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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zur Frauenfrage.

Gustav Gerok hat unter dem Titel Frauenabende
(Stuttgart, Karl Krabbe, 1396) sechs zartsinnige und ansprechende Vorträge heraus¬
gegeben, von denen er selbst bescheiden sagt, daß sie nichts neues enthielten und
Wohl ungedruckt hätten bleiben können; "allein nachdem den Teilnehmern die Zu-
sicherung nachheriger Veröffentlichung gegeben worden ist, könnte ein Unterlassen
derselben den Schein erwecken, als ob das Gesprochne die Öffentlichkeit zu scheuen
hätte." Das haben sie nun freilich nicht, und sie verdienen auch die Veröffentlichung
mehr als viele weit unbedeutendere Leistungen. Gerok teilt den Standpunkt mehrerer
Mitarbeiter der Christlichen Welt und macht dem Apostel Paulus den Vorwurf,
daß er im Gegensatz zu Christus das Weib Herabdrücke; er stellte Seite 2l den
Grundsatz auf: "Da der Satz: die Frau gehört ins Haus, heute nicht mehr haltbar ist,
muß unsre Richtlinie vielmehr werden: die Frau muß in der Welt zu Hause sein."
Ungefähr denselben Standpunkt nimmt Fran Elisabeth Gräuel-Kühne ein, die
auf dem vorjährigen Evangelisch-sozialen Kongreß einen Vortrag über Die soziale
Lage der Frau gehalten und ihn dann bei Otto Liebmann in Berlin heraus¬
gegeben hat. -- Bedeutend tiefer als diese beiden geht or. Julius Duboc der
Sache auf den Grund in seiner Schrift: Fünfzig Jahre Frauenfrage in
Deutschland. Geschichte und Kritik (Leipzig, Otto Wigand, 1396). Er sagt im
Vorwort: "Die Frau der Gegenwart ist sehr geneigt, sich sin Beziehung auf die
geschichtliche" Eutwicklungs zu ihren Ungunsten zu täuschen und ihre Bedeutung in der
Vergangenheit zu unterschätzen. Sie hat sich vielfach in die Auffassung hineingelebt,
mis ob sie bisher eine Art Schneckenleben geführt habe, dem eine wesentliche Ein¬
wirkung auf das, was die Nation im Innersten bewegte, versagt geblieben sei." Er
widerlegt diesen Irrtum durch einen Überblick, der den Einfluß zuerst des heroischen,
dann des hauswaltenden Weibes*) ans die deutsche Kulturentwicklung nachweist, und
stellt dann, teilweise in Anlehnung an seine "Hundert Jahre Zeitgeist," die verschiednen
Spielarten des litterarische Weibes der Neuzeit, der poetischen, der (meist jüdischen)
geistreichen, der politischen Frau dar, wie sie in Wechselwirkung mit den philosophischen,
politischen und sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sind.
Der Schwerpunkt seiner Kritik der modernen Frauenbewegung liegt im vierten Kapitel:
Der Sklavinnen Aufstand, und zwar in folgender Gedankenreihe dieses Kapitels.
Das Weib ist nicht immer und überall an sich schwach und hilflos, aber daß Schwäche
und Hilflosigkeit als sein Geschlechtscharakter anerkannt worden sind, hat ihm eine
bevorzugte Stellung verschafft, indem dadurch der Maun verpflichtet ward, das Weib
rücksichtsvoll zu behandeln, ihm gegenüber auf den rücksichtslosen Gebrauch seiner
physischen Überlegenheit zu verzichten. Das deutsche Weib ist denn auch in den
ältern Zeiten von den Männern zwar oft rauh, aber im allgemeinen nicht roh be¬
handelt worden; und eben in diesem auf die Männerwelt ausgeübten Zwange zum
Rücksichtnehmen besteht eine der Kulturleistungen der deutschen Fran. Unser heutiges
Zeitalter der freien Konkurrenz und des Weltverkehrs, das jeden einzelnen zwingt,
vorwärts zu stürmen ohne Rücksicht auf die, die er umstößt und zertritt, hat den
Grundsatz unbedingter Rücksichtslosigkeit zur Geltung gebracht. Das heutige Er-



*) Dazwischen stehen die fürstlichen Frauen, namentlich die des sächsischen Kaiserhauses,die Klöster als Frauenbildungsanstalten gründen und zum Teil leiten; Duboc nennt aus der
sächsischen Zeit nur die Hroswitha, die keineswegs die bedeutendste war.
