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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Aur Litteraturgeschichte

dem Dichter, weil dieser die belebende Fülle der Poesie eben zum großen Teil
nicht aus seinen Quellen, sondern aus seinem eignen Dichterherzen nahm und
dazu die Kunst und Kraft besaß, ein einheitliches Ganzes von festen Gefüge
zu schaffen." Hier und überall kommt es dem Ausdruck wie der folgerichtigen
Darstellung Klees zu gute, daß er das Gesetz und die Thatsachen der innern
Entwicklung so fest vor Augen hat, daß er an keiner einzigen Stelle dem bloßen
Einschalten und Einflicken verfällt. Natürlich ist es ja kein Unglück, wenn in
Kluges Grundriß der alte Seume hinter Immermann, Platen und Heinrich
Heine kommt, mit der biedern Motivirung: "Eine nichts weniger als roman¬
tische Natur war auch I. G. Seume," oder wenn Hölderlin zur schwäbischen
Dichterschule gezählt wird, mit der c^Melo bönsvolsntmE "zwar außerhalb
dieses Kreises, aber doch mit seinen schwäbischen Landsleuten in einem ge¬
wissen Zusammenhange steht ein älterer Dichter" usw. Gewisse Literarhistoriker
nehmen sich eben nach einem treffenden Wort G. Noethes die kleine Freiheit,
den dritten punischen Krieg vor dem ersten zu erzählen. Aber Klee hat den
Vorzug, daß er sich diese und ähnliche Freiheiten nicht nimmt, sondern so in
den geistigen Voraussetzungen und Kräften jeder Periode lebt, daß die Er¬
scheinungen vor deu Augen gleichsam emporwachsen. Mustergiltig sind in
dieser Beziehung die 50 bis 56, wo die öde Zeit des dreißigjährigen
Krieges, die Gelehrtenpoesie, sowie die Vorboten der nationalen Poesie be¬
handelt werden, und wo das Urteil des Verfassers die innern Antriebe wie die
unterscheidenden Vorzüge der einzelnen Talente vollkommen heraushebt, ohne
in den modischen Unsinn nachträglicher Heiligsprechung des Lohensteinianismus
zu verfallen. Was Klees "Grundzüge" ferner auszeichnet, ist die klare und
feste Darstellung der neuern Litteratur uach dem Niedergang der Romantik.
Daß diese der Überproduktion und der ästhetischen Anarchie der Gegenwart
immer näher gerückte Dichter- und Schriftstellermasse wie jedem Literarhisto¬
riker besonders den Verfassern kurzer Übersichten schwer aufliegt, ist natürlich.
Jeder hilft sich da am Ende, wie er kann, nur ist nicht viel geholfen, wenn
man, wie es Kluge in seinem Z 65 thut (nachdem er glücklich die "Öster¬
reichischen Dichter," von Grillparzer bis zu Anzengruber und zur Ebner-Eschen-
bach von den andern abgeschieden hat), unterschiedslos einige fünfzig verstorbne
und lebende, ältere und jüngere Dichter als "andre Dichter der neuern Zeit"
nacheinander aufzählt, wobei nicht nur Annette von Droste-Hülshoff zwischen
Kinkel und Geibel, der noch im vorigen Jahrhundert geborne, lange vor 1830
aufgetretne Wilibald Alexis zwischen Wilhelm Jordan und Theodor Fontäne
Zu stehen kommt und der Veteran Karl von Holtei unter den "Dichtern der
Gegenwart" erscheint, sondern sich auch eine auffällige Bevorzugung bloßer
Modeberühmtheiten und Tagesnamen zeigt. Man vergleiche die kargen No¬
tizen, die Dichtern wie Otto Ludwig, Theodor Storm, Gottfried Keller, wie
Jeremias Gotthelf oder Wilhelm Raabe gegenüber Martin Greif, Otto Weddigen,


