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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zur Litteraturgeschichte

Dichtung hätte, wäre in meinen Augen ein bedauernswerter, von der Schule
betrogner oder der Schule unwürdiger Tropf." Und weil es so ist, so liegt
allerdings Nutzen oder Nachteil des Litteraturunterrichts wesentlich in der
Hand des Lehrers, aber gleichgiltig ist es unter keinen Umständen, welches
Handbuch, welcher Grundriß oder Abriß der deutschen Litteraturgeschichte dem
Unterricht zu Grunde gelegt wird. Die besondre Schwierigkeit hängt hier mit
dem Widerspruch der Forderungen zusammen. Es ist leicht gesagt, daß es
das Beste und Zweckmäßigste sei, in einem Grundriß nur die großen und
bleibenden Gestalten und Schöpfungen der Litteratur aneinanderzureihen; die
Entwicklung ist eben nicht überall an die großen Namen gebunden, die Ver¬
treter der Übergänge dürfen nicht fehlen, und die rechte Auswahl bleibt eine
Frage der Einsicht, des Taktes und der umfassendsten Sachkenntnis. Knappste
Begrenzung ohne klaffende Lücken muß jeder für die Schule und für den un¬
mittelbaren Unterrichtszweck bestimmte Grundriß der deutscheu Litteraturgeschichte
zeigen.

Ein vortreffliches Buch, das warm empfohlen werden kann, sind die neuen
Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte von Professor Dr. Gott¬
hold Klee.") Nachdem wir das kleine, nur 180 Seiten zählende Buch mit
einer Reihe verbreiteter und gepriesener Handbücher und Grundrisse verglichen
haben, gestehen wir, daß wir nirgends die Bedingungen einer guten Übersicht
der deutschen Litteraturgeschichte sür den Schulzweck besser erfüllt, bei aller
strengen Sachlichkeit soviel geistvolle Schärfe und umfassende Belesenheit ver¬
einigt gefunden haben wie hier. In der Behandlung jeder Einzelheit, selbst
wo sie schlicht mit einigen Worten gegeben wird, verrät sich eine große und
mit Eindrücken reich gesättigte Litteraturanschauung, in der Auswahl und
Gruppirung der Dichter und Schriftsteller, durch die sich die Entwicklung voll¬
zogen hat, und an denen sie nachgewiesen wird, zeigt sich eine sichere Be¬
herrschung des weitschichtigen Stoffs und eine glückliche Hand. Der Verfasser
bleibt sich überall bewußt, daß die kurzen Sätze, in denen er den Gang der
Entwicklung darstellt und sein Urteil abgiebt, schwer ins Gewicht fallen, das;
sie keiner Zweideutigkeit oder Unklarheit Raum lassen dürfen, daß sie, je kürzer
sie sind, sich um so tiefer dem Gedächtnis der Schüler einprägen und für viele
die unbewußte Grundlage ihrer spätern, vermeintlich selbständigen Urteile bilden
werden. Das Gefühl der Verantwortlichkeit des Lehrers verbindet sich in
diesen "Grundzügen" mit der klaren Bestimmtheit des wissenschaftlichen Literar¬
historikers, bis auf die Paragraphen, die die jüngste Litteratur behandeln, er¬
scheint das Ganze gleichmäßig brauchbar und unmittelbar eindringlich. Die



*) Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte. Für höhere Schulen und zum
Selbstunterricht. Von Professor I)r. Gotthold Klee, Oberlehrer am Gymnasium zu Bnutzen.
Dresden, Georg Bondi, 1805.
Zur Litteraturgeschichte

Dichtung hätte, wäre in meinen Augen ein bedauernswerter, von der Schule
betrogner oder der Schule unwürdiger Tropf." Und weil es so ist, so liegt
allerdings Nutzen oder Nachteil des Litteraturunterrichts wesentlich in der
Hand des Lehrers, aber gleichgiltig ist es unter keinen Umständen, welches
Handbuch, welcher Grundriß oder Abriß der deutschen Litteraturgeschichte dem
Unterricht zu Grunde gelegt wird. Die besondre Schwierigkeit hängt hier mit
dem Widerspruch der Forderungen zusammen. Es ist leicht gesagt, daß es
das Beste und Zweckmäßigste sei, in einem Grundriß nur die großen und
bleibenden Gestalten und Schöpfungen der Litteratur aneinanderzureihen; die
Entwicklung ist eben nicht überall an die großen Namen gebunden, die Ver¬
treter der Übergänge dürfen nicht fehlen, und die rechte Auswahl bleibt eine
Frage der Einsicht, des Taktes und der umfassendsten Sachkenntnis. Knappste
Begrenzung ohne klaffende Lücken muß jeder für die Schule und für den un¬
mittelbaren Unterrichtszweck bestimmte Grundriß der deutscheu Litteraturgeschichte
zeigen.