Zur Frauenfrage.

Gustav Gerok hat unter dem Titel Frauenabende
(Stuttgart, Karl Krabbe, 1396) sechs zartsinnige und ansprechende Vorträge heraus¬
gegeben, von denen er selbst bescheiden sagt, daß sie nichts neues enthielten und
Wohl ungedruckt hätten bleiben können; „allein nachdem den Teilnehmern die Zu-
sicherung nachheriger Veröffentlichung gegeben worden ist, könnte ein Unterlassen
derselben den Schein erwecken, als ob das Gesprochne die Öffentlichkeit zu scheuen
hätte." Das haben sie nun freilich nicht, und sie verdienen auch die Veröffentlichung
mehr als viele weit unbedeutendere Leistungen. Gerok teilt den Standpunkt mehrerer
Mitarbeiter der Christlichen Welt und macht dem Apostel Paulus den Vorwurf,
daß er im Gegensatz zu Christus das Weib Herabdrücke; er stellte Seite 2l den
Grundsatz auf: „Da der Satz: die Frau gehört ins Haus, heute nicht mehr haltbar ist,
muß unsre Richtlinie vielmehr werden: die Frau muß in der Welt zu Hause sein."
Ungefähr denselben Standpunkt nimmt Fran Elisabeth Gräuel-Kühne ein, die
auf dem vorjährigen Evangelisch-sozialen Kongreß einen Vortrag über Die soziale
Lage der Frau gehalten und ihn dann bei Otto Liebmann in Berlin heraus¬
gegeben hat. — Bedeutend tiefer als diese beiden geht or. Julius Duboc der
Sache auf den Grund in seiner Schrift: Fünfzig Jahre Frauenfrage in
Deutschland. Geschichte und Kritik (Leipzig, Otto Wigand, 1396). Er sagt im
Vorwort: „Die Frau der Gegenwart ist sehr geneigt, sich sin Beziehung auf die
geschichtliche" Eutwicklungs zu ihren Ungunsten zu täuschen und ihre Bedeutung in der
Vergangenheit zu unterschätzen. Sie hat sich vielfach in die Auffassung hineingelebt,
mis ob sie bisher eine Art Schneckenleben geführt habe, dem eine wesentliche Ein¬
wirkung auf das, was die Nation im Innersten bewegte, versagt geblieben sei." Er
widerlegt diesen Irrtum durch einen Überblick, der den Einfluß zuerst des heroischen,
dann des hauswaltenden Weibes*) ans die deutsche Kulturentwicklung nachweist, und
stellt dann, teilweise in Anlehnung an seine „Hundert Jahre Zeitgeist," die verschiednen
Spielarten des litterarische Weibes der Neuzeit, der poetischen, der (meist jüdischen)
geistreichen, der politischen Frau dar, wie sie in Wechselwirkung mit den philosophischen,
politischen und sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sind.
Der Schwerpunkt seiner Kritik der modernen Frauenbewegung liegt im vierten Kapitel:
Der Sklavinnen Aufstand, und zwar in folgender Gedankenreihe dieses Kapitels.
Das Weib ist nicht immer und überall an sich schwach und hilflos, aber daß Schwäche
und Hilflosigkeit als sein Geschlechtscharakter anerkannt worden sind, hat ihm eine
bevorzugte Stellung verschafft, indem dadurch der Maun verpflichtet ward, das Weib
rücksichtsvoll zu behandeln, ihm gegenüber auf den rücksichtslosen Gebrauch seiner
physischen Überlegenheit zu verzichten. Das deutsche Weib ist denn auch in den
ältern Zeiten von den Männern zwar oft rauh, aber im allgemeinen nicht roh be¬
handelt worden; und eben in diesem auf die Männerwelt ausgeübten Zwange zum
Rücksichtnehmen besteht eine der Kulturleistungen der deutschen Fran. Unser heutiges
Zeitalter der freien Konkurrenz und des Weltverkehrs, das jeden einzelnen zwingt,
vorwärts zu stürmen ohne Rücksicht auf die, die er umstößt und zertritt, hat den
Grundsatz unbedingter Rücksichtslosigkeit zur Geltung gebracht. Das heutige Er-



*) Dazwischen stehen die fürstlichen Frauen, namentlich die des sächsischen Kaiserhauses,die Klöster als Frauenbildungsanstalten gründen und zum Teil leiten; Duboc nennt aus der
sächsischen Zeit nur die Hroswitha, die keineswegs die bedeutendste war.
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[0149] Zur Frauenfrage. Gustav Gerok hat unter dem Titel Frauenabende (Stuttgart, Karl Krabbe, 1396) sechs zartsinnige und ansprechende Vorträge heraus¬ gegeben, von denen er selbst bescheiden sagt, daß sie nichts neues enthielten und Wohl ungedruckt hätten bleiben können; „allein nachdem den Teilnehmern die Zu- sicherung nachheriger Veröffentlichung gegeben worden ist, könnte ein Unterlassen derselben den Schein erwecken, als ob das Gesprochne die Öffentlichkeit zu scheuen hätte." Das haben sie nun freilich nicht, und sie verdienen auch die Veröffentlichung mehr als viele weit unbedeutendere Leistungen. Gerok teilt den Standpunkt mehrerer Mitarbeiter der Christlichen Welt und macht dem Apostel Paulus den Vorwurf, daß er im Gegensatz zu Christus das Weib Herabdrücke; er stellte Seite 2l den Grundsatz auf: „Da der Satz: die Frau gehört ins Haus, heute nicht mehr haltbar ist, muß unsre Richtlinie vielmehr werden: die Frau muß in der Welt zu Hause sein." Ungefähr denselben Standpunkt nimmt Fran Elisabeth Gräuel-Kühne ein, die auf dem vorjährigen Evangelisch-sozialen Kongreß einen Vortrag über Die soziale Lage der Frau gehalten und ihn dann bei Otto Liebmann in Berlin heraus¬ gegeben hat. — Bedeutend tiefer als diese beiden geht or. Julius Duboc der Sache auf den Grund in seiner Schrift: Fünfzig Jahre Frauenfrage in Deutschland. Geschichte und Kritik (Leipzig, Otto Wigand, 1396). Er sagt im Vorwort: „Die Frau der Gegenwart ist sehr geneigt, sich sin Beziehung auf die geschichtliche" Eutwicklungs zu ihren Ungunsten zu täuschen und ihre Bedeutung in der Vergangenheit zu unterschätzen. Sie hat sich vielfach in die Auffassung hineingelebt, mis ob sie bisher eine Art Schneckenleben geführt habe, dem eine wesentliche Ein¬ wirkung auf das, was die Nation im Innersten bewegte, versagt geblieben sei." Er widerlegt diesen Irrtum durch einen Überblick, der den Einfluß zuerst des heroischen, dann des hauswaltenden Weibes*) ans die deutsche Kulturentwicklung nachweist, und stellt dann, teilweise in Anlehnung an seine „Hundert Jahre Zeitgeist," die verschiednen Spielarten des litterarische Weibes der Neuzeit, der poetischen, der (meist jüdischen) geistreichen, der politischen Frau dar, wie sie in Wechselwirkung mit den philosophischen, politischen und sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sind. Der Schwerpunkt seiner Kritik der modernen Frauenbewegung liegt im vierten Kapitel: Der Sklavinnen Aufstand, und zwar in folgender Gedankenreihe dieses Kapitels. Das Weib ist nicht immer und überall an sich schwach und hilflos, aber daß Schwäche und Hilflosigkeit als sein Geschlechtscharakter anerkannt worden sind, hat ihm eine bevorzugte Stellung verschafft, indem dadurch der Maun verpflichtet ward, das Weib rücksichtsvoll zu behandeln, ihm gegenüber auf den rücksichtslosen Gebrauch seiner physischen Überlegenheit zu verzichten. Das deutsche Weib ist denn auch in den ältern Zeiten von den Männern zwar oft rauh, aber im allgemeinen nicht roh be¬ handelt worden; und eben in diesem auf die Männerwelt ausgeübten Zwange zum Rücksichtnehmen besteht eine der Kulturleistungen der deutschen Fran. Unser heutiges Zeitalter der freien Konkurrenz und des Weltverkehrs, das jeden einzelnen zwingt, vorwärts zu stürmen ohne Rücksicht auf die, die er umstößt und zertritt, hat den Grundsatz unbedingter Rücksichtslosigkeit zur Geltung gebracht. Das heutige Er- *) Dazwischen stehen die fürstlichen Frauen, namentlich die des sächsischen Kaiserhauses,die Klöster als Frauenbildungsanstalten gründen und zum Teil leiten; Duboc nennt aus der sächsischen Zeit nur die Hroswitha, die keineswegs die bedeutendste war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/149>, abgerufen am 22.11.2024.