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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Welterklärungsversuche

wir uns verpflichtet, für die zu sorgen, die einmal da sind, aber der Gedanke
einer starken Vermehrung der Nachkommenschaft erfüllt uns weit mehr mit
Besorgnis als mit Freude. Wir geben dem Verfasser zu, daß sich die Menschen
viel unnütze Plage machen und eingebildete Leiden schaffen, und wir halten
feine Erinnerung an ein Wort Luthers für sehr nützlich, der bei einem Blick
auf seinen blühenden Garten einmal äußerte, wir sollten uns um solchem Pa¬
radies genügen lassen, wenn nur Sünde und Tod weg wären. Aber der Tod
ist eben nicht weg, die Krankheit auch uicht, und außer der Sünde giebt es
uoch allerlei andres Elend; es giebt Millionen Menschen, die im Frühling
wie in allen andern Jahreszeiten in dunkeln Löchern stecken und statt der
Blumen nichts sehen als Schmutz und Lumpen. Solange also der Verfasser
nicht für die Verwirklichung utopischer Träume sorgt und für die ärmere
Mehrzahl der Menschen die äußern Bedingungen des Glücks herbeischafft, wird
diese Mehrzahl des Trostes der Hoffnung auf ein jenseitiges Leben bedürfen,
und der Gedanke an die Zukunft der zu erhaltenden Art wird die Denkenden
mehr mit Kummer als mit Freude erfüllen. Geradezu Entsetzen aber flößt
dieser Gedanke ein, wenn man dem auch von Nordheim verkündigten natura¬
listischen Glauben huldigt, wonach das Weltende für die Menschen dnrch all¬
mähliches Erkalten des Erdballs herbeigeführt werden soll. Wer würde nicht
wünschen, daß ein Weltbrand das ganze Menschengeschlecht gleichzeitig ver¬
nichtete, ehe ein Volk nach dem andern verhungert, bis zuletzt nur noch einige
zu Eskimos verkümmerte Tropenbewohner auf ihre Hinrichtung durch Hunger
und Kälte warten?

Eine zweite Selbsttäuschung besteht darin, daß der Verfasser seine natura¬
listische Weltansicht für das echte Christentum hält. Das erklärt sich einer¬
seits aus der immer uoch verbreiteten Ansicht, wonach Christus weiter nichts
als ein vortrefflicher Morallehrer und ein Muster moralischen Lebenswandels
gewesen sein soll, andrerseits aus dem tiefen Eindruck, den das Neue Testament
im Gemüte derer, die es in der Jugend gläubig gelesen haben, auch daun
hinterläßt, wenn sie später den Glauben verlieren; weil sie uoch tiefe Ehrfurcht
vor Christus empfinden, so glauben sie Christen zu sein. Nordheim betont
sogar aufs stärkste, daß Christus sein Ideal, sein Vorbild sei, dem er nach¬
zufolgen strebe. Die Nachfolge Christi ist ein Jnventarienstück des Kirchen-
glaubens, das auch von vielen Gegnern der Kirche weitergeschleppt wird, ob¬
wohl nur Gedankenlosigkeit Christum als Vorbild für alle Menschen hinstellen
kann. Aus dein Knabenalter Christi erfahren wir, daß er seinen Eltern ge¬
horsam gewesen sei und ihnen wie andern Menschen Freude gemacht habe; von
seinem weitern Leben bis zu seinem dreißigsten Jahre aber wissen wir -- nichts.
Und doch ist das gerade die Zeit seines Lebens, in der er ein Beispiel für
uns sein könnte, wenn wir etwas davon wüßten, die Zeit, wo er wahrscheinlich
als Handwerker im Haushalt seiner Eltern gelebt und Beziehungen zu Ver-


Welterklärungsversuche

wir uns verpflichtet, für die zu sorgen, die einmal da sind, aber der Gedanke
einer starken Vermehrung der Nachkommenschaft erfüllt uns weit mehr mit
Besorgnis als mit Freude. Wir geben dem Verfasser zu, daß sich die Menschen
viel unnütze Plage machen und eingebildete Leiden schaffen, und wir halten
feine Erinnerung an ein Wort Luthers für sehr nützlich, der bei einem Blick
auf seinen blühenden Garten einmal äußerte, wir sollten uns um solchem Pa¬
radies genügen lassen, wenn nur Sünde und Tod weg wären. Aber der Tod
ist eben nicht weg, die Krankheit auch uicht, und außer der Sünde giebt es
uoch allerlei andres Elend; es giebt Millionen Menschen, die im Frühling
wie in allen andern Jahreszeiten in dunkeln Löchern stecken und statt der
Blumen nichts sehen als Schmutz und Lumpen. Solange also der Verfasser
nicht für die Verwirklichung utopischer Träume sorgt und für die ärmere
Mehrzahl der Menschen die äußern Bedingungen des Glücks herbeischafft, wird
diese Mehrzahl des Trostes der Hoffnung auf ein jenseitiges Leben bedürfen,
und der Gedanke an die Zukunft der zu erhaltenden Art wird die Denkenden
mehr mit Kummer als mit Freude erfüllen. Geradezu Entsetzen aber flößt
dieser Gedanke ein, wenn man dem auch von Nordheim verkündigten natura¬
listischen Glauben huldigt, wonach das Weltende für die Menschen dnrch all¬
mähliches Erkalten des Erdballs herbeigeführt werden soll. Wer würde nicht
wünschen, daß ein Weltbrand das ganze Menschengeschlecht gleichzeitig ver¬
nichtete, ehe ein Volk nach dem andern verhungert, bis zuletzt nur noch einige
zu Eskimos verkümmerte Tropenbewohner auf ihre Hinrichtung durch Hunger
und Kälte warten?

Eine zweite Selbsttäuschung besteht darin, daß der Verfasser seine natura¬
listische Weltansicht für das echte Christentum hält. Das erklärt sich einer¬
seits aus der immer uoch verbreiteten Ansicht, wonach Christus weiter nichts
als ein vortrefflicher Morallehrer und ein Muster moralischen Lebenswandels
gewesen sein soll, andrerseits aus dem tiefen Eindruck, den das Neue Testament
im Gemüte derer, die es in der Jugend gläubig gelesen haben, auch daun
hinterläßt, wenn sie später den Glauben verlieren; weil sie uoch tiefe Ehrfurcht
vor Christus empfinden, so glauben sie Christen zu sein. Nordheim betont
sogar aufs stärkste, daß Christus sein Ideal, sein Vorbild sei, dem er nach¬
zufolgen strebe. Die Nachfolge Christi ist ein Jnventarienstück des Kirchen-
glaubens, das auch von vielen Gegnern der Kirche weitergeschleppt wird, ob¬
wohl nur Gedankenlosigkeit Christum als Vorbild für alle Menschen hinstellen
kann. Aus dein Knabenalter Christi erfahren wir, daß er seinen Eltern ge¬
horsam gewesen sei und ihnen wie andern Menschen Freude gemacht habe; von
seinem weitern Leben bis zu seinem dreißigsten Jahre aber wissen wir — nichts.
Und doch ist das gerade die Zeit seines Lebens, in der er ein Beispiel für
uns sein könnte, wenn wir etwas davon wüßten, die Zeit, wo er wahrscheinlich
als Handwerker im Haushalt seiner Eltern gelebt und Beziehungen zu Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/172>, abgerufen am 23.11.2024.