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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zur Litteraturgeschichte

neue Behandlung des Stoffes tritt in einen gewissen Gegensatz zu der Mehr¬
zahl der vorhandnen Grundrisse und namentlich zu der weitverbreiteten, bereits
zu 27 Auflagen gediehenen übersichtlichen "Geschichte der Nationallitteratur"
von H. Kluge. Im Gegensatz zu dieser, in der die Anführung der einschlägigen
Litteratur und die Inhaltsangabe der einzelnen Werke einen breiten Raum
einnimmt, hat Klee sowohl auf die Aufzählung der benutzten und der für
jeden einzelnen Abschnitt vorhandnen Litteratur, als auf die breitern Inhalts¬
angaben epischer und dramatischer Werke verzichtet. Daß die Litterntur-
angaben vor dem Mitschleppen alter Irrtümer so wenig wie vor empfindlichen
Lücken schützen, zeigen gewisse Seiten bei Kluge, auf denen z. B. noch immer
der "Stolbergschc Kammersekretär" Schnabel der Verfasser der "Insel Felsen¬
burg" ist, und Christian Reuter, der Verfasser des "Schelmufsky," trotz der
Forschungen Zarnckes ganz fehlt; daß die Inhaltsangaben bisweilen Unbestimmt¬
heit des Urteils nicht hindern, zeigen bei Kluge Sätze wie der über die beiden
letzten Volksbücher des sechzehnten Jahrhunderts: "Wahrend das Buch von
Faust die Verkehrtheit des Wunderglaubens anschaulich macht, stellt das Buch
vom ewigen Juden den Fluch des Unglaubens dar." Von Mängeln dieser Art
sind, soviel wir gesehen haben, die Kleeschen "Grundzüge" vollständig frei, die
ganze Art des Verfassers duldet nichts halbes, schwankendes, er strebt in ein¬
fachster Weise nach der thatsächlichen Zuverlässigkeit wie nach der Bestimmtheit
des Ausdrucks. Man vergleiche, wie sich Kluge und Klee zur Nibelungenfrage
stellen. Bei Kluge heißt es: "Nach Lachmann und seiner Schule kann von
einem Dichter unsers Liedes nicht die Rede sein, höchstens von einem letzten
Ordner, der die einzelnen unabhängig von einander entstandnen Volkslieder
notdürftig zusammengefügt und zu dem uns vorliegenden Ganzen verbunden
hat. Nach Holtzmmm, Zarncke, Bartsch und ihren Anhängern ist das Epos
das Werk eines Dichters; dafür spricht, daß das Gedicht jene künstlerische
Einheit besitzt, wie sie nur der Geist eines wahren Dichters herzustellen vermag.
Auch Uhland nahm zwar nicht einen Dichter der Sage, wohl aber einen Dichter
des Liedes an." Die Scheidung Uhlands von Holtzmann, Zarncke usw. kann
hier sehr leicht die Vorstellung erwecken, daß die letztgenannten an einen
Dichter der Sage geglaubt hätten, was ihnen und natürlich auch Kluge
nicht eingefallen ist. Bei Klee heißt es: "Wieviel von allem Schönen
dem Dichter selbst, und wieviel davon der in Liedern bereits vorliegenden
Sagengestalt angehört, läßt sich freilich im einzelnen nicht nachweisen.
Daß aber ersterm nicht etwa nur der Rang eines geschickten Ordners,
sondern der eines großen Dichters zugestanden werden muß, läßt sich erkennen,
wenn man mit dem Nibelungenliede den Bericht der Thidrekssagc vergleicht,
der die wenig spätere niederdeutsche Überlieferung treu nach den Liedern dar¬
bietet: obwohl der sehr geschickt erzählende Sagaschreiber (z. B. über Sieg¬
frieds Kindheit) besser unterrichtet ist, bleibt er doch an Wirkung tief unter


