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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Gin Kampf gegen Windmühlen

Das ist der volkswirtschaftliche Grund, der uns abhält, im Vertrauen auf
die Entwicklungsfähigkeit unsrer Großindustrie der Zukunft unsers Volkes mit
solchem Optimismus entgegenzusehen wie Schulze-Gävernitz. Zu diesem volks¬
wirtschaftlichen kommt aber noch ein sozialer Grund. Borster wendet sich gegen
die Phrase vom Ruin des Mittelstandes und weist darauf hin, wie viel mittlere
Einkommen durch die Großindustrie geschaffen werden. Auch hier ist es ein
Elend, wie in allgemeinen Redensarten hin und her gestritten wird, anstatt
daß man fpczialisirte, wie wir das stets thun und insbesondre in dem Streit
zwischen Großindustrie und Handwerk gethan haben. Der Lokomotivenbauer
vernichtet kein Handwerk, denn Lokomotiven können nicht im Hinterstübchen
und auch nicht in einer gewöhnlichen Werkstatt gebaut werden, aber der Kon¬
fektionär thut es, denn Röcke können im Hinterstübchen gebaut werden, und
werden sogar noch auf Bestellung des Konfektionärs dort gebaut. Worauf es
uns aber diesmal ankommt, das ist, uoch einmal auf die Verwirrung hin¬
zuweisen, die mit dem mehrdeutigen Worte Mittelstand angerichtet wird. Leute
wie Vorster verstehen darunter die Gesamtheit der Personen, die ein mittleres
Einkommen beziehen. Aber der Mittelstand im sozialen Sinne ist etwas ganz
andres, er ist die Gesamtheit der Bauern, Handwerker und selbständigen kleinen
Kaufleute. Dieser Mittelstand besteht aus Personen, die an die Scholle ge¬
bunden sind, und die zunächst örtliche Interessen haben, daher sich nicht leicht
durchs ganze Land hin solidarisch fühlen und in einen Klassengegensatz zu den
übrigen Bestandteilen des Staates geraten. Der Mittelstand hingegen, den
die Einkommensteuerlisten ergeben, setzt sich zu einem großen Teil aus Beamten
des Staats und aus Angestellten und höhern Arbeitern der Großindustrie und
des Großhandels zusammen. Die sind nicht an die Scholle gebunden, fühlen
sich solidarisch mit allen ihren Standesgenossen verbunden und geraten leicht
in einen Klassengegensatz zu den übrigen Ständen. Der gemeine Mann ist
geneigt, den Staatsbeamten als einen Schmarotzer der produktiven Stunde zu
hassen. Das ist zwar Thorheit, aber es ist ihm um so mehr zu verzeihen,
als ein großer Staatsmann vor achtzehn Jahren die neue Wirtschaftspolitik
mit Klagen über die Leute eingeleitet hat, die ihren festen Gehalt beziehen und
von Sonnenschein und Regen unabhängig sind, und als dieser selbe große
Staatsmann vorm Jahre die Mitglieder der Bureaukratie geradezu Drohnen
gescholten hat. Die mit Mittlerin Einkommen ausgestatteten Arbeiter der Gro߬
industrie aber sühlen sich, je nachdem, entweder mit den Unternehmern gegen
die übrige Arbeiterschaft, oder mit den übrigen Arbeitern gegen die Unter¬
nehmer solidarisch. Und was die Hauptsache ist, die Großindustrie hat einen
zahlreichen vierten Stand zur Voraussetzung, der bei der ältern sozialen Schich¬
tung gar nicht oder nur in wenigen, durch ihre geringe Zahl ungefährlichen
Exemplaren vorhanden war. Die Handwerksgesellen und Bauerknechte machen
u> Zeiten und Gegenden, die sich großen Landreichtums erfreuen, keinen be-


