Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ulelterklärungsversuche

wandten, Nachbarn, Freunden und Kunden gehabt hat, wie sie eben bei ge¬
wöhnlichen Menschen vorkommen. Was aber hat er in der Zeit seines öffent¬
lichen Wirkens, von der wir etwas wissen, gethan? Ledig bleiben, mit einer
Schar von Jüngern und von frommen Weibern umherziehen, von milden Gaben
leben, polizeilich nicht augemeldete Volksversammlungen abhalten, Wunder
wirken, den Armen die frohe Votschaft verkündigen, daß sie Gottes Lieblinge
und zum großen himmlischen Gastmahle berufen seien, die Angesehenen und
die Obrigkeiten, die ihm nicht glaubten, öffentlich Heuchler, Schlangenbrut,
Prophetenmörder und Kiuder des Teufels schelten, vor Gericht sich als Sohn
Gottes, Weltenrichter und König der Wahrheit vorstellen und deu Richtern
darüber hinaus kein Wort antworten, endlich als Verbrecher hingerichtet werden,
ist das ein Vorbild für ehrsame königlich preußische oder königlich sächsische
Unterthanen? Es ist richtig, manches an ihm kann auch von uns Unterthanen
nachgeahmt werden. Man konnte ihm kein gemeines Laster oder Verbrechen
nachsagen, aber das ist glücklicherweise nichts besondres, darin können uns auch
viele Heiden und Juden zum Vorbilde dienen; er hat ein paar Stunden ge¬
litten ohne zu klagen, aber viele vor und nach ihm haben Tage, Wochen,
Jahre hindurch noch größere Qualen standhaft und geduldig ertragen; er war
voll Güte, aber gerade die besondre Art und Weise, wie er seine Güte bewies,
durch Wunderheilungen und wunderbare Speisungen und Tränkungen, kann
vou uns nicht nachgeahmt werden. Nein, darin, daß er unser Ideal wäre,
liegt Jesu Bedeutung wahrhaftig nicht; niemand kann, niemand mag ihm
ähnlich werden; sondern darin, daß er als Bote aus jeuer Welt erscheint,
denen, die ihm glauben, die Gewißheit des jenseitigen Lebens einflößt ("Niemand
hat Gott je gesehen, der eingeborne Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der
hat uns von ihm erzählt"), und daß er ihnen die Teilnahme an seinem eignen
jenseitige", ewigen Leben verheißt. Wer ihn als eingebornen Sohn Gottes
und als Vermittler des ewigen Lebens nicht anerkennt, für den mag er immerhin
eine interessante geschichtliche Erscheinung sein, mehr kann er ihm nicht sein,
am wenigsten sein Ideal und der Begründer seiner Religion.

Es ist merkwürdig und vielleicht als eine natürliche Reaktion gegen die
wilden Klassen - und Jnteressenkämpfe unsrer Zeit zu erklären, daß so viele
naturalistische Morallehrer unter dem Namen Altruismus einen Grad der
Selbstverleugnung fordern, der über den von Christus geforderten hinausgeht.
Auch Nordheim fordert, daß man das eigne Wohl dem Wohl des Nächsten,
der Gattung nachsetze. Der ursprüngliche Egoismus, schreibt er, "der Trieb,
sich sür die eigne Person jeden Vorteil zu sichern, findet seine Vollendung im
Altruismus, in dem Bestreben, unter Aufgeben des eignen Ichs einem andern,
seinem Nächsten die erreichbaren Vorteile zuzuwenden." Und er glaubt, daß
das das Moralgesetz Christi sei, während die Kirche eine egoistische Moral
lehre. Das ist aber leere Einbildung; die "egoistische" Moral der Kirche ist


Ulelterklärungsversuche

wandten, Nachbarn, Freunden und Kunden gehabt hat, wie sie eben bei ge¬
wöhnlichen Menschen vorkommen. Was aber hat er in der Zeit seines öffent¬
lichen Wirkens, von der wir etwas wissen, gethan? Ledig bleiben, mit einer
Schar von Jüngern und von frommen Weibern umherziehen, von milden Gaben
leben, polizeilich nicht augemeldete Volksversammlungen abhalten, Wunder
wirken, den Armen die frohe Votschaft verkündigen, daß sie Gottes Lieblinge
und zum großen himmlischen Gastmahle berufen seien, die Angesehenen und
die Obrigkeiten, die ihm nicht glaubten, öffentlich Heuchler, Schlangenbrut,
Prophetenmörder und Kiuder des Teufels schelten, vor Gericht sich als Sohn
Gottes, Weltenrichter und König der Wahrheit vorstellen und deu Richtern
darüber hinaus kein Wort antworten, endlich als Verbrecher hingerichtet werden,
ist das ein Vorbild für ehrsame königlich preußische oder königlich sächsische
Unterthanen? Es ist richtig, manches an ihm kann auch von uns Unterthanen
nachgeahmt werden. Man konnte ihm kein gemeines Laster oder Verbrechen
nachsagen, aber das ist glücklicherweise nichts besondres, darin können uns auch
viele Heiden und Juden zum Vorbilde dienen; er hat ein paar Stunden ge¬
litten ohne zu klagen, aber viele vor und nach ihm haben Tage, Wochen,
Jahre hindurch noch größere Qualen standhaft und geduldig ertragen; er war
voll Güte, aber gerade die besondre Art und Weise, wie er seine Güte bewies,
durch Wunderheilungen und wunderbare Speisungen und Tränkungen, kann
vou uns nicht nachgeahmt werden. Nein, darin, daß er unser Ideal wäre,
liegt Jesu Bedeutung wahrhaftig nicht; niemand kann, niemand mag ihm
ähnlich werden; sondern darin, daß er als Bote aus jeuer Welt erscheint,
denen, die ihm glauben, die Gewißheit des jenseitigen Lebens einflößt („Niemand
hat Gott je gesehen, der eingeborne Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der
hat uns von ihm erzählt"), und daß er ihnen die Teilnahme an seinem eignen
jenseitige», ewigen Leben verheißt. Wer ihn als eingebornen Sohn Gottes
und als Vermittler des ewigen Lebens nicht anerkennt, für den mag er immerhin
eine interessante geschichtliche Erscheinung sein, mehr kann er ihm nicht sein,
am wenigsten sein Ideal und der Begründer seiner Religion.