Zur Litteraturgeschichte

neue Behandlung des Stoffes tritt in einen gewissen Gegensatz zu der Mehr¬
zahl der vorhandnen Grundrisse und namentlich zu der weitverbreiteten, bereits
zu 27 Auflagen gediehenen übersichtlichen „Geschichte der Nationallitteratur"
von H. Kluge. Im Gegensatz zu dieser, in der die Anführung der einschlägigen
Litteratur und die Inhaltsangabe der einzelnen Werke einen breiten Raum
einnimmt, hat Klee sowohl auf die Aufzählung der benutzten und der für
jeden einzelnen Abschnitt vorhandnen Litteratur, als auf die breitern Inhalts¬
angaben epischer und dramatischer Werke verzichtet. Daß die Litterntur-
angaben vor dem Mitschleppen alter Irrtümer so wenig wie vor empfindlichen
Lücken schützen, zeigen gewisse Seiten bei Kluge, auf denen z. B. noch immer
der „Stolbergschc Kammersekretär" Schnabel der Verfasser der „Insel Felsen¬
burg" ist, und Christian Reuter, der Verfasser des „Schelmufsky," trotz der
Forschungen Zarnckes ganz fehlt; daß die Inhaltsangaben bisweilen Unbestimmt¬
heit des Urteils nicht hindern, zeigen bei Kluge Sätze wie der über die beiden
letzten Volksbücher des sechzehnten Jahrhunderts: „Wahrend das Buch von
Faust die Verkehrtheit des Wunderglaubens anschaulich macht, stellt das Buch
vom ewigen Juden den Fluch des Unglaubens dar." Von Mängeln dieser Art
sind, soviel wir gesehen haben, die Kleeschen „Grundzüge" vollständig frei, die
ganze Art des Verfassers duldet nichts halbes, schwankendes, er strebt in ein¬
fachster Weise nach der thatsächlichen Zuverlässigkeit wie nach der Bestimmtheit
des Ausdrucks. Man vergleiche, wie sich Kluge und Klee zur Nibelungenfrage
stellen. Bei Kluge heißt es: „Nach Lachmann und seiner Schule kann von
einem Dichter unsers Liedes nicht die Rede sein, höchstens von einem letzten
Ordner, der die einzelnen unabhängig von einander entstandnen Volkslieder
notdürftig zusammengefügt und zu dem uns vorliegenden Ganzen verbunden
hat. Nach Holtzmmm, Zarncke, Bartsch und ihren Anhängern ist das Epos
das Werk eines Dichters; dafür spricht, daß das Gedicht jene künstlerische
Einheit besitzt, wie sie nur der Geist eines wahren Dichters herzustellen vermag.
Auch Uhland nahm zwar nicht einen Dichter der Sage, wohl aber einen Dichter
des Liedes an." Die Scheidung Uhlands von Holtzmann, Zarncke usw. kann
hier sehr leicht die Vorstellung erwecken, daß die letztgenannten an einen
Dichter der Sage geglaubt hätten, was ihnen und natürlich auch Kluge
nicht eingefallen ist. Bei Klee heißt es: „Wieviel von allem Schönen
dem Dichter selbst, und wieviel davon der in Liedern bereits vorliegenden
Sagengestalt angehört, läßt sich freilich im einzelnen nicht nachweisen.
Daß aber ersterm nicht etwa nur der Rang eines geschickten Ordners,
sondern der eines großen Dichters zugestanden werden muß, läßt sich erkennen,
wenn man mit dem Nibelungenliede den Bericht der Thidrekssagc vergleicht,
der die wenig spätere niederdeutsche Überlieferung treu nach den Liedern dar¬
bietet: obwohl der sehr geschickt erzählende Sagaschreiber (z. B. über Sieg¬
frieds Kindheit) besser unterrichtet ist, bleibt er doch an Wirkung tief unter


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[0191] Zur Litteraturgeschichte neue Behandlung des Stoffes tritt in einen gewissen Gegensatz zu der Mehr¬ zahl der vorhandnen Grundrisse und namentlich zu der weitverbreiteten, bereits zu 27 Auflagen gediehenen übersichtlichen „Geschichte der Nationallitteratur" von H. Kluge. Im Gegensatz zu dieser, in der die Anführung der einschlägigen Litteratur und die Inhaltsangabe der einzelnen Werke einen breiten Raum einnimmt, hat Klee sowohl auf die Aufzählung der benutzten und der für jeden einzelnen Abschnitt vorhandnen Litteratur, als auf die breitern Inhalts¬ angaben epischer und dramatischer Werke verzichtet. Daß die Litterntur- angaben vor dem Mitschleppen alter Irrtümer so wenig wie vor empfindlichen Lücken schützen, zeigen gewisse Seiten bei Kluge, auf denen z. B. noch immer der „Stolbergschc Kammersekretär" Schnabel der Verfasser der „Insel Felsen¬ burg" ist, und Christian Reuter, der Verfasser des „Schelmufsky," trotz der Forschungen Zarnckes ganz fehlt; daß die Inhaltsangaben bisweilen Unbestimmt¬ heit des Urteils nicht hindern, zeigen bei Kluge Sätze wie der über die beiden letzten Volksbücher des sechzehnten Jahrhunderts: „Wahrend das Buch von Faust die Verkehrtheit des Wunderglaubens anschaulich macht, stellt das Buch vom ewigen Juden den Fluch des Unglaubens dar." Von Mängeln dieser Art sind, soviel wir gesehen haben, die Kleeschen „Grundzüge" vollständig frei, die ganze Art des Verfassers duldet nichts halbes, schwankendes, er strebt in ein¬ fachster Weise nach der thatsächlichen Zuverlässigkeit wie nach der Bestimmtheit des Ausdrucks. Man vergleiche, wie sich Kluge und Klee zur Nibelungenfrage stellen. Bei Kluge heißt es: „Nach Lachmann und seiner Schule kann von einem Dichter unsers Liedes nicht die Rede sein, höchstens von einem letzten Ordner, der die einzelnen unabhängig von einander entstandnen Volkslieder notdürftig zusammengefügt und zu dem uns vorliegenden Ganzen verbunden hat. Nach Holtzmmm, Zarncke, Bartsch und ihren Anhängern ist das Epos das Werk eines Dichters; dafür spricht, daß das Gedicht jene künstlerische Einheit besitzt, wie sie nur der Geist eines wahren Dichters herzustellen vermag. Auch Uhland nahm zwar nicht einen Dichter der Sage, wohl aber einen Dichter des Liedes an." Die Scheidung Uhlands von Holtzmann, Zarncke usw. kann hier sehr leicht die Vorstellung erwecken, daß die letztgenannten an einen Dichter der Sage geglaubt hätten, was ihnen und natürlich auch Kluge nicht eingefallen ist. Bei Klee heißt es: „Wieviel von allem Schönen dem Dichter selbst, und wieviel davon der in Liedern bereits vorliegenden Sagengestalt angehört, läßt sich freilich im einzelnen nicht nachweisen. Daß aber ersterm nicht etwa nur der Rang eines geschickten Ordners, sondern der eines großen Dichters zugestanden werden muß, läßt sich erkennen, wenn man mit dem Nibelungenliede den Bericht der Thidrekssagc vergleicht, der die wenig spätere niederdeutsche Überlieferung treu nach den Liedern dar¬ bietet: obwohl der sehr geschickt erzählende Sagaschreiber (z. B. über Sieg¬ frieds Kindheit) besser unterrichtet ist, bleibt er doch an Wirkung tief unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/191>, abgerufen am 23.11.2024.