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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Frauentag in Kassel

Unklarheit führt dann zu einem so verblüffenden Satze wie dem, den Fräulein
Lange aufstellte: die Aufgabe des Mannes ist die wissenschaftliche Erkenntnis,
die der Frau die soziale That. Ausgesprochen wurde er als ein allgemein
das Geschlecht charakterisirender Satz, Sinn hat er nur, wenn man ihn auf
die obern Klassen bezieht. Denn mindestens 90 Prozent aller Männer sind
gar nicht in der Lage, sich der Wissenschaft zu widmen, und die soziale That
der Frau? Es ist klar, Fräulein Lange und ihre Freundinnen betrachten eben
die ganze Frauenfrage von dem Standpunkt der Frauen der obern Stände,
denen in dem Elend der untern Klassen sich ein Feld zur sozialen Thätigkeit
eröffnet. Es ist von der Sozialdemokratie gar nicht mit Unrecht der heutigen
Frauenbewegung der Vorwurf gemacht worden, daß sie nur die Interessen der
obern Klassen im Auge habe. Denn in Wahrheit sind die wirklich dringenden
Interessen der Arbeiterinnen ganz andrer Natur. Wenn also die Frauen-
vereinlerinueu ihren Standesgcnossinnen, die unzufrieden mit ihrem Lebens¬
inhalte sind, neue Felder der Thätigkeit eröffnen wollen und sie unter anderen
auch auf die soziale Thätigkeit hinweisen, schön! aber sie mögen nicht immer
so reden, als ob sie die Sache der Frauen schlechtweg verträten, sich als Vor¬
kämpferinnen und Beschützerinnen der unterdrückten niedern Frauenwelt auf¬
spielen. Agitatorisch bietet diese Unklarheit freilich Vorteile, und Fräulein
Lange hat leider selbst in ihrer Rede ein bedenkliches Beispiel gegeben, wie
sich die gedrückte Lage der Frauen der untern Klassen sür ihre besondern
höhern Ziele verwenden läßt.

Man hat bekanntlich gegen das Studium der Frauen auch eingewandt,
der Körper, die Gesundheit der Frauen sei nicht stark genug dazu. Gegen
diesen Grund wird sich manches einwenden lassen, aber hören wir, wie ihn
Fräulein Lange erledigt. "Solange man den Tausenden von Frauen, die
jährlich der Industrie, der Schande zum Opfer fallen, keine Thräne nachweint,
ist es pure Heuchelei, sich über die vom Studiren gebleichten Wangen der
Frauen und die Opfer, die hier fallen, aufzuhalten."") Das klingt so einfach
und überzeugend, es ist auch nur ein einziger Punkt dabei entstellt oder viel¬
mehr verschwiegen, aber er genügt, der Sache gleich ein ganz andres Aus¬
sehen zu geben. Gewiß gehen Tausende von Frauen in den untern Ständen
zu Grunde, aber ebenso gehen dort Tausende von Männern zu Grunde und
verkommen, ohne daß es der Staat hindert oder, um mit Fräulein Lange zu
reden, ihnen eine Thräne nachweint. Er kann es nämlich gar nicht hindern,
bei der heutigen Wirtschaftsordnung, unter deren Härte nicht nur das weih-



*) Merkwürdigerweise ist über die beiden öffentlichen Versammlungen kein Bericht in den
Zeitungen erschienen. Ich bedaure das, da gerade hier der geunue Zusammenhang, in dem
jene Äußerung gefallen ist, die Methode von Fräulein Lange deutlicher machen würde, doch
genügt auch diese Äußerung für sich, und sie ist, wie ich besonders betone, in allen wesent¬
lichen Teilen wörtlich so gefallen.
Der Frauentag in Kassel

Unklarheit führt dann zu einem so verblüffenden Satze wie dem, den Fräulein
Lange aufstellte: die Aufgabe des Mannes ist die wissenschaftliche Erkenntnis,
die der Frau die soziale That. Ausgesprochen wurde er als ein allgemein
das Geschlecht charakterisirender Satz, Sinn hat er nur, wenn man ihn auf
die obern Klassen bezieht. Denn mindestens 90 Prozent aller Männer sind
gar nicht in der Lage, sich der Wissenschaft zu widmen, und die soziale That
der Frau? Es ist klar, Fräulein Lange und ihre Freundinnen betrachten eben
die ganze Frauenfrage von dem Standpunkt der Frauen der obern Stände,
denen in dem Elend der untern Klassen sich ein Feld zur sozialen Thätigkeit
eröffnet. Es ist von der Sozialdemokratie gar nicht mit Unrecht der heutigen
Frauenbewegung der Vorwurf gemacht worden, daß sie nur die Interessen der
obern Klassen im Auge habe. Denn in Wahrheit sind die wirklich dringenden
Interessen der Arbeiterinnen ganz andrer Natur. Wenn also die Frauen-
vereinlerinueu ihren Standesgcnossinnen, die unzufrieden mit ihrem Lebens¬
inhalte sind, neue Felder der Thätigkeit eröffnen wollen und sie unter anderen
auch auf die soziale Thätigkeit hinweisen, schön! aber sie mögen nicht immer
so reden, als ob sie die Sache der Frauen schlechtweg verträten, sich als Vor¬
kämpferinnen und Beschützerinnen der unterdrückten niedern Frauenwelt auf¬
spielen. Agitatorisch bietet diese Unklarheit freilich Vorteile, und Fräulein
Lange hat leider selbst in ihrer Rede ein bedenkliches Beispiel gegeben, wie
sich die gedrückte Lage der Frauen der untern Klassen sür ihre besondern
höhern Ziele verwenden läßt.

