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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ivelterklärungsversuche

aus dem Neuen Testament geschöpft. Christus verlangt nirgends, daß wir
uns für den Nächsten aufopfern und unser Ich ausgeben sollen; er fordert nur,
daß wir dem Nächsten nach Kräften wohlthun, und daß wir ihn "lieben wie
uns selbst"; weder sollen wir das eigne Glück dem des Nächsten, noch des
Nächsten Glück dem eignen opfern, sondern beides möglichst ins Gleichgewicht
bringen, was ja oft recht schwer sein mag. Wenn der edle Mensch im Kon¬
flikt der Interessen sein Glück und sogar sein Leben dem des Nächsten opfert,
so folgt er damit dem Zuge seines Herzens und dem Beispiel Christi, der sein
Leben für die Brüder hingab -- es ist das einer der Punkte, in denen Christus
ein Vorbild für einzelne, niemals für alle werden kann --, aber geboten hat
ihm das Christus nicht. Seine Jünger lobt er, weil sie alles verlassen haben,
aber nicht aus Liebe zu den Brüdern, sondern aus Liebe zu ihm und um im
Himmel hundertfältige Vergeltung für das Geopferte zu empfangen. Den von
Gott mit außergewöhnlicher sittlicher Kraft ausgerüsteten Seelen rot er, ehelos
zu bleiben, alle ihre Habe an die Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen,
aber wiederum nicht aus "Altruismus," sondern um des Himmelreichs, d. h. um
der eignen Seligkeit willen. Und wenn er rät, sich lieber die Hand abhacken
oder das Auge ausreißen zu lassen oder das leibliche Leben zu opfern, als
einer Versuchung zu schwerer Sünde nachzugeben, so macht er auch hier wieder
das eigne Wohl des Versuchten zum Beweggründe: er soll so handeln, um
dem höllischen Feuer zu entgehen. Christus fordert also nichts wider die Natur,
die den Selbsterhaltungstrieb zum mächtigsten aller Triebe gemacht hat und
auch in deu Menschen machen mußte, wenn sie die Erhaltung des Menschen¬
geschlechts wollte. Er hat daher auch nirgends die Sinnengenüsse für Il¬
lusion erklärt, obwohl er nach einer höhern Seligkeit zu streben mahnt. Nord¬
heim geht nicht soweit wie die Pessimisten, aber er behauptet wenigstens, daß
die meisten sinnlichen Genüsse nur auf Einbildung beruhten. Auch die feinste
Cigarre schmecke nicht im Finstern, und selbst eine erprobte Weinzunge ver¬
möge mit verbundnen Augen nicht mit Sicherheit roten von weißem Wein zu
unterscheiden. Beides mag wahr sein, aber auch in der dichtesten Finsternis
kann man Tinte und sogar auch schon Essig von gutem Wein ganz deutlich
unterscheiden. Es stünde schlimm um die Blinden, wenn es anders wäre.
Kein Sinnengenuß ist Illusion, so wenig wie irgend ein Schmerz; sind doch
die Sinneswahrnehmungen, und zwar vorzugsweise die lebhaftesten, die mit
Lust oder Unlust verbundnen, das einzige in der Welt, dessen Wirklichkeit uns
unmittelbar gewiß ist. Illusionen sind nur gewisse Vorstellungen, die oft un-
berechtigterweise an die sinnlichen Genüsse geknüpft werden, z. B. daß es ein
Genuß sei, in einem Monat fünfzehn Nächte durch zu tanzen, oder daß man
den Genuß des Essens täglich sechs Stunden lang haben könne. Illusion ist
es vor allem, wenn sich ein Mensch, der einmal über die Stufe der Tierheit
hinaus ist, einbildet, daß er fortan noch in der Beschränkung auf Sinnengenuß