Es ist merkwürdig und vielleicht als eine natürliche Reaktion gegen die
wilden Klassen - und Jnteressenkämpfe unsrer Zeit zu erklären, daß so viele
naturalistische Morallehrer unter dem Namen Altruismus einen Grad der
Selbstverleugnung fordern, der über den von Christus geforderten hinausgeht.
Auch Nordheim fordert, daß man das eigne Wohl dem Wohl des Nächsten,
der Gattung nachsetze. Der ursprüngliche Egoismus, schreibt er, „der Trieb,
sich sür die eigne Person jeden Vorteil zu sichern, findet seine Vollendung im
Altruismus, in dem Bestreben, unter Aufgeben des eignen Ichs einem andern,
seinem Nächsten die erreichbaren Vorteile zuzuwenden." Und er glaubt, daß
das das Moralgesetz Christi sei, während die Kirche eine egoistische Moral
lehre. Das ist aber leere Einbildung; die „egoistische" Moral der Kirche ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223115"/>
          <fw type="header" place="top"> Ulelterklärungsversuche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_538" prev="#ID_537"> wandten, Nachbarn, Freunden und Kunden gehabt hat, wie sie eben bei ge¬<lb/>
wöhnlichen Menschen vorkommen. Was aber hat er in der Zeit seines öffent¬<lb/>
lichen Wirkens, von der wir etwas wissen, gethan? Ledig bleiben, mit einer<lb/>
Schar von Jüngern und von frommen Weibern umherziehen, von milden Gaben<lb/>
leben, polizeilich nicht augemeldete Volksversammlungen abhalten, Wunder<lb/>
wirken, den Armen die frohe Votschaft verkündigen, daß sie Gottes Lieblinge<lb/>
und zum großen himmlischen Gastmahle berufen seien, die Angesehenen und<lb/>
die Obrigkeiten, die ihm nicht glaubten, öffentlich Heuchler, Schlangenbrut,<lb/>
Prophetenmörder und Kiuder des Teufels schelten, vor Gericht sich als Sohn<lb/>
Gottes, Weltenrichter und König der Wahrheit vorstellen und deu Richtern<lb/>
darüber hinaus kein Wort antworten, endlich als Verbrecher hingerichtet werden,<lb/>
ist das ein Vorbild für ehrsame königlich preußische oder königlich sächsische<lb/>
Unterthanen? Es ist richtig, manches an ihm kann auch von uns Unterthanen<lb/>
nachgeahmt werden. Man konnte ihm kein gemeines Laster oder Verbrechen<lb/>
nachsagen, aber das ist glücklicherweise nichts besondres, darin können uns auch<lb/>
viele Heiden und Juden zum Vorbilde dienen; er hat ein paar Stunden ge¬<lb/>
litten ohne zu klagen, aber viele vor und nach ihm haben Tage, Wochen,<lb/>
Jahre hindurch noch größere Qualen standhaft und geduldig ertragen; er war<lb/>
voll Güte, aber gerade die besondre Art und Weise, wie er seine Güte bewies,<lb/>
durch Wunderheilungen und wunderbare Speisungen und Tränkungen, kann<lb/>
vou uns nicht nachgeahmt werden. Nein, darin, daß er unser Ideal wäre,<lb/>
liegt Jesu Bedeutung wahrhaftig nicht; niemand kann, niemand mag ihm<lb/>
ähnlich werden; sondern darin, daß er als Bote aus jeuer Welt erscheint,<lb/>
denen, die ihm glauben, die Gewißheit des jenseitigen Lebens einflößt (&#x201E;Niemand<lb/>
hat Gott je gesehen, der eingeborne Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der<lb/>
hat uns von ihm erzählt"), und daß er ihnen die Teilnahme an seinem eignen<lb/>
jenseitige», ewigen Leben verheißt. Wer ihn als eingebornen Sohn Gottes<lb/>
und als Vermittler des ewigen Lebens nicht anerkennt, für den mag er immerhin<lb/>
eine interessante geschichtliche Erscheinung sein, mehr kann er ihm nicht sein,<lb/>
am wenigsten sein Ideal und der Begründer seiner Religion.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_539" next="#ID_540"> Es ist merkwürdig und vielleicht als eine natürliche Reaktion gegen die<lb/>
wilden Klassen - und Jnteressenkämpfe unsrer Zeit zu erklären, daß so viele<lb/>
naturalistische Morallehrer unter dem Namen Altruismus einen Grad der<lb/>
Selbstverleugnung fordern, der über den von Christus geforderten hinausgeht.<lb/>