Aur Litteraturgeschichte

dem Dichter, weil dieser die belebende Fülle der Poesie eben zum großen Teil
nicht aus seinen Quellen, sondern aus seinem eignen Dichterherzen nahm und
dazu die Kunst und Kraft besaß, ein einheitliches Ganzes von festen Gefüge
zu schaffen." Hier und überall kommt es dem Ausdruck wie der folgerichtigen
Darstellung Klees zu gute, daß er das Gesetz und die Thatsachen der innern
Entwicklung so fest vor Augen hat, daß er an keiner einzigen Stelle dem bloßen
Einschalten und Einflicken verfällt. Natürlich ist es ja kein Unglück, wenn in
Kluges Grundriß der alte Seume hinter Immermann, Platen und Heinrich
Heine kommt, mit der biedern Motivirung: „Eine nichts weniger als roman¬
tische Natur war auch I. G. Seume," oder wenn Hölderlin zur schwäbischen
Dichterschule gezählt wird, mit der c^Melo bönsvolsntmE „zwar außerhalb
dieses Kreises, aber doch mit seinen schwäbischen Landsleuten in einem ge¬
wissen Zusammenhange steht ein älterer Dichter" usw. Gewisse Literarhistoriker
nehmen sich eben nach einem treffenden Wort G. Noethes die kleine Freiheit,
den dritten punischen Krieg vor dem ersten zu erzählen. Aber Klee hat den
Vorzug, daß er sich diese und ähnliche Freiheiten nicht nimmt, sondern so in
den geistigen Voraussetzungen und Kräften jeder Periode lebt, daß die Er¬
scheinungen vor deu Augen gleichsam emporwachsen. Mustergiltig sind in
dieser Beziehung die 50 bis 56, wo die öde Zeit des dreißigjährigen
Krieges, die Gelehrtenpoesie, sowie die Vorboten der nationalen Poesie be¬
handelt werden, und wo das Urteil des Verfassers die innern Antriebe wie die
unterscheidenden Vorzüge der einzelnen Talente vollkommen heraushebt, ohne
in den modischen Unsinn nachträglicher Heiligsprechung des Lohensteinianismus
zu verfallen. Was Klees „Grundzüge" ferner auszeichnet, ist die klare und
feste Darstellung der neuern Litteratur uach dem Niedergang der Romantik.
Daß diese der Überproduktion und der ästhetischen Anarchie der Gegenwart
immer näher gerückte Dichter- und Schriftstellermasse wie jedem Literarhisto¬
riker besonders den Verfassern kurzer Übersichten schwer aufliegt, ist natürlich.
Jeder hilft sich da am Ende, wie er kann, nur ist nicht viel geholfen, wenn
man, wie es Kluge in seinem Z 65 thut (nachdem er glücklich die „Öster¬
reichischen Dichter," von Grillparzer bis zu Anzengruber und zur Ebner-Eschen-
bach von den andern abgeschieden hat), unterschiedslos einige fünfzig verstorbne
und lebende, ältere und jüngere Dichter als „andre Dichter der neuern Zeit"
nacheinander aufzählt, wobei nicht nur Annette von Droste-Hülshoff zwischen
Kinkel und Geibel, der noch im vorigen Jahrhundert geborne, lange vor 1830
aufgetretne Wilibald Alexis zwischen Wilhelm Jordan und Theodor Fontäne
Zu stehen kommt und der Veteran Karl von Holtei unter den „Dichtern der
Gegenwart" erscheint, sondern sich auch eine auffällige Bevorzugung bloßer
Modeberühmtheiten und Tagesnamen zeigt. Man vergleiche die kargen No¬
tizen, die Dichtern wie Otto Ludwig, Theodor Storm, Gottfried Keller, wie
Jeremias Gotthelf oder Wilhelm Raabe gegenüber Martin Greif, Otto Weddigen,


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[0192] Aur Litteraturgeschichte dem Dichter, weil dieser die belebende Fülle der Poesie eben zum großen Teil nicht aus seinen Quellen, sondern aus seinem eignen Dichterherzen nahm und dazu die Kunst und Kraft besaß, ein einheitliches Ganzes von festen Gefüge zu schaffen." Hier und überall kommt es dem Ausdruck wie der folgerichtigen Darstellung Klees zu gute, daß er das Gesetz und die Thatsachen der innern Entwicklung so fest vor Augen hat, daß er an keiner einzigen Stelle dem bloßen Einschalten und Einflicken verfällt. Natürlich ist es ja kein Unglück, wenn in Kluges Grundriß der alte Seume hinter Immermann, Platen und Heinrich Heine kommt, mit der biedern Motivirung: „Eine nichts weniger als roman¬ tische Natur war auch I. G. Seume," oder wenn Hölderlin zur schwäbischen Dichterschule gezählt wird, mit der c^Melo bönsvolsntmE „zwar außerhalb dieses Kreises, aber doch mit seinen schwäbischen Landsleuten in einem ge¬ wissen Zusammenhange steht ein älterer Dichter" usw. Gewisse Literarhistoriker nehmen sich eben nach einem treffenden Wort G. Noethes die kleine Freiheit, den dritten punischen Krieg vor dem ersten zu erzählen. Aber Klee hat den Vorzug, daß er sich diese und ähnliche Freiheiten nicht nimmt, sondern so in den geistigen Voraussetzungen und Kräften jeder Periode lebt, daß die Er¬ scheinungen vor deu Augen gleichsam emporwachsen. Mustergiltig sind in dieser Beziehung die 50 bis 56, wo die öde Zeit des dreißigjährigen Krieges, die Gelehrtenpoesie, sowie die Vorboten der nationalen Poesie be¬ handelt werden, und wo das Urteil des Verfassers die innern Antriebe wie die unterscheidenden Vorzüge der einzelnen Talente vollkommen heraushebt, ohne in den modischen Unsinn nachträglicher Heiligsprechung des Lohensteinianismus zu verfallen. Was Klees „Grundzüge" ferner auszeichnet, ist die klare und feste Darstellung der neuern Litteratur uach dem Niedergang der Romantik. Daß diese der Überproduktion und der ästhetischen Anarchie der Gegenwart immer näher gerückte Dichter- und Schriftstellermasse wie jedem Literarhisto¬ riker besonders den Verfassern kurzer Übersichten schwer aufliegt, ist natürlich. Jeder hilft sich da am Ende, wie er kann, nur ist nicht viel geholfen, wenn man, wie es Kluge in seinem Z 65 thut (nachdem er glücklich die „Öster¬ reichischen Dichter," von Grillparzer bis zu Anzengruber und zur Ebner-Eschen- bach von den andern abgeschieden hat), unterschiedslos einige fünfzig verstorbne und lebende, ältere und jüngere Dichter als „andre Dichter der neuern Zeit" nacheinander aufzählt, wobei nicht nur Annette von Droste-Hülshoff zwischen Kinkel und Geibel, der noch im vorigen Jahrhundert geborne, lange vor 1830 aufgetretne Wilibald Alexis zwischen Wilhelm Jordan und Theodor Fontäne Zu stehen kommt und der Veteran Karl von Holtei unter den „Dichtern der Gegenwart" erscheint, sondern sich auch eine auffällige Bevorzugung bloßer Modeberühmtheiten und Tagesnamen zeigt. Man vergleiche die kargen No¬ tizen, die Dichtern wie Otto Ludwig, Theodor Storm, Gottfried Keller, wie Jeremias Gotthelf oder Wilhelm Raabe gegenüber Martin Greif, Otto Weddigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/192>, abgerufen am 23.11.2024.