die jeden Augenblick neu
erzeugt wird. Mein Wesen und Leben ist gleichsam ein Strom verschieden¬
artiger Erscheinungen und Zustände, der durch eine naturnotwendige Täuschung
sich selbst als ein einfacher, konkreter, zu allen Zeiten sich gleich bleibender
Gegenstand erscheint" (IV, 181—182). Ein lebendes Wesen — heißt es ein
paar Seiten weiter — „hat nichts ihm wahrhaft eignes, als seine Gefühle von
Lust und Unlust, oder vielmehr es besteht aus ihnen." Was die Vorstellungen
betrifft, so haben die ja keinen eignen Inhalt; fehlten die Gefühle, so würden
die mit Intelligenz begabten Wesen nichts sein, als tote Spiegel von einem Stück


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/216>, abgerufen am 01.09.2024.