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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Welterklärungsversuche

Kants, Herbarts, Schopenhauers zum Abschluß bringen und die Hauptergebnisse
in schlichtem, verständlichen Deutsch darbieten; ebenso befriedigen seine Unter¬
suchungen des Wesens der Moral, des Rechts und der Religion im einzelnen
in hohem Grade. Was wir aber entschieden ablehnen müssen, ist die Zu¬
sammenfassung aller dieser schätzbaren Einzelheiten in einer Zentralidee, deren
Verkündigung er bescheidnerweise das Hauptereignis des neunzehnten Jahr¬
hunderts nennt. Als Bescheidenheit bezeichnet er das selbst, denn nicht be¬
scheiden, meint er, sondern unbescheiden wäre es, aus Rücksicht auf den eignen
Ruf den Satz, daß 2 x 2 ------ 4 ist, für unwahr oder die Ergebnisse der Spirschen
Philosophie nicht für das Höchste zu erklären. Wir versuchen, hier einen Abriß
der Weltansicht Spirs zu geben, und knüpfen einige kritische Bemerkungen
daran.

Die Körperwelt ist nichts andres, als die Gesamtheit unsrer Wahr¬
nehmungen. Diese Wahrnehmungen sind wirklich; aber außer diesen Wahr¬
nehmungen ist nichts vorhanden. Wenn wir eine Körperwelt und einen Raum
außer uns annehmen, die Körper für Substanzen halten, so täuschen wir uns.
Dagegen ist die Zeit keineswegs, wie der durch die gewöhnliche Zusammen¬
stellung von Zeit und Raum irregeführte Kant angenommen hat, eine bloße
Form unsrer Anschauung, sondern die Veränderungen folgen wirklich auf ein¬
ander. Der Materialismus ist Unsinn. Unsre Vorstellungen können nicht
Gehirnprodukte sein, "denn erstens existiren die Körper, also auch das Gehirn,
gar nicht in der Wirklichkeit; und zweitens, wenn auch die Atome des Gehirns
wirklich existirten, so könnten sie doch durch ihr eignes physikalisches Wesen
keinen Einfluß aus unser inneres Leben haben, wie sie ja sowohl vor ihrem
Eintritt in den Leib als auch nach ihrem Austritt keinen haben" (II, 215).
"Ob die Reproduktion der Vorstellungen Antezedentien ^besser wäre: ent¬
sprechende, entweder verursachende oder begleitende Parallelvorgänge^ im Gehirn
hat oder nicht, ist uns gleichgiltig, da die Gesetze der Reproduktion in den
Vorstellungen selbst begründet sind. Diese Gesetze zu erforschen ist das einzige,
was wissenschaftliches Interesse hat, und dazu brauchen wir das Gehirn nicht
in Betracht zu ziehen. Nur pathologische Zustände des Intellekts müssen not¬
wendig im Zusammenhang mit den Zuständen des Gehirns studirt werden"
(II, 255). Daher ist auch die Entwicklungstheorie unhaltbar, soweit sie die
Entstehung des Menschen aus dem Wurme bloß durch mechanische Ver¬
änderungen, wie Anpassung u. dergl., behauptet. "Denn man häufe noch so
viele Millionen Jahre auf einander, so ist es doch von vornherein klar, daß
diese unmöglich etwas aus nichts haben machen können. Wenn nicht in dem
Schwamm oder Polyp selbst, so muß doch in dem Prinzip >in dem Wesens,
das Schwämme und Polypen geschaffen hat, von Anfang an etwas" dem Inhalt
des menschlichen Bewußtseins verwandtes gelegen haben (IV, 96). In einer
Welt, die, wie sich der Naturalismus oder Evolutionismus vorstellt, rein


Welterklärungsversuche

Kants, Herbarts, Schopenhauers zum Abschluß bringen und die Hauptergebnisse
in schlichtem, verständlichen Deutsch darbieten; ebenso befriedigen seine Unter¬
suchungen des Wesens der Moral, des Rechts und der Religion im einzelnen
in hohem Grade. Was wir aber entschieden ablehnen müssen, ist die Zu¬
sammenfassung aller dieser schätzbaren Einzelheiten in einer Zentralidee, deren
Verkündigung er bescheidnerweise das Hauptereignis des neunzehnten Jahr¬
hunderts nennt. Als Bescheidenheit bezeichnet er das selbst, denn nicht be¬
scheiden, meint er, sondern unbescheiden wäre es, aus Rücksicht auf den eignen
Ruf den Satz, daß 2 x 2 ------ 4 ist, für unwahr oder die Ergebnisse der Spirschen
Philosophie nicht für das Höchste zu erklären. Wir versuchen, hier einen Abriß
der Weltansicht Spirs zu geben, und knüpfen einige kritische Bemerkungen
daran.