Man hat bekanntlich gegen das Studium der Frauen auch eingewandt,
der Körper, die Gesundheit der Frauen sei nicht stark genug dazu. Gegen
diesen Grund wird sich manches einwenden lassen, aber hören wir, wie ihn
Fräulein Lange erledigt. „Solange man den Tausenden von Frauen, die
jährlich der Industrie, der Schande zum Opfer fallen, keine Thräne nachweint,
ist es pure Heuchelei, sich über die vom Studiren gebleichten Wangen der
Frauen und die Opfer, die hier fallen, aufzuhalten."") Das klingt so einfach
und überzeugend, es ist auch nur ein einziger Punkt dabei entstellt oder viel¬
mehr verschwiegen, aber er genügt, der Sache gleich ein ganz andres Aus¬
sehen zu geben. Gewiß gehen Tausende von Frauen in den untern Ständen
zu Grunde, aber ebenso gehen dort Tausende von Männern zu Grunde und
verkommen, ohne daß es der Staat hindert oder, um mit Fräulein Lange zu
reden, ihnen eine Thräne nachweint. Er kann es nämlich gar nicht hindern,
bei der heutigen Wirtschaftsordnung, unter deren Härte nicht nur das weih-



*) Merkwürdigerweise ist über die beiden öffentlichen Versammlungen kein Bericht in den
Zeitungen erschienen. Ich bedaure das, da gerade hier der geunue Zusammenhang, in dem
jene Äußerung gefallen ist, die Methode von Fräulein Lange deutlicher machen würde, doch
genügt auch diese Äußerung für sich, und sie ist, wie ich besonders betone, in allen wesent¬
lichen Teilen wörtlich so gefallen.
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[0592] Der Frauentag in Kassel Unklarheit führt dann zu einem so verblüffenden Satze wie dem, den Fräulein Lange aufstellte: die Aufgabe des Mannes ist die wissenschaftliche Erkenntnis, die der Frau die soziale That. Ausgesprochen wurde er als ein allgemein das Geschlecht charakterisirender Satz, Sinn hat er nur, wenn man ihn auf die obern Klassen bezieht. Denn mindestens 90 Prozent aller Männer sind gar nicht in der Lage, sich der Wissenschaft zu widmen, und die soziale That der Frau? Es ist klar, Fräulein Lange und ihre Freundinnen betrachten eben die ganze Frauenfrage von dem Standpunkt der Frauen der obern Stände, denen in dem Elend der untern Klassen sich ein Feld zur sozialen Thätigkeit eröffnet. Es ist von der Sozialdemokratie gar nicht mit Unrecht der heutigen Frauenbewegung der Vorwurf gemacht worden, daß sie nur die Interessen der obern Klassen im Auge habe. Denn in Wahrheit sind die wirklich dringenden Interessen der Arbeiterinnen ganz andrer Natur. Wenn also die Frauen- vereinlerinueu ihren Standesgcnossinnen, die unzufrieden mit ihrem Lebens¬ inhalte sind, neue Felder der Thätigkeit eröffnen wollen und sie unter anderen auch auf die soziale Thätigkeit hinweisen, schön! aber sie mögen nicht immer so reden, als ob sie die Sache der Frauen schlechtweg verträten, sich als Vor¬ kämpferinnen und Beschützerinnen der unterdrückten niedern Frauenwelt auf¬ spielen. Agitatorisch bietet diese Unklarheit freilich Vorteile, und Fräulein Lange hat leider selbst in ihrer Rede ein bedenkliches Beispiel gegeben, wie sich die gedrückte Lage der Frauen der untern Klassen sür ihre besondern höhern Ziele verwenden läßt. Man hat bekanntlich gegen das Studium der Frauen auch eingewandt, der Körper, die Gesundheit der Frauen sei nicht stark genug dazu. Gegen diesen Grund wird sich manches einwenden lassen, aber hören wir, wie ihn Fräulein Lange erledigt. „Solange man den Tausenden von Frauen, die jährlich der Industrie, der Schande zum Opfer fallen, keine Thräne nachweint, ist es pure Heuchelei, sich über die vom Studiren gebleichten Wangen der Frauen und die Opfer, die hier fallen, aufzuhalten."") Das klingt so einfach und überzeugend, es ist auch nur ein einziger Punkt dabei entstellt oder viel¬ mehr verschwiegen, aber er genügt, der Sache gleich ein ganz andres Aus¬ sehen zu geben. Gewiß gehen Tausende von Frauen in den untern Ständen zu Grunde, aber ebenso gehen dort Tausende von Männern zu Grunde und verkommen, ohne daß es der Staat hindert oder, um mit Fräulein Lange zu reden, ihnen eine Thräne nachweint. Er kann es nämlich gar nicht hindern, bei der heutigen Wirtschaftsordnung, unter deren Härte nicht nur das weih- *) Merkwürdigerweise ist über die beiden öffentlichen Versammlungen kein Bericht in den Zeitungen erschienen. Ich bedaure das, da gerade hier der geunue Zusammenhang, in dem jene Äußerung gefallen ist, die Methode von Fräulein Lange deutlicher machen würde, doch genügt auch diese Äußerung für sich, und sie ist, wie ich besonders betone, in allen wesent¬ lichen Teilen wörtlich so gefallen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/592>, abgerufen am 22.07.2024.