Grenzboten III 1396 14
Gin Kampf gegen Windmühlen

Das ist der volkswirtschaftliche Grund, der uns abhält, im Vertrauen auf
die Entwicklungsfähigkeit unsrer Großindustrie der Zukunft unsers Volkes mit
solchem Optimismus entgegenzusehen wie Schulze-Gävernitz. Zu diesem volks¬
wirtschaftlichen kommt aber noch ein sozialer Grund. Borster wendet sich gegen
die Phrase vom Ruin des Mittelstandes und weist darauf hin, wie viel mittlere
Einkommen durch die Großindustrie geschaffen werden. Auch hier ist es ein
Elend, wie in allgemeinen Redensarten hin und her gestritten wird, anstatt
daß man fpczialisirte, wie wir das stets thun und insbesondre in dem Streit
zwischen Großindustrie und Handwerk gethan haben. Der Lokomotivenbauer
vernichtet kein Handwerk, denn Lokomotiven können nicht im Hinterstübchen
und auch nicht in einer gewöhnlichen Werkstatt gebaut werden, aber der Kon¬
fektionär thut es, denn Röcke können im Hinterstübchen gebaut werden, und
werden sogar noch auf Bestellung des Konfektionärs dort gebaut. Worauf es
uns aber diesmal ankommt, das ist, uoch einmal auf die Verwirrung hin¬
zuweisen, die mit dem mehrdeutigen Worte Mittelstand angerichtet wird. Leute
wie Vorster verstehen darunter die Gesamtheit der Personen, die ein mittleres
Einkommen beziehen. Aber der Mittelstand im sozialen Sinne ist etwas ganz
andres, er ist die Gesamtheit der Bauern, Handwerker und selbständigen kleinen
Kaufleute. Dieser Mittelstand besteht aus Personen, die an die Scholle ge¬
bunden sind, und die zunächst örtliche Interessen haben, daher sich nicht leicht
durchs ganze Land hin solidarisch fühlen und in einen Klassengegensatz zu den
übrigen Bestandteilen des Staates geraten. Der Mittelstand hingegen, den
die Einkommensteuerlisten ergeben, setzt sich zu einem großen Teil aus Beamten
des Staats und aus Angestellten und höhern Arbeitern der Großindustrie und
des Großhandels zusammen. Die sind nicht an die Scholle gebunden, fühlen
sich solidarisch mit allen ihren Standesgenossen verbunden und geraten leicht
in einen Klassengegensatz zu den übrigen Ständen. Der gemeine Mann ist
geneigt, den Staatsbeamten als einen Schmarotzer der produktiven Stunde zu
hassen. Das ist zwar Thorheit, aber es ist ihm um so mehr zu verzeihen,
als ein großer Staatsmann vor achtzehn Jahren die neue Wirtschaftspolitik
mit Klagen über die Leute eingeleitet hat, die ihren festen Gehalt beziehen und
von Sonnenschein und Regen unabhängig sind, und als dieser selbe große
Staatsmann vorm Jahre die Mitglieder der Bureaukratie geradezu Drohnen
gescholten hat. Die mit Mittlerin Einkommen ausgestatteten Arbeiter der Gro߬
industrie aber sühlen sich, je nachdem, entweder mit den Unternehmern gegen
die übrige Arbeiterschaft, oder mit den übrigen Arbeitern gegen die Unter¬
nehmer solidarisch. Und was die Hauptsache ist, die Großindustrie hat einen
zahlreichen vierten Stand zur Voraussetzung, der bei der ältern sozialen Schich¬
tung gar nicht oder nur in wenigen, durch ihre geringe Zahl ungefährlichen
Exemplaren vorhanden war. Die Handwerksgesellen und Bauerknechte machen
u> Zeiten und Gegenden, die sich großen Landreichtums erfreuen, keinen be-


Grenzboten III 1396 14
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[0113] Gin Kampf gegen Windmühlen Das ist der volkswirtschaftliche Grund, der uns abhält, im Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit unsrer Großindustrie der Zukunft unsers Volkes mit solchem Optimismus entgegenzusehen wie Schulze-Gävernitz. Zu diesem volks¬ wirtschaftlichen kommt aber noch ein sozialer Grund. Borster wendet sich gegen die Phrase vom Ruin des Mittelstandes und weist darauf hin, wie viel mittlere Einkommen durch die Großindustrie geschaffen werden. Auch hier ist es ein Elend, wie in allgemeinen Redensarten hin und her gestritten wird, anstatt daß man fpczialisirte, wie wir das stets thun und insbesondre in dem Streit zwischen Großindustrie und Handwerk gethan haben. Der Lokomotivenbauer vernichtet kein Handwerk, denn Lokomotiven können nicht im Hinterstübchen und auch nicht in einer gewöhnlichen Werkstatt gebaut werden, aber der Kon¬ fektionär thut es, denn Röcke können im Hinterstübchen gebaut werden, und werden sogar noch auf Bestellung des Konfektionärs dort gebaut. Worauf es uns aber diesmal ankommt, das ist, uoch einmal auf die Verwirrung hin¬ zuweisen, die mit dem mehrdeutigen Worte Mittelstand angerichtet wird. Leute wie Vorster verstehen darunter die Gesamtheit der Personen, die ein mittleres Einkommen beziehen. Aber der Mittelstand im sozialen Sinne ist etwas ganz andres, er ist die Gesamtheit der Bauern, Handwerker und selbständigen kleinen Kaufleute. Dieser Mittelstand besteht aus Personen, die an die Scholle ge¬ bunden sind, und die zunächst örtliche Interessen haben, daher sich nicht leicht durchs ganze Land hin solidarisch fühlen und in einen Klassengegensatz zu den übrigen Bestandteilen des Staates geraten. Der Mittelstand hingegen, den die Einkommensteuerlisten ergeben, setzt sich zu einem großen Teil aus Beamten des Staats und aus Angestellten und höhern Arbeitern der Großindustrie und des Großhandels zusammen. Die sind nicht an die Scholle gebunden, fühlen sich solidarisch mit allen ihren Standesgenossen verbunden und geraten leicht in einen Klassengegensatz zu den übrigen Ständen. Der gemeine Mann ist geneigt, den Staatsbeamten als einen Schmarotzer der produktiven Stunde zu hassen. Das ist zwar Thorheit, aber es ist ihm um so mehr zu verzeihen, als ein großer Staatsmann vor achtzehn Jahren die neue Wirtschaftspolitik mit Klagen über die Leute eingeleitet hat, die ihren festen Gehalt beziehen und von Sonnenschein und Regen unabhängig sind, und als dieser selbe große Staatsmann vorm Jahre die Mitglieder der Bureaukratie geradezu Drohnen gescholten hat. Die mit Mittlerin Einkommen ausgestatteten Arbeiter der Gro߬ industrie aber sühlen sich, je nachdem, entweder mit den Unternehmern gegen die übrige Arbeiterschaft, oder mit den übrigen Arbeitern gegen die Unter¬ nehmer solidarisch. Und was die Hauptsache ist, die Großindustrie hat einen zahlreichen vierten Stand zur Voraussetzung, der bei der ältern sozialen Schich¬ tung gar nicht oder nur in wenigen, durch ihre geringe Zahl ungefährlichen Exemplaren vorhanden war. Die Handwerksgesellen und Bauerknechte machen u> Zeiten und Gegenden, die sich großen Landreichtums erfreuen, keinen be- Grenzboten III 1396 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/113>, abgerufen am 01.09.2024.