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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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sprochen hat. Und da muß denn am meisten auffallen das Mißverhältnis
zwischen dem, was angekündigt wurde, und dem, was erreicht worden ist.
Ganz im Gegensatz zu den großartigen Erfolgen des Fürsten Bismarck auf
dem Gebiete der auswärtigen Politik ist das Ziel, das man sich bei der Ein¬
leitung der erwähnten Wirtschaftspolitik steckte, nicht erreicht worden; dafür
sind aber Bestrebungen wachgerufen worden und immer mehr erstarkt, die
schließlich der Staatsgewalt selbst höchst unbequem wurden. Die gesamten
Bestrebungen, die unter dem. Namen der Interessenpolitik zusammengefaßt
werden, sind in diesem Zeitraume mächtig angewachsen, und wenn zu Anfang
angenommen wurde, daß sie leicht zu befriedigen seien, daß es nur einer gering¬
fügigen Änderung der wirtschaftlichen Gesetzgebung bedürfe, um einen "Auf¬
schwung" herbeizuführen und Wohlstand hervorzuzaubern, so hat sich später
herausgestellt, daß die Jnteressenpolitiker immer tiefere und verhängnisvollere
Eingriffe in das wirtschaftliche Leben verlangten, daß sie trotz aller Zu¬
geständnisse nie zufrieden waren, und daß diese Unzufriedenheit auch eine gewisse
Berechtigung hatte, wenn einmal von der Staatsgewalt die Leistungen erwartet
werden konnten und durften, die von den Förderern dieser Bestrebungen von
Anfang an in Aussicht gestellt waren.

Der Fehler lag also offenbar in der Überschätzung der Fähigkeiten der
Gesetzgebung; er lag darin, daß allgemeine wirtschaftliche Erscheinungen den
Wirkungen der Gesetzgebung eines einzelnen Landes zugeschrieben wurden, und
daß man dann glaubte, durch Änderung dieser Gesetzgebung eine "nationale
Wirtschaftspolitik" ausschließlich auf die Bedürfnisse dieses Landes begründen
zu können, wobei übersehen wurde, daß man dadurch im Auslande den Anreiz
zu ähnlichen Bestrebungen gab und zu Maßregeln, die der "nationalen Arbeit,"
die man durch das System aufs beste zu schützen glaubte, verhängnisvoll
wurden. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie verschieden sich die einzelnen
Zweige der nationalen Arbeit bei diesem System befanden, und daß sich gerade
der Arbeitszweig, der Verufsstand, dem der "Schutz" hauptsächlich zugedacht
war, am allerwenigsten befriedigt gefühlt hat und noch jetzt fühlt.

Und hiermit kommen wir zu dem Hauptpunkt der Frage. Nicht darnach
ist ein Wirtschaftssystem zu beurteilen, ob eine einzelne Maßregel grundsätzlich
richtig und zu billigen ist, sondern wie dieses System im ganzen wirkt, wie
es hineinpaßt in die Zeitverhältnisse und in die ganze wirtschaftliche Lage, ob
bei dem, was die Gesetzgebung übernimmt, die unabweisbaren Forderungen des
Zeitalters richtig erkannt werden und ihnen möglichst entsprochen wird. Es ist
die Achillesferse dieser Wirtschaftspolitik, daß sie sich die "Hebung der Land¬
wirtschaft" zur Aufgabe stellte. Es wurde dabei nicht bedacht, daß die beklagte
Lage der Landwirtschaft, die doch bei weitem nicht so schlimm ist, wie sie
dargestellt wird, bewirkt worden ist durch eine gewaltige wirtschaftliche Um¬
wälzung, und daß die Staatsgewalt nicht imstande ist, diese Wirkungen ab-


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sprochen hat. Und da muß denn am meisten auffallen das Mißverhältnis
zwischen dem, was angekündigt wurde, und dem, was erreicht worden ist.
Ganz im Gegensatz zu den großartigen Erfolgen des Fürsten Bismarck auf
dem Gebiete der auswärtigen Politik ist das Ziel, das man sich bei der Ein¬
leitung der erwähnten Wirtschaftspolitik steckte, nicht erreicht worden; dafür
sind aber Bestrebungen wachgerufen worden und immer mehr erstarkt, die
schließlich der Staatsgewalt selbst höchst unbequem wurden. Die gesamten
Bestrebungen, die unter dem. Namen der Interessenpolitik zusammengefaßt
werden, sind in diesem Zeitraume mächtig angewachsen, und wenn zu Anfang
angenommen wurde, daß sie leicht zu befriedigen seien, daß es nur einer gering¬
fügigen Änderung der wirtschaftlichen Gesetzgebung bedürfe, um einen „Auf¬
schwung" herbeizuführen und Wohlstand hervorzuzaubern, so hat sich später
herausgestellt, daß die Jnteressenpolitiker immer tiefere und verhängnisvollere
Eingriffe in das wirtschaftliche Leben verlangten, daß sie trotz aller Zu¬
geständnisse nie zufrieden waren, und daß diese Unzufriedenheit auch eine gewisse
Berechtigung hatte, wenn einmal von der Staatsgewalt die Leistungen erwartet
werden konnten und durften, die von den Förderern dieser Bestrebungen von
Anfang an in Aussicht gestellt waren.

Der Fehler lag also offenbar in der Überschätzung der Fähigkeiten der
Gesetzgebung; er lag darin, daß allgemeine wirtschaftliche Erscheinungen den
Wirkungen der Gesetzgebung eines einzelnen Landes zugeschrieben wurden, und
daß man dann glaubte, durch Änderung dieser Gesetzgebung eine „nationale
Wirtschaftspolitik" ausschließlich auf die Bedürfnisse dieses Landes begründen
zu können, wobei übersehen wurde, daß man dadurch im Auslande den Anreiz
zu ähnlichen Bestrebungen gab und zu Maßregeln, die der „nationalen Arbeit,"
die man durch das System aufs beste zu schützen glaubte, verhängnisvoll
wurden. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie verschieden sich die einzelnen
Zweige der nationalen Arbeit bei diesem System befanden, und daß sich gerade
der Arbeitszweig, der Verufsstand, dem der „Schutz" hauptsächlich zugedacht
war, am allerwenigsten befriedigt gefühlt hat und noch jetzt fühlt.

Und hiermit kommen wir zu dem Hauptpunkt der Frage. Nicht darnach
ist ein Wirtschaftssystem zu beurteilen, ob eine einzelne Maßregel grundsätzlich
richtig und zu billigen ist, sondern wie dieses System im ganzen wirkt, wie
es hineinpaßt in die Zeitverhältnisse und in die ganze wirtschaftliche Lage, ob
bei dem, was die Gesetzgebung übernimmt, die unabweisbaren Forderungen des
Zeitalters richtig erkannt werden und ihnen möglichst entsprochen wird. Es ist
die Achillesferse dieser Wirtschaftspolitik, daß sie sich die „Hebung der Land¬
wirtschaft" zur Aufgabe stellte. Es wurde dabei nicht bedacht, daß die beklagte
Lage der Landwirtschaft, die doch bei weitem nicht so schlimm ist, wie sie
dargestellt wird, bewirkt worden ist durch eine gewaltige wirtschaftliche Um¬
wälzung, und daß die Staatsgewalt nicht imstande ist, diese Wirkungen ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/156>, abgerufen am 01.09.2024.