Ein vortreffliches Buch, das warm empfohlen werden kann, sind die neuen
Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte von Professor Dr. Gott¬
hold Klee.") Nachdem wir das kleine, nur 180 Seiten zählende Buch mit
einer Reihe verbreiteter und gepriesener Handbücher und Grundrisse verglichen
haben, gestehen wir, daß wir nirgends die Bedingungen einer guten Übersicht
der deutschen Litteraturgeschichte sür den Schulzweck besser erfüllt, bei aller
strengen Sachlichkeit soviel geistvolle Schärfe und umfassende Belesenheit ver¬
einigt gefunden haben wie hier. In der Behandlung jeder Einzelheit, selbst
wo sie schlicht mit einigen Worten gegeben wird, verrät sich eine große und
mit Eindrücken reich gesättigte Litteraturanschauung, in der Auswahl und
Gruppirung der Dichter und Schriftsteller, durch die sich die Entwicklung voll¬
zogen hat, und an denen sie nachgewiesen wird, zeigt sich eine sichere Be¬
herrschung des weitschichtigen Stoffs und eine glückliche Hand. Der Verfasser
bleibt sich überall bewußt, daß die kurzen Sätze, in denen er den Gang der
Entwicklung darstellt und sein Urteil abgiebt, schwer ins Gewicht fallen, das;
sie keiner Zweideutigkeit oder Unklarheit Raum lassen dürfen, daß sie, je kürzer
sie sind, sich um so tiefer dem Gedächtnis der Schüler einprägen und für viele
die unbewußte Grundlage ihrer spätern, vermeintlich selbständigen Urteile bilden
werden. Das Gefühl der Verantwortlichkeit des Lehrers verbindet sich in
diesen „Grundzügen" mit der klaren Bestimmtheit des wissenschaftlichen Literar¬
historikers, bis auf die Paragraphen, die die jüngste Litteratur behandeln, er¬
scheint das Ganze gleichmäßig brauchbar und unmittelbar eindringlich. Die



*) Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte. Für höhere Schulen und zum
Selbstunterricht. Von Professor I)r. Gotthold Klee, Oberlehrer am Gymnasium zu Bnutzen.
Dresden, Georg Bondi, 1805.
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[0190] Zur Litteraturgeschichte Dichtung hätte, wäre in meinen Augen ein bedauernswerter, von der Schule betrogner oder der Schule unwürdiger Tropf." Und weil es so ist, so liegt allerdings Nutzen oder Nachteil des Litteraturunterrichts wesentlich in der Hand des Lehrers, aber gleichgiltig ist es unter keinen Umständen, welches Handbuch, welcher Grundriß oder Abriß der deutschen Litteraturgeschichte dem Unterricht zu Grunde gelegt wird. Die besondre Schwierigkeit hängt hier mit dem Widerspruch der Forderungen zusammen. Es ist leicht gesagt, daß es das Beste und Zweckmäßigste sei, in einem Grundriß nur die großen und bleibenden Gestalten und Schöpfungen der Litteratur aneinanderzureihen; die Entwicklung ist eben nicht überall an die großen Namen gebunden, die Ver¬ treter der Übergänge dürfen nicht fehlen, und die rechte Auswahl bleibt eine Frage der Einsicht, des Taktes und der umfassendsten Sachkenntnis. Knappste Begrenzung ohne klaffende Lücken muß jeder für die Schule und für den un¬ mittelbaren Unterrichtszweck bestimmte Grundriß der deutscheu Litteraturgeschichte zeigen. Ein vortreffliches Buch, das warm empfohlen werden kann, sind die neuen Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte von Professor Dr. Gott¬ hold Klee.") Nachdem wir das kleine, nur 180 Seiten zählende Buch mit einer Reihe verbreiteter und gepriesener Handbücher und Grundrisse verglichen haben, gestehen wir, daß wir nirgends die Bedingungen einer guten Übersicht der deutschen Litteraturgeschichte sür den Schulzweck besser erfüllt, bei aller strengen Sachlichkeit soviel geistvolle Schärfe und umfassende Belesenheit ver¬ einigt gefunden haben wie hier. In der Behandlung jeder Einzelheit, selbst wo sie schlicht mit einigen Worten gegeben wird, verrät sich eine große und mit Eindrücken reich gesättigte Litteraturanschauung, in der Auswahl und Gruppirung der Dichter und Schriftsteller, durch die sich die Entwicklung voll¬ zogen hat, und an denen sie nachgewiesen wird, zeigt sich eine sichere Be¬ herrschung des weitschichtigen Stoffs und eine glückliche Hand. Der Verfasser bleibt sich überall bewußt, daß die kurzen Sätze, in denen er den Gang der Entwicklung darstellt und sein Urteil abgiebt, schwer ins Gewicht fallen, das; sie keiner Zweideutigkeit oder Unklarheit Raum lassen dürfen, daß sie, je kürzer sie sind, sich um so tiefer dem Gedächtnis der Schüler einprägen und für viele die unbewußte Grundlage ihrer spätern, vermeintlich selbständigen Urteile bilden werden. Das Gefühl der Verantwortlichkeit des Lehrers verbindet sich in diesen „Grundzügen" mit der klaren Bestimmtheit des wissenschaftlichen Literar¬ historikers, bis auf die Paragraphen, die die jüngste Litteratur behandeln, er¬ scheint das Ganze gleichmäßig brauchbar und unmittelbar eindringlich. Die *) Grundzüge der deutschen Litteraturgeschichte. Für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Von Professor I)r. Gotthold Klee, Oberlehrer am Gymnasium zu Bnutzen. Dresden, Georg Bondi, 1805.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/190>, abgerufen am 01.09.2024.