Ivelterklärungsversuche

aus dem Neuen Testament geschöpft. Christus verlangt nirgends, daß wir
uns für den Nächsten aufopfern und unser Ich ausgeben sollen; er fordert nur,
daß wir dem Nächsten nach Kräften wohlthun, und daß wir ihn „lieben wie
uns selbst"; weder sollen wir das eigne Glück dem des Nächsten, noch des
Nächsten Glück dem eignen opfern, sondern beides möglichst ins Gleichgewicht
bringen, was ja oft recht schwer sein mag. Wenn der edle Mensch im Kon¬
flikt der Interessen sein Glück und sogar sein Leben dem des Nächsten opfert,
so folgt er damit dem Zuge seines Herzens und dem Beispiel Christi, der sein
Leben für die Brüder hingab — es ist das einer der Punkte, in denen Christus
ein Vorbild für einzelne, niemals für alle werden kann —, aber geboten hat
ihm das Christus nicht. Seine Jünger lobt er, weil sie alles verlassen haben,
aber nicht aus Liebe zu den Brüdern, sondern aus Liebe zu ihm und um im
Himmel hundertfältige Vergeltung für das Geopferte zu empfangen. Den von
Gott mit außergewöhnlicher sittlicher Kraft ausgerüsteten Seelen rot er, ehelos
zu bleiben, alle ihre Habe an die Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen,
aber wiederum nicht aus „Altruismus," sondern um des Himmelreichs, d. h. um
der eignen Seligkeit willen. Und wenn er rät, sich lieber die Hand abhacken
oder das Auge ausreißen zu lassen oder das leibliche Leben zu opfern, als
einer Versuchung zu schwerer Sünde nachzugeben, so macht er auch hier wieder
das eigne Wohl des Versuchten zum Beweggründe: er soll so handeln, um
dem höllischen Feuer zu entgehen. Christus fordert also nichts wider die Natur,
die den Selbsterhaltungstrieb zum mächtigsten aller Triebe gemacht hat und
auch in deu Menschen machen mußte, wenn sie die Erhaltung des Menschen¬
geschlechts wollte. Er hat daher auch nirgends die Sinnengenüsse für Il¬
lusion erklärt, obwohl er nach einer höhern Seligkeit zu streben mahnt. Nord¬
heim geht nicht soweit wie die Pessimisten, aber er behauptet wenigstens, daß
die meisten sinnlichen Genüsse nur auf Einbildung beruhten. Auch die feinste
Cigarre schmecke nicht im Finstern, und selbst eine erprobte Weinzunge ver¬
möge mit verbundnen Augen nicht mit Sicherheit roten von weißem Wein zu
unterscheiden. Beides mag wahr sein, aber auch in der dichtesten Finsternis
kann man Tinte und sogar auch schon Essig von gutem Wein ganz deutlich
unterscheiden. Es stünde schlimm um die Blinden, wenn es anders wäre.
Kein Sinnengenuß ist Illusion, so wenig wie irgend ein Schmerz; sind doch
die Sinneswahrnehmungen, und zwar vorzugsweise die lebhaftesten, die mit
Lust oder Unlust verbundnen, das einzige in der Welt, dessen Wirklichkeit uns
unmittelbar gewiß ist. Illusionen sind nur gewisse Vorstellungen, die oft un-
berechtigterweise an die sinnlichen Genüsse geknüpft werden, z. B. daß es ein
Genuß sei, in einem Monat fünfzehn Nächte durch zu tanzen, oder daß man
den Genuß des Essens täglich sechs Stunden lang haben könne. Illusion ist
es vor allem, wenn sich ein Mensch, der einmal über die Stufe der Tierheit
hinaus ist, einbildet, daß er fortan noch in der Beschränkung auf Sinnengenuß


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[0174] Ivelterklärungsversuche aus dem Neuen Testament geschöpft. Christus verlangt nirgends, daß wir uns für den Nächsten aufopfern und unser Ich ausgeben sollen; er fordert nur, daß wir dem Nächsten nach Kräften wohlthun, und daß wir ihn „lieben wie uns selbst"; weder sollen wir das eigne Glück dem des Nächsten, noch des Nächsten Glück dem eignen opfern, sondern beides möglichst ins Gleichgewicht bringen, was ja oft recht schwer sein mag. Wenn der edle Mensch im Kon¬ flikt der Interessen sein Glück und sogar sein Leben dem des Nächsten opfert, so folgt er damit dem Zuge seines Herzens und dem Beispiel Christi, der sein Leben für die Brüder hingab — es ist das einer der Punkte, in denen Christus ein Vorbild für einzelne, niemals für alle werden kann —, aber geboten hat ihm das Christus nicht. Seine Jünger lobt er, weil sie alles verlassen haben, aber nicht aus Liebe zu den Brüdern, sondern aus Liebe zu ihm und um im Himmel hundertfältige Vergeltung für das Geopferte zu empfangen. Den von Gott mit außergewöhnlicher sittlicher Kraft ausgerüsteten Seelen rot er, ehelos zu bleiben, alle ihre Habe an die Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen, aber wiederum nicht aus „Altruismus," sondern um des Himmelreichs, d. h. um der eignen Seligkeit willen. Und wenn er rät, sich lieber die Hand abhacken oder das Auge ausreißen zu lassen oder das leibliche Leben zu opfern, als einer Versuchung zu schwerer Sünde nachzugeben, so macht er auch hier wieder das eigne Wohl des Versuchten zum Beweggründe: er soll so handeln, um dem höllischen Feuer zu entgehen. Christus fordert also nichts wider die Natur, die den Selbsterhaltungstrieb zum mächtigsten aller Triebe gemacht hat und auch in deu Menschen machen mußte, wenn sie die Erhaltung des Menschen¬ geschlechts wollte. Er hat daher auch nirgends die Sinnengenüsse für Il¬ lusion erklärt, obwohl er nach einer höhern Seligkeit zu streben mahnt. Nord¬ heim geht nicht soweit wie die Pessimisten, aber er behauptet wenigstens, daß die meisten sinnlichen Genüsse nur auf Einbildung beruhten. Auch die feinste Cigarre schmecke nicht im Finstern, und selbst eine erprobte Weinzunge ver¬ möge mit verbundnen Augen nicht mit Sicherheit roten von weißem Wein zu unterscheiden. Beides mag wahr sein, aber auch in der dichtesten Finsternis kann man Tinte und sogar auch schon Essig von gutem Wein ganz deutlich unterscheiden. Es stünde schlimm um die Blinden, wenn es anders wäre. Kein Sinnengenuß ist Illusion, so wenig wie irgend ein Schmerz; sind doch die Sinneswahrnehmungen, und zwar vorzugsweise die lebhaftesten, die mit Lust oder Unlust verbundnen, das einzige in der Welt, dessen Wirklichkeit uns unmittelbar gewiß ist. Illusionen sind nur gewisse Vorstellungen, die oft un- berechtigterweise an die sinnlichen Genüsse geknüpft werden, z. B. daß es ein Genuß sei, in einem Monat fünfzehn Nächte durch zu tanzen, oder daß man den Genuß des Essens täglich sechs Stunden lang haben könne. Illusion ist es vor allem, wenn sich ein Mensch, der einmal über die Stufe der Tierheit hinaus ist, einbildet, daß er fortan noch in der Beschränkung auf Sinnengenuß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/174>, abgerufen am 23.11.2024.