Auch Nordheim fordert, daß man das eigne Wohl dem Wohl des Nächsten,<lb/>
der Gattung nachsetze. Der ursprüngliche Egoismus, schreibt er, &#x201E;der Trieb,<lb/>
sich sür die eigne Person jeden Vorteil zu sichern, findet seine Vollendung im<lb/>
Altruismus, in dem Bestreben, unter Aufgeben des eignen Ichs einem andern,<lb/>
seinem Nächsten die erreichbaren Vorteile zuzuwenden." Und er glaubt, daß<lb/>
das das Moralgesetz Christi sei, während die Kirche eine egoistische Moral<lb/>
lehre.  Das ist aber leere Einbildung; die &#x201E;egoistische" Moral der Kirche ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] Ulelterklärungsversuche wandten, Nachbarn, Freunden und Kunden gehabt hat, wie sie eben bei ge¬ wöhnlichen Menschen vorkommen. Was aber hat er in der Zeit seines öffent¬ lichen Wirkens, von der wir etwas wissen, gethan? Ledig bleiben, mit einer Schar von Jüngern und von frommen Weibern umherziehen, von milden Gaben leben, polizeilich nicht augemeldete Volksversammlungen abhalten, Wunder wirken, den Armen die frohe Votschaft verkündigen, daß sie Gottes Lieblinge und zum großen himmlischen Gastmahle berufen seien, die Angesehenen und die Obrigkeiten, die ihm nicht glaubten, öffentlich Heuchler, Schlangenbrut, Prophetenmörder und Kiuder des Teufels schelten, vor Gericht sich als Sohn Gottes, Weltenrichter und König der Wahrheit vorstellen und deu Richtern darüber hinaus kein Wort antworten, endlich als Verbrecher hingerichtet werden, ist das ein Vorbild für ehrsame königlich preußische oder königlich sächsische Unterthanen? Es ist richtig, manches an ihm kann auch von uns Unterthanen nachgeahmt werden. Man konnte ihm kein gemeines Laster oder Verbrechen nachsagen, aber das ist glücklicherweise nichts besondres, darin können uns auch viele Heiden und Juden zum Vorbilde dienen; er hat ein paar Stunden ge¬ litten ohne zu klagen, aber viele vor und nach ihm haben Tage, Wochen, Jahre hindurch noch größere Qualen standhaft und geduldig ertragen; er war voll Güte, aber gerade die besondre Art und Weise, wie er seine Güte bewies, durch Wunderheilungen und wunderbare Speisungen und Tränkungen, kann vou uns nicht nachgeahmt werden. Nein, darin, daß er unser Ideal wäre, liegt Jesu Bedeutung wahrhaftig nicht; niemand kann, niemand mag ihm ähnlich werden; sondern darin, daß er als Bote aus jeuer Welt erscheint, denen, die ihm glauben, die Gewißheit des jenseitigen Lebens einflößt („Niemand hat Gott je gesehen, der eingeborne Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der hat uns von ihm erzählt"), und daß er ihnen die Teilnahme an seinem eignen jenseitige», ewigen Leben verheißt. Wer ihn als eingebornen Sohn Gottes und als Vermittler des ewigen Lebens nicht anerkennt, für den mag er immerhin eine interessante geschichtliche Erscheinung sein, mehr kann er ihm nicht sein, am wenigsten sein Ideal und der Begründer seiner Religion. Es ist merkwürdig und vielleicht als eine natürliche Reaktion gegen die wilden Klassen - und Jnteressenkämpfe unsrer Zeit zu erklären, daß so viele naturalistische Morallehrer unter dem Namen Altruismus einen Grad der Selbstverleugnung fordern, der über den von Christus geforderten hinausgeht. Auch Nordheim fordert, daß man das eigne Wohl dem Wohl des Nächsten, der Gattung nachsetze. Der ursprüngliche Egoismus, schreibt er, „der Trieb, sich sür die eigne Person jeden Vorteil zu sichern, findet seine Vollendung im Altruismus, in dem Bestreben, unter Aufgeben des eignen Ichs einem andern, seinem Nächsten die erreichbaren Vorteile zuzuwenden." Und er glaubt, daß das das Moralgesetz Christi sei, während die Kirche eine egoistische Moral lehre. Das ist aber leere Einbildung; die „egoistische" Moral der Kirche ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/173>, abgerufen am 01.09.2024.