es sehe sie noch, die altersgrauen Hänser des schleswigschen Städtchens, wo ich geboren wurde und heranwuchs; ich sehe sie noch mit den hohen, gezackten Giebeln, die der Straße zugekehrt waren, mit den traulichen Erkern und den schweren, seltsam geschnitzten Thüren. Ich habe sie später uoch oft gesehen, nachdem sie umgebaut und "mo- dernisirt" worden waren; aber in meiner Erinnerung stehen sie fest in ihrer ursprünglichen Gestalt, die lieben, altertümlichen, heimischen Giebelhäuser.
Und auch ihn sehe ich noch, unsern alten Nachbar, der trotz seiner geduckten Haltung gewöhnliche Menschen um Haupteslänge überragte. Ich sehe ihn, wie er in der Thür des "toten Hanfes" erscheint, das dem unsern gegenüberlag, wie er mit gesenktem Blick und langsamen Schritten die Straße hinuntergehe. In der linken Hand trägt er sein Angelgerät; mit der rechten stützt er sich schwer auf eiuen wuchtigen Stock mit goldnem Knopfe. Er grüßt nicht und wird nicht gegrüßt. Auch ihn habe ich später noch oft gesehen, da war seine Gestalt aufrechter, sein Gang leichter, sein Blick freier geworden, er schien mit den Jahren jünger ge¬ worden zu sein; aber in meiner Erinnerung lebt er als der alte, müde Mann mit der gebückten Haltung und dem gesenkten Blick.
Er war mein vertrautester Freund, und in seinem Hanse habe ich glückliche Stunden Verlebt.
Es gab eine Zeit, wo ich ihn mit unsäglicher Furcht betrachtete und mich von ihm und seinem Hanse in gehörigem Abstände hielt. Er hatte ja mir und meinem Schwesterchen gegenüber der Popanz sein müssen, wenn wir unartig gewesen waren. Aber dann tum die Zeit, wo der Glaube an die grausamen Kinderfeinde zu wanken begann, wo die Wißbegierde allmählich der Furcht ihre Macht raubte. Über das Wesen des Alten und über seine Umgebung war ein eigentümlicher Zauber gebreitet, der zum Nachforschen reizte. Ich erinnere mich noch deutlich des Abschnitts in meinem Leben, wo der kindliche Forschergeist mit der kindischen Furcht kämpfte, wo der Drang, Entdeckungen zu machen, nach und nach so lebhaft wurde, daß er mich zuletzt antrieb, alle Rücksichten auf meine Sicherheit beiseite zu setzen und mich in Gefahren zu stürzen -- in eingebildete Gefahren freilich --. damit er nur be¬ friedigt würde. Wenigstens glaube ich mich daran zu erinnern. Und wenn auch vielleicht das und jeues durch ein Loch des unzuverlässigen Gedächtnisses entschlüpft sein sollte, so ist es doch durch die häufigen und umständlichen Berichte meines Vaters wieder vollkommen ersetzt worden, und zwar so, daß ich jetzt nicht mehr weiß, was ihm und was mir gehört.
Das Nachbarhaus jenseits der Straße war wohl geeignet, einer lebhaften Phantasie Beschäftigung zu geben. Wie man erzählte, war es der Nest eines
Nein alter Nachbar Martin Böttcher von
es sehe sie noch, die altersgrauen Hänser des schleswigschen Städtchens, wo ich geboren wurde und heranwuchs; ich sehe sie noch mit den hohen, gezackten Giebeln, die der Straße zugekehrt waren, mit den traulichen Erkern und den schweren, seltsam geschnitzten Thüren. Ich habe sie später uoch oft gesehen, nachdem sie umgebaut und „mo- dernisirt" worden waren; aber in meiner Erinnerung stehen sie fest in ihrer ursprünglichen Gestalt, die lieben, altertümlichen, heimischen Giebelhäuser.
Und auch ihn sehe ich noch, unsern alten Nachbar, der trotz seiner geduckten Haltung gewöhnliche Menschen um Haupteslänge überragte. Ich sehe ihn, wie er in der Thür des „toten Hanfes" erscheint, das dem unsern gegenüberlag, wie er mit gesenktem Blick und langsamen Schritten die Straße hinuntergehe. In der linken Hand trägt er sein Angelgerät; mit der rechten stützt er sich schwer auf eiuen wuchtigen Stock mit goldnem Knopfe. Er grüßt nicht und wird nicht gegrüßt. Auch ihn habe ich später noch oft gesehen, da war seine Gestalt aufrechter, sein Gang leichter, sein Blick freier geworden, er schien mit den Jahren jünger ge¬ worden zu sein; aber in meiner Erinnerung lebt er als der alte, müde Mann mit der gebückten Haltung und dem gesenkten Blick.
