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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Welterklärungsversucho

Kinderzeugen gemeint, sondern auch und mehr noch die Übung der Nächsten¬
liebe und die Erfüllung aller sittlichen Pflichten, weil sittliches Verhalten
Lebensbedingung für das Menschengeschlecht sei. In diesem sittlichen Ver¬
halten nun soll der Mensch sein Glück finden, sodasz er der Hoffnung auf eine
jenseitige Seligkeit nicht bedürfe. Was deu Menschen unglücklich mache, das
sei zumeist das Streben nach Gütern, deren Wert ans Einbildung beruhe. Der
Weltzweck könne kein andrer sein, als die Erhaltung der Harmonie -- sagen
wir statt dessen des Gleichgewichts -- aller Teile der Welt unter einander.
In der Körperwelt erhalte sich das Gleichgewicht von selbst. Der Mensch müsse
seine Vernunft gebrauchen, um sich mit seiner Umgebung im Gleichgewicht zu
erhalten, und das geschehe eben, wenn er für die Erhaltung der Art lebe und
darin seine Befriedigung finde. Indem er der Verwirklichung des Weltzwecks
diene, beglücke er sich selbst.

Darauf ist zu erwidern, daß dem Menschen die Erhaltung seiner Art,
oder irgend einer Art, an sich das gleichgiltigste von der Welt ist. Die Natur
mag aus uns unbekannten Gründen Arten entstehen lassen, sie einige tausend
Jahre lang erhalten und dann dem Untergang preisgeben -- was geht das
uns an? Was könnte uns daran liegen, wenn die Ungeheuer der Vorwelt er¬
halten geblieben wären? Im Gegenteil, es ist uns lieb, daß sie verschwunden
find, und wir werden auch den Wölfen keine Thräne nachweinen, wenn sie
vollends verschwinden, obwohl wir solche Bestien in den zoologischen Gärten
ganz gern einmal betrachten. Wir lieben die grüne Wiese, den Wald und den
Blumengarten, aber ob sich die Pflanzenwelt aus drei Millionen oder bloß
ans drei tausend Arten zusammensetzt, das interessirt doch nur die Botaniker.
Mögen ein paar tausend Arten aussterben, wir Nichtbotaniker merken das gar
nicht; wenn uur die Wiese grün bleibt und ein paar bunte Blumen darauf
stehen, so sind wir schon zufrieden. Und liegt uns etwa soviel daran, daß die
Mongolen oder die Neger oder die Russen oder die Polen erhalten bleiben?
Um die edlern Nassen würde es uns leid thun, wenn sie ausstürben, und um
die unedlem insoweit, als wir wünschen, daß einige Mannichfaltigkeit auf dieser
immer langweiliger werdenden Erde erhalten bleiben möge; doch ist das schon
ein ästhetischer Wunsch, von dem der Bauer wahrscheinlich nichts weiß. Gewiß
würde sich jeder vor dem Gedanken entsetzen, allein ans der Welt zu sein, und
insofern wünscht wohl jeder die Erhaltung des Menschengeschlechts. Aber dn
die Erfüllung dieses Wunsches durch das Walten des Naturtriebes in der
Masse ohne die bewußte und absichtsvolle Mitwirkung der Denkenden gesichert
ist, so kann das Bewußtsein, auch selbst etwas dazu beizutragen, nichts sonder¬
lich erhebendes und beglückendes haben. Um so weniger, als ein denkender
Mensch Zweifel daran hegt, ob es für die Mehrzahl ein Glück sei, zu leben,
beglückend würde das Wirken für die Erhaltung der Art nur dann sein, wenn
wir wüßten, daß unsre Nachkommen glücklich sein würden. Natürlich fühlen


Welterklärungsversucho

Kinderzeugen gemeint, sondern auch und mehr noch die Übung der Nächsten¬
liebe und die Erfüllung aller sittlichen Pflichten, weil sittliches Verhalten
Lebensbedingung für das Menschengeschlecht sei. In diesem sittlichen Ver¬
halten nun soll der Mensch sein Glück finden, sodasz er der Hoffnung auf eine
jenseitige Seligkeit nicht bedürfe. Was deu Menschen unglücklich mache, das
sei zumeist das Streben nach Gütern, deren Wert ans Einbildung beruhe. Der
Weltzweck könne kein andrer sein, als die Erhaltung der Harmonie — sagen
wir statt dessen des Gleichgewichts — aller Teile der Welt unter einander.
In der Körperwelt erhalte sich das Gleichgewicht von selbst. Der Mensch müsse
seine Vernunft gebrauchen, um sich mit seiner Umgebung im Gleichgewicht zu
erhalten, und das geschehe eben, wenn er für die Erhaltung der Art lebe und
darin seine Befriedigung finde. Indem er der Verwirklichung des Weltzwecks
diene, beglücke er sich selbst.

Darauf ist zu erwidern, daß dem Menschen die Erhaltung seiner Art,
oder irgend einer Art, an sich das gleichgiltigste von der Welt ist. Die Natur
mag aus uns unbekannten Gründen Arten entstehen lassen, sie einige tausend
Jahre lang erhalten und dann dem Untergang preisgeben — was geht das
uns an? Was könnte uns daran liegen, wenn die Ungeheuer der Vorwelt er¬
halten geblieben wären? Im Gegenteil, es ist uns lieb, daß sie verschwunden
find, und wir werden auch den Wölfen keine Thräne nachweinen, wenn sie
vollends verschwinden, obwohl wir solche Bestien in den zoologischen Gärten
ganz gern einmal betrachten. Wir lieben die grüne Wiese, den Wald und den
Blumengarten, aber ob sich die Pflanzenwelt aus drei Millionen oder bloß
ans drei tausend Arten zusammensetzt, das interessirt doch nur die Botaniker.
Mögen ein paar tausend Arten aussterben, wir Nichtbotaniker merken das gar
nicht; wenn uur die Wiese grün bleibt und ein paar bunte Blumen darauf
stehen, so sind wir schon zufrieden. Und liegt uns etwa soviel daran, daß die
Mongolen oder die Neger oder die Russen oder die Polen erhalten bleiben?
Um die edlern Nassen würde es uns leid thun, wenn sie ausstürben, und um
die unedlem insoweit, als wir wünschen, daß einige Mannichfaltigkeit auf dieser
immer langweiliger werdenden Erde erhalten bleiben möge; doch ist das schon
ein ästhetischer Wunsch, von dem der Bauer wahrscheinlich nichts weiß. Gewiß
würde sich jeder vor dem Gedanken entsetzen, allein ans der Welt zu sein, und
insofern wünscht wohl jeder die Erhaltung des Menschengeschlechts. Aber dn
die Erfüllung dieses Wunsches durch das Walten des Naturtriebes in der
Masse ohne die bewußte und absichtsvolle Mitwirkung der Denkenden gesichert
ist, so kann das Bewußtsein, auch selbst etwas dazu beizutragen, nichts sonder¬
lich erhebendes und beglückendes haben. Um so weniger, als ein denkender
Mensch Zweifel daran hegt, ob es für die Mehrzahl ein Glück sei, zu leben,
beglückend würde das Wirken für die Erhaltung der Art nur dann sein, wenn
wir wüßten, daß unsre Nachkommen glücklich sein würden. Natürlich fühlen


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[0171] Welterklärungsversucho Kinderzeugen gemeint, sondern auch und mehr noch die Übung der Nächsten¬ liebe und die Erfüllung aller sittlichen Pflichten, weil sittliches Verhalten Lebensbedingung für das Menschengeschlecht sei. In diesem sittlichen Ver¬ halten nun soll der Mensch sein Glück finden, sodasz er der Hoffnung auf eine jenseitige Seligkeit nicht bedürfe. Was deu Menschen unglücklich mache, das sei zumeist das Streben nach Gütern, deren Wert ans Einbildung beruhe. Der Weltzweck könne kein andrer sein, als die Erhaltung der Harmonie — sagen wir statt dessen des Gleichgewichts — aller Teile der Welt unter einander. In der Körperwelt erhalte sich das Gleichgewicht von selbst. Der Mensch müsse seine Vernunft gebrauchen, um sich mit seiner Umgebung im Gleichgewicht zu erhalten, und das geschehe eben, wenn er für die Erhaltung der Art lebe und darin seine Befriedigung finde. Indem er der Verwirklichung des Weltzwecks diene, beglücke er sich selbst. Darauf ist zu erwidern, daß dem Menschen die Erhaltung seiner Art, oder irgend einer Art, an sich das gleichgiltigste von der Welt ist. Die Natur mag aus uns unbekannten Gründen Arten entstehen lassen, sie einige tausend Jahre lang erhalten und dann dem Untergang preisgeben — was geht das uns an? Was könnte uns daran liegen, wenn die Ungeheuer der Vorwelt er¬ halten geblieben wären? Im Gegenteil, es ist uns lieb, daß sie verschwunden find, und wir werden auch den Wölfen keine Thräne nachweinen, wenn sie vollends verschwinden, obwohl wir solche Bestien in den zoologischen Gärten ganz gern einmal betrachten. Wir lieben die grüne Wiese, den Wald und den Blumengarten, aber ob sich die Pflanzenwelt aus drei Millionen oder bloß ans drei tausend Arten zusammensetzt, das interessirt doch nur die Botaniker. Mögen ein paar tausend Arten aussterben, wir Nichtbotaniker merken das gar nicht; wenn uur die Wiese grün bleibt und ein paar bunte Blumen darauf stehen, so sind wir schon zufrieden. Und liegt uns etwa soviel daran, daß die Mongolen oder die Neger oder die Russen oder die Polen erhalten bleiben? Um die edlern Nassen würde es uns leid thun, wenn sie ausstürben, und um die unedlem insoweit, als wir wünschen, daß einige Mannichfaltigkeit auf dieser immer langweiliger werdenden Erde erhalten bleiben möge; doch ist das schon ein ästhetischer Wunsch, von dem der Bauer wahrscheinlich nichts weiß. Gewiß würde sich jeder vor dem Gedanken entsetzen, allein ans der Welt zu sein, und insofern wünscht wohl jeder die Erhaltung des Menschengeschlechts. Aber dn die Erfüllung dieses Wunsches durch das Walten des Naturtriebes in der Masse ohne die bewußte und absichtsvolle Mitwirkung der Denkenden gesichert ist, so kann das Bewußtsein, auch selbst etwas dazu beizutragen, nichts sonder¬ lich erhebendes und beglückendes haben. Um so weniger, als ein denkender Mensch Zweifel daran hegt, ob es für die Mehrzahl ein Glück sei, zu leben, beglückend würde das Wirken für die Erhaltung der Art nur dann sein, wenn wir wüßten, daß unsre Nachkommen glücklich sein würden. Natürlich fühlen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/171>, abgerufen am 01.09.2024.