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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Schulprogramme

hat es wenigstens in seinen Hauptzügen erfaßt. Durch Lesen, besonders auf
andern Wissensgebieten, und durch Umgang mit Leuten andrer Berufsarten
hat er sich menschlich weiter gebildet. Auch die geselligen Vergnügungen, denen
sich der junge Lehrer um so lieber hingegeben hat, als ihm seine Studenten¬
jahre jetzt dazu immer weniger Zeit übrig lassen, haben nicht mehr ihren ersten
Reiz, und so entsteht bei den tüchtigem Naturen von Tag zu Tag mehr das
Bedürfnis, sich über die kleinen und oft kleinlichen Dinge ihrer täglichen Be¬
schäftigung in das Reich des Geistes zu erheben, und in ernster Bemühung
um die Wissenschaft das seelische Gleichgewicht zu finden, das eins der höchsten
Güter des Menschendaseins darstellt. So setzt denn, ganz aus eignem An¬
trieb, der eine früher, der andre später, an der oder jener Stelle ein, die er
als Student und junger Doktor verlassen hat, und von hier aus arbeitet er
weiter, immer sein Wissen bereichernd und vertiefend, und so wird er ein
wissenschaftlich gebildeter und fortwährend sich weiter bildender Mann und ein
Lehrer, dessen fortschreitendes Wissen die höhere Lehranstalt, die selbst ihre
Schüler zu wissenschaftlicher Thätigkeit erziehen will, ebenso gut und so nötig
braucht wie seine pädagogischen Fertigkeiten. Ob er dabei immer die Zeit
finden wird, und ob ihn der Geist treiben wird, die gewonnenen Kenntnisse
und Gedanken auch niederzuschreiben, ist die Frage; nicht jeder, der wissen¬
schaftlichen Sinn hat, ist eine produktive Natur. Es ist das auch gar nicht
nötig, denn Wissenschaftlichkeit bekundet sich nicht bloß in einer langen Reihe
von Bänden.

Es hat natürlich von jeher unter den akademisch gebildeten Lehrern Deutsch¬
lands eine gute Anzahl von Leuten gegeben, die das Bedürfnis empfanden,
sich über ihre Gedankenarbeit auch auszusprechen. Für diese war seinerzeit
die Beigabe einer wissenschaftlichen Abhandlung zu dem Programm eine will-
kommne Gelegenheit dazu; sie wurde um so freudiger begrüßt, als sich
sonst kaum die Möglichkeit zeigte, eine wissenschaftliche Untersuchung an den
Mann zu bringen. Heute aber steht das anders. Für den produktiven Kopf
öffnet sich heute in der unabsehbaren Reihe wissenschaftlicher Zeitschriften eine
weite Arena, um sich zu tummeln, ein viel weiterer Platz, als z. B. im Jahre
1824, wo durch ein preußisches Ministerialreskript neben den Direktoren die
Oberlehrer (später auch die ordentlichen Lehrer) zur Abfassung der Programm¬
abhandlung herangezogen wurden. Das "Programm" ist dazu nicht mehr
nötig, und die von seinen Freunden geäußerte Befürchtung, daß ohne diese
Nötigung manche gute Arbeit nicht das Tageslicht erblickt haben würde, muß
wohl gegen die Kehrseite der Einrichtung zurücktreten, nämlich gegen die un¬
bestreitbare Thatsache, daß neben vielen guten Weizenkörnern auch eine Menge
von Spreu in diesen Abhandlungen zu Tage gefördert wird, die eine Weile,
die wissenschaftliche Luft verdunkelnd, umherfliegt, um schließlich als nutzloser
Niederschlag zu Boden zu sinken.


Die Schulprogramme

hat es wenigstens in seinen Hauptzügen erfaßt. Durch Lesen, besonders auf
andern Wissensgebieten, und durch Umgang mit Leuten andrer Berufsarten
hat er sich menschlich weiter gebildet. Auch die geselligen Vergnügungen, denen
sich der junge Lehrer um so lieber hingegeben hat, als ihm seine Studenten¬
jahre jetzt dazu immer weniger Zeit übrig lassen, haben nicht mehr ihren ersten
Reiz, und so entsteht bei den tüchtigem Naturen von Tag zu Tag mehr das
Bedürfnis, sich über die kleinen und oft kleinlichen Dinge ihrer täglichen Be¬
schäftigung in das Reich des Geistes zu erheben, und in ernster Bemühung
um die Wissenschaft das seelische Gleichgewicht zu finden, das eins der höchsten
Güter des Menschendaseins darstellt. So setzt denn, ganz aus eignem An¬
trieb, der eine früher, der andre später, an der oder jener Stelle ein, die er
als Student und junger Doktor verlassen hat, und von hier aus arbeitet er
weiter, immer sein Wissen bereichernd und vertiefend, und so wird er ein
wissenschaftlich gebildeter und fortwährend sich weiter bildender Mann und ein
Lehrer, dessen fortschreitendes Wissen die höhere Lehranstalt, die selbst ihre
Schüler zu wissenschaftlicher Thätigkeit erziehen will, ebenso gut und so nötig
braucht wie seine pädagogischen Fertigkeiten. Ob er dabei immer die Zeit
finden wird, und ob ihn der Geist treiben wird, die gewonnenen Kenntnisse
und Gedanken auch niederzuschreiben, ist die Frage; nicht jeder, der wissen¬
schaftlichen Sinn hat, ist eine produktive Natur. Es ist das auch gar nicht
nötig, denn Wissenschaftlichkeit bekundet sich nicht bloß in einer langen Reihe
von Bänden.

Es hat natürlich von jeher unter den akademisch gebildeten Lehrern Deutsch¬
lands eine gute Anzahl von Leuten gegeben, die das Bedürfnis empfanden,
sich über ihre Gedankenarbeit auch auszusprechen. Für diese war seinerzeit
die Beigabe einer wissenschaftlichen Abhandlung zu dem Programm eine will-
kommne Gelegenheit dazu; sie wurde um so freudiger begrüßt, als sich
sonst kaum die Möglichkeit zeigte, eine wissenschaftliche Untersuchung an den
Mann zu bringen. Heute aber steht das anders. Für den produktiven Kopf
öffnet sich heute in der unabsehbaren Reihe wissenschaftlicher Zeitschriften eine
weite Arena, um sich zu tummeln, ein viel weiterer Platz, als z. B. im Jahre
1824, wo durch ein preußisches Ministerialreskript neben den Direktoren die
Oberlehrer (später auch die ordentlichen Lehrer) zur Abfassung der Programm¬
abhandlung herangezogen wurden. Das „Programm" ist dazu nicht mehr
nötig, und die von seinen Freunden geäußerte Befürchtung, daß ohne diese
Nötigung manche gute Arbeit nicht das Tageslicht erblickt haben würde, muß
wohl gegen die Kehrseite der Einrichtung zurücktreten, nämlich gegen die un¬
bestreitbare Thatsache, daß neben vielen guten Weizenkörnern auch eine Menge
von Spreu in diesen Abhandlungen zu Tage gefördert wird, die eine Weile,
die wissenschaftliche Luft verdunkelnd, umherfliegt, um schließlich als nutzloser
Niederschlag zu Boden zu sinken.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/124>, abgerufen am 01.09.2024.