Er war mein vertrautester Freund, und in seinem Hanse habe ich glückliche Stunden Verlebt.
Es gab eine Zeit, wo ich ihn mit unsäglicher Furcht betrachtete und mich von ihm und seinem Hanse in gehörigem Abstände hielt. Er hatte ja mir und meinem Schwesterchen gegenüber der Popanz sein müssen, wenn wir unartig gewesen waren. Aber dann tum die Zeit, wo der Glaube an die grausamen Kinderfeinde zu wanken begann, wo die Wißbegierde allmählich der Furcht ihre Macht raubte. Über das Wesen des Alten und über seine Umgebung war ein eigentümlicher Zauber gebreitet, der zum Nachforschen reizte. Ich erinnere mich noch deutlich des Abschnitts in meinem Leben, wo der kindliche Forschergeist mit der kindischen Furcht kämpfte, wo der Drang, Entdeckungen zu machen, nach und nach so lebhaft wurde, daß er mich zuletzt antrieb, alle Rücksichten auf meine Sicherheit beiseite zu setzen und mich in Gefahren zu stürzen — in eingebildete Gefahren freilich —. damit er nur be¬ friedigt würde. Wenigstens glaube ich mich daran zu erinnern. Und wenn auch vielleicht das und jeues durch ein Loch des unzuverlässigen Gedächtnisses entschlüpft sein sollte, so ist es doch durch die häufigen und umständlichen Berichte meines Vaters wieder vollkommen ersetzt worden, und zwar so, daß ich jetzt nicht mehr weiß, was ihm und was mir gehört.
Das Nachbarhaus jenseits der Straße war wohl geeignet, einer lebhaften Phantasie Beschäftigung zu geben. Wie man erzählte, war es der Nest eines
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wo ich geboren wurde und heranwuchs; ich sehe sie noch mit den
hohen, gezackten Giebeln, die der Straße zugekehrt waren, mit den
traulichen Erkern und den schweren, seltsam geschnitzten Thüren. Ich
habe sie später uoch oft gesehen, nachdem sie umgebaut und „mo-
dernisirt" worden waren; aber in meiner Erinnerung stehen sie fest
in ihrer ursprünglichen Gestalt, die lieben, altertümlichen, heimischen Giebelhäuser.
Und auch ihn sehe ich noch, unsern alten Nachbar, der trotz seiner geduckten
Haltung gewöhnliche Menschen um Haupteslänge überragte. Ich sehe ihn, wie er
in der Thür des „toten Hanfes" erscheint, das dem unsern gegenüberlag, wie er
mit gesenktem Blick und langsamen Schritten die Straße hinuntergehe. In der
linken Hand trägt er sein Angelgerät; mit der rechten stützt er sich schwer auf eiuen
wuchtigen Stock mit goldnem Knopfe. Er grüßt nicht und wird nicht gegrüßt.
Auch ihn habe ich später noch oft gesehen, da war seine Gestalt aufrechter, sein
Gang leichter, sein Blick freier geworden, er schien mit den Jahren jünger ge¬
worden zu sein; aber in meiner Erinnerung lebt er als der alte, müde Mann mit
der gebückten Haltung und dem gesenkten Blick.
Er war mein vertrautester Freund, und in seinem Hanse habe ich glückliche
Stunden Verlebt.
Es gab eine Zeit, wo ich ihn mit unsäglicher Furcht betrachtete und mich von
ihm und seinem Hanse in gehörigem Abstände hielt. Er hatte ja mir und meinem
Schwesterchen gegenüber der Popanz sein müssen, wenn wir unartig gewesen waren.
Aber dann tum die Zeit, wo der Glaube an die grausamen Kinderfeinde zu wanken
begann, wo die Wißbegierde allmählich der Furcht ihre Macht raubte. Über das
Wesen des Alten und über seine Umgebung war ein eigentümlicher Zauber gebreitet,
der zum Nachforschen reizte. Ich erinnere mich noch deutlich des Abschnitts in
meinem Leben, wo der kindliche Forschergeist mit der kindischen Furcht kämpfte, wo
der Drang, Entdeckungen zu machen, nach und nach so lebhaft wurde, daß er mich
zuletzt antrieb, alle Rücksichten auf meine Sicherheit beiseite zu setzen und mich in
Gefahren zu stürzen — in eingebildete Gefahren freilich —. damit er nur be¬
friedigt würde. Wenigstens glaube ich mich daran zu erinnern. Und wenn auch
vielleicht das und jeues durch ein Loch des unzuverlässigen Gedächtnisses entschlüpft
sein sollte, so ist es doch durch die häufigen und umständlichen Berichte meines
Vaters wieder vollkommen ersetzt worden, und zwar so, daