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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Richard Mulder und die deutsche Kunstwissenschaft

S. 165) in der Kunstgeschichte allenfalls das Naturgesetz gelten läßt, "nach
dem im Juli andre Blumen blühen als im Mai," der (Bd. 2, S. 3) ein hohes
Lied auf sg. in^L8to 1<z ImsarÄ, als das schließlich einzig Maßgebende singt,
ein Mann, der nur Temperamentsergüsse geben will -- überhaupt die Finger
von der Wissenschaft lassen und sich auf die Journalistik beschränken. Wohl
wissen wir alle, daß wir nicht imstande sind und nie imstande sein werden,
durch allgemein giltige Bestimmungen und Gesetze zu definiren, was wahr,
gut und schön ist. Daß diese Begriffe eben nnr Ergebnisse eines fortdauernden
Prozesses in unserm Denken, Wollen und Fühlen find, darin liegt die Un¬
möglichkeit ausgesprochen, für alle Zeiten und Nationen giltige Definitionen
aufzustellen. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß jene Begriffe willkür¬
lich seien, daß also nur das Subjekt, das "Temperament" zu entscheiden habe,
das heißt den Nihilismus predigen, den Fortschritt in der Gesamteutwicklung
der Menschheit leugnen. Wer das thut, wie es I. I. Rousseau gethan hat,
der wird, wie ich mit Schafter sage, nicht eher Recht behalten, als bis er
jahrelang unter Wilden gelebt hat und dann zurückkehrend bestätigt, sie wären
besser dran als wir. Wenn wir auch in der Definition jener Begriffe nicht
zum Ziele kommen können, so dürfen wir doch nicht das Streben darnach
aufgeben, die Hoffnung, zu immer bestimmterer, giltigerer Fnsfung zu ge¬
langen. Das nachspüren nach diesen Gesetzen ist eine Hauptthütigkcit der
Wissenschaft, und die Überzeugung von dem Vorhandensein einer solchen gesetz¬
müßigen Entwicklung ihre Grundlage. Sobald man sich lediglich auf das
Temperament des Urteilenden verläßt, hört die Wissenschaft auf. Die Stimme,
die Mulder erhebt, ist die Friedrich Nietzsches, des unglücklichen Apostels des
schrankenlosen Individualismus. Wer so nur sich selbst zum Maße der Dinge
macht, der zerstört die Wissenschaft. Wem fiele da nicht Mephistos höhnender
Ruf ein: "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste
Kraft!"

Es ist ja sehr bequem, zu sagen: "Ich gebe nur Subjektives," schildre die
Kunst nur "gesehen dnrch mein Temperament." Aber diese Erklärung ist
wertlos. Denn wenn Mulder seine Temperamentsergüsse nicht für sich behält,
sondern herausgiebt, so will er doch offenbar auf andre wirken, beabsichtigt er doch,
seiner subjektiven Ansicht objektive Giltigkeit zu verschaffen, nicht bloß die Leser
nach Art des Feuilletonisten mit seinen Temperamentsergüsfen zu unterhalten.
Damit wendet er sich also doch an das Vorhandensein gemeinsamer Grund¬
lagen der Erkenntnis bei andern, die er andrerseits in den oben angeführten
Sätzen leugnet.

Giebt man zu, daß wir im eignen Leben genötigt sind, Gesetze gelten zu
lassen, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir nur das Temperament walten
lassen und uns damit begnügen, Ursache und Wirkung unsres Handelns fest¬
zustellen, so muß man auch das Recht und die Pflicht anerkennen, dem Werden


Richard Mulder und die deutsche Kunstwissenschaft

S. 165) in der Kunstgeschichte allenfalls das Naturgesetz gelten läßt, „nach
dem im Juli andre Blumen blühen als im Mai," der (Bd. 2, S. 3) ein hohes
Lied auf sg. in^L8to 1<z ImsarÄ, als das schließlich einzig Maßgebende singt,
ein Mann, der nur Temperamentsergüsse geben will — überhaupt die Finger
von der Wissenschaft lassen und sich auf die Journalistik beschränken. Wohl
wissen wir alle, daß wir nicht imstande sind und nie imstande sein werden,
durch allgemein giltige Bestimmungen und Gesetze zu definiren, was wahr,
gut und schön ist. Daß diese Begriffe eben nnr Ergebnisse eines fortdauernden
Prozesses in unserm Denken, Wollen und Fühlen find, darin liegt die Un¬
möglichkeit ausgesprochen, für alle Zeiten und Nationen giltige Definitionen
aufzustellen. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß jene Begriffe willkür¬
lich seien, daß also nur das Subjekt, das „Temperament" zu entscheiden habe,
das heißt den Nihilismus predigen, den Fortschritt in der Gesamteutwicklung
der Menschheit leugnen. Wer das thut, wie es I. I. Rousseau gethan hat,
der wird, wie ich mit Schafter sage, nicht eher Recht behalten, als bis er
jahrelang unter Wilden gelebt hat und dann zurückkehrend bestätigt, sie wären
besser dran als wir. Wenn wir auch in der Definition jener Begriffe nicht
zum Ziele kommen können, so dürfen wir doch nicht das Streben darnach
aufgeben, die Hoffnung, zu immer bestimmterer, giltigerer Fnsfung zu ge¬
langen. Das nachspüren nach diesen Gesetzen ist eine Hauptthütigkcit der
Wissenschaft, und die Überzeugung von dem Vorhandensein einer solchen gesetz¬
müßigen Entwicklung ihre Grundlage. Sobald man sich lediglich auf das
Temperament des Urteilenden verläßt, hört die Wissenschaft auf. Die Stimme,
die Mulder erhebt, ist die Friedrich Nietzsches, des unglücklichen Apostels des
schrankenlosen Individualismus. Wer so nur sich selbst zum Maße der Dinge
macht, der zerstört die Wissenschaft. Wem fiele da nicht Mephistos höhnender
Ruf ein: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste
Kraft!»

Es ist ja sehr bequem, zu sagen: „Ich gebe nur Subjektives," schildre die
Kunst nur „gesehen dnrch mein Temperament." Aber diese Erklärung ist
wertlos. Denn wenn Mulder seine Temperamentsergüsse nicht für sich behält,
sondern herausgiebt, so will er doch offenbar auf andre wirken, beabsichtigt er doch,
seiner subjektiven Ansicht objektive Giltigkeit zu verschaffen, nicht bloß die Leser
nach Art des Feuilletonisten mit seinen Temperamentsergüsfen zu unterhalten.
Damit wendet er sich also doch an das Vorhandensein gemeinsamer Grund¬
lagen der Erkenntnis bei andern, die er andrerseits in den oben angeführten
Sätzen leugnet.

Giebt man zu, daß wir im eignen Leben genötigt sind, Gesetze gelten zu
lassen, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir nur das Temperament walten
lassen und uns damit begnügen, Ursache und Wirkung unsres Handelns fest¬
zustellen, so muß man auch das Recht und die Pflicht anerkennen, dem Werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/135>, abgerufen am 01.09.2024.