Die Körperwelt ist nichts andres, als die Gesamtheit unsrer Wahr¬
nehmungen. Diese Wahrnehmungen sind wirklich; aber außer diesen Wahr¬
nehmungen ist nichts vorhanden. Wenn wir eine Körperwelt und einen Raum
außer uns annehmen, die Körper für Substanzen halten, so täuschen wir uns.
Dagegen ist die Zeit keineswegs, wie der durch die gewöhnliche Zusammen¬
stellung von Zeit und Raum irregeführte Kant angenommen hat, eine bloße
Form unsrer Anschauung, sondern die Veränderungen folgen wirklich auf ein¬
ander. Der Materialismus ist Unsinn. Unsre Vorstellungen können nicht
Gehirnprodukte sein, „denn erstens existiren die Körper, also auch das Gehirn,
gar nicht in der Wirklichkeit; und zweitens, wenn auch die Atome des Gehirns
wirklich existirten, so könnten sie doch durch ihr eignes physikalisches Wesen
keinen Einfluß aus unser inneres Leben haben, wie sie ja sowohl vor ihrem
Eintritt in den Leib als auch nach ihrem Austritt keinen haben" (II, 215).
„Ob die Reproduktion der Vorstellungen Antezedentien ^besser wäre: ent¬
sprechende, entweder verursachende oder begleitende Parallelvorgänge^ im Gehirn
hat oder nicht, ist uns gleichgiltig, da die Gesetze der Reproduktion in den
Vorstellungen selbst begründet sind. Diese Gesetze zu erforschen ist das einzige,
was wissenschaftliches Interesse hat, und dazu brauchen wir das Gehirn nicht
in Betracht zu ziehen. Nur pathologische Zustände des Intellekts müssen not¬
wendig im Zusammenhang mit den Zuständen des Gehirns studirt werden"
(II, 255). Daher ist auch die Entwicklungstheorie unhaltbar, soweit sie die
Entstehung des Menschen aus dem Wurme bloß durch mechanische Ver¬
änderungen, wie Anpassung u. dergl., behauptet. „Denn man häufe noch so
viele Millionen Jahre auf einander, so ist es doch von vornherein klar, daß
diese unmöglich etwas aus nichts haben machen können. Wenn nicht in dem
Schwamm oder Polyp selbst, so muß doch in dem Prinzip >in dem Wesens,
das Schwämme und Polypen geschaffen hat, von Anfang an etwas" dem Inhalt
des menschlichen Bewußtseins verwandtes gelegen haben (IV, 96). In einer
Welt, die, wie sich der Naturalismus oder Evolutionismus vorstellt, rein


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[0215] Welterklärungsversuche Kants, Herbarts, Schopenhauers zum Abschluß bringen und die Hauptergebnisse in schlichtem, verständlichen Deutsch darbieten; ebenso befriedigen seine Unter¬ suchungen des Wesens der Moral, des Rechts und der Religion im einzelnen in hohem Grade. Was wir aber entschieden ablehnen müssen, ist die Zu¬ sammenfassung aller dieser schätzbaren Einzelheiten in einer Zentralidee, deren Verkündigung er bescheidnerweise das Hauptereignis des neunzehnten Jahr¬ hunderts nennt. Als Bescheidenheit bezeichnet er das selbst, denn nicht be¬ scheiden, meint er, sondern unbescheiden wäre es, aus Rücksicht auf den eignen Ruf den Satz, daß 2 x 2 ------ 4 ist, für unwahr oder die Ergebnisse der Spirschen Philosophie nicht für das Höchste zu erklären. Wir versuchen, hier einen Abriß der Weltansicht Spirs zu geben, und knüpfen einige kritische Bemerkungen daran. Die Körperwelt ist nichts andres, als die Gesamtheit unsrer Wahr¬ nehmungen. Diese Wahrnehmungen sind wirklich; aber außer diesen Wahr¬ nehmungen ist nichts vorhanden. Wenn wir eine Körperwelt und einen Raum außer uns annehmen, die Körper für Substanzen halten, so täuschen wir uns. Dagegen ist die Zeit keineswegs, wie der durch die gewöhnliche Zusammen¬ stellung von Zeit und Raum irregeführte Kant angenommen hat, eine bloße Form unsrer Anschauung, sondern die Veränderungen folgen wirklich auf ein¬ ander. Der Materialismus ist Unsinn. Unsre Vorstellungen können nicht Gehirnprodukte sein, „denn erstens existiren die Körper, also auch das Gehirn, gar nicht in der Wirklichkeit; und zweitens, wenn auch die Atome des Gehirns wirklich existirten, so könnten sie doch durch ihr eignes physikalisches Wesen keinen Einfluß aus unser inneres Leben haben, wie sie ja sowohl vor ihrem Eintritt in den Leib als auch nach ihrem Austritt keinen haben" (II, 215). „Ob die Reproduktion der Vorstellungen Antezedentien ^besser wäre: ent¬ sprechende, entweder verursachende oder begleitende Parallelvorgänge^ im Gehirn hat oder nicht, ist uns gleichgiltig, da die Gesetze der Reproduktion in den Vorstellungen selbst begründet sind. Diese Gesetze zu erforschen ist das einzige, was wissenschaftliches Interesse hat, und dazu brauchen wir das Gehirn nicht in Betracht zu ziehen. Nur pathologische Zustände des Intellekts müssen not¬ wendig im Zusammenhang mit den Zuständen des Gehirns studirt werden" (II, 255). Daher ist auch die Entwicklungstheorie unhaltbar, soweit sie die Entstehung des Menschen aus dem Wurme bloß durch mechanische Ver¬ änderungen, wie Anpassung u. dergl., behauptet. „Denn man häufe noch so viele Millionen Jahre auf einander, so ist es doch von vornherein klar, daß diese unmöglich etwas aus nichts haben machen können. Wenn nicht in dem Schwamm oder Polyp selbst, so muß doch in dem Prinzip >in dem Wesens, das Schwämme und Polypen geschaffen hat, von Anfang an etwas" dem Inhalt des menschlichen Bewußtseins verwandtes gelegen haben (IV, 96). In einer Welt, die, wie sich der Naturalismus oder Evolutionismus vorstellt, rein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/215>, abgerufen am 01.09.2024.