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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Macht des Unvernünftigen

Nicht der überzeugenden Kraft der Wahrheit aber, sondern der einschüchternden
Wirkung ihrer Agitation haben die Agrarier ihre Erfolge zu verdanken. Die
Behauptungen des Herrn Rusland und seiner Geistesverwandten haben gar
keine andre Beweiskraft/als daß sie beständig mit großer Zuversicht wieder¬
holt wurden und allmählich immer mehr Glauben fanden. Aber obgleich die
Negierung und die von den Agrariern halbwegs abhängigen Abgeordneten nicht
zu den Gläubigen gehören, fühlen sie sich doch verpflichtet, auf diese An¬
schauungen Rücksicht zu nehmen. Sie berufen sich zur Rechtfertigung ihrer
Nachgiebigkeit, auf die agrarischen Theorien von der Preisbildung, auf die Be¬
hauptung von der Gemeinschädlichkeit der Getreidebörse. Die Gesetzgebung
-- das wurde besonders klar bei den Verhandlungen über die Getreidespeicher
und über das Verbot des Terminhandels -- beugt sich vor dieser Geistes¬
richtung als vor einer Macht, die sie anerkennen und mit der sie auszukommen
suchen müsse.

Man kann nicht sagen, daß das Verfahren der Verantwortlichkeit des
Gesetzgebers entspreche, und wenn nach solchen Grundsätzen weiter gearbeitet
wird, so fragt es sich, wie lange wir noch ein Recht haben, uns des Vorzugs
vor amerikanischer Drahtzieherei und Skrupellosigkeit zu rühmen. Was das
schlimmste ist, die Agrarier selbst scheinen kein rechtes Vertrauen zu der Zweck¬
mäßigkeit der von ihnen empfohlnen Heilmittel zu haben. Die ganze Unwahr¬
heit der agrarischen Agitation wird umsomehr enthüllt, je mehr Macht über
die Gesetzgebung ihnen eingeräumt wird. Denn damit tritt auch an sie die
Verpflichtung heran, ihre Kunst zu erweisen, ihre Versprechungen einzulösen.
Man merkt ihnen deutlich die Besorgnis an, daß sie hierzu nicht imstande sein
werden. Über das Getreidespeicherprojekt wurde schon ziemlich geringschätzig
geurteilt, als noch darüber beraten wurde. Da hieß es, dieser "Versuch" habe
doch nur geringen Wert; solle die Einrichtung wirksam sein, so müsse sie gleich
in viel größeren Umfange durchgeführt werden. Das sind Ausflüchte, die den
Mißerfolg verdecken sollen. Solange wir nicht die Gesetzgebung ganz in den
Händen haben, können wir auch nicht zeigen, was wir zu leisten vermögen,
so lautet die agrarische Entschuldigung. Auch daß das Verbot des Termin¬
handels nicht die gewünschten hohen Preise bringt, zumal da die Natur so un¬
verständig ist, auch in diesem Jahre wieder von dem so gefürchteten gemein-
schädlichem Getreide viel zu viel hervorzubringen, scheinen die Agrarier bereits
einzusehen, und sie rüsten sich darauf, die auf Grund des Mißerfolgs gegen
ihre Theorie erhobnen Angriffe abzuwehren. Dieser Mißerfolg scheint sich
,ja schon dadurch anzukündigen, daß infolge des Neichstagsbeschlusses die
Getreidepreise an der Berliner Börse zurückgegangen find. Da muß dann der
Unsinn von der Bosheit und tiefen Verworfenheit der Börsenmänner weiter
fortgesponnen werden. Herr Rusland ist auf dem Plan, und er hat in
der Deutschen Tageszeitung eine Leistung vollbracht, die nur durch die Hitze


Die Macht des Unvernünftigen

Nicht der überzeugenden Kraft der Wahrheit aber, sondern der einschüchternden
Wirkung ihrer Agitation haben die Agrarier ihre Erfolge zu verdanken. Die
Behauptungen des Herrn Rusland und seiner Geistesverwandten haben gar
keine andre Beweiskraft/als daß sie beständig mit großer Zuversicht wieder¬
holt wurden und allmählich immer mehr Glauben fanden. Aber obgleich die
Negierung und die von den Agrariern halbwegs abhängigen Abgeordneten nicht
zu den Gläubigen gehören, fühlen sie sich doch verpflichtet, auf diese An¬
schauungen Rücksicht zu nehmen. Sie berufen sich zur Rechtfertigung ihrer
Nachgiebigkeit, auf die agrarischen Theorien von der Preisbildung, auf die Be¬
hauptung von der Gemeinschädlichkeit der Getreidebörse. Die Gesetzgebung
— das wurde besonders klar bei den Verhandlungen über die Getreidespeicher
und über das Verbot des Terminhandels — beugt sich vor dieser Geistes¬
richtung als vor einer Macht, die sie anerkennen und mit der sie auszukommen
suchen müsse.

Man kann nicht sagen, daß das Verfahren der Verantwortlichkeit des
Gesetzgebers entspreche, und wenn nach solchen Grundsätzen weiter gearbeitet
wird, so fragt es sich, wie lange wir noch ein Recht haben, uns des Vorzugs
vor amerikanischer Drahtzieherei und Skrupellosigkeit zu rühmen. Was das
schlimmste ist, die Agrarier selbst scheinen kein rechtes Vertrauen zu der Zweck¬
mäßigkeit der von ihnen empfohlnen Heilmittel zu haben. Die ganze Unwahr¬
heit der agrarischen Agitation wird umsomehr enthüllt, je mehr Macht über
die Gesetzgebung ihnen eingeräumt wird. Denn damit tritt auch an sie die
Verpflichtung heran, ihre Kunst zu erweisen, ihre Versprechungen einzulösen.
Man merkt ihnen deutlich die Besorgnis an, daß sie hierzu nicht imstande sein
werden. Über das Getreidespeicherprojekt wurde schon ziemlich geringschätzig
geurteilt, als noch darüber beraten wurde. Da hieß es, dieser „Versuch" habe
doch nur geringen Wert; solle die Einrichtung wirksam sein, so müsse sie gleich
in viel größeren Umfange durchgeführt werden. Das sind Ausflüchte, die den
Mißerfolg verdecken sollen. Solange wir nicht die Gesetzgebung ganz in den
Händen haben, können wir auch nicht zeigen, was wir zu leisten vermögen,
so lautet die agrarische Entschuldigung. Auch daß das Verbot des Termin¬
handels nicht die gewünschten hohen Preise bringt, zumal da die Natur so un¬
verständig ist, auch in diesem Jahre wieder von dem so gefürchteten gemein-
schädlichem Getreide viel zu viel hervorzubringen, scheinen die Agrarier bereits
einzusehen, und sie rüsten sich darauf, die auf Grund des Mißerfolgs gegen
ihre Theorie erhobnen Angriffe abzuwehren. Dieser Mißerfolg scheint sich
,ja schon dadurch anzukündigen, daß infolge des Neichstagsbeschlusses die
Getreidepreise an der Berliner Börse zurückgegangen find. Da muß dann der
Unsinn von der Bosheit und tiefen Verworfenheit der Börsenmänner weiter
fortgesponnen werden. Herr Rusland ist auf dem Plan, und er hat in
der Deutschen Tageszeitung eine Leistung vollbracht, die nur durch die Hitze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/16>, abgerufen am 01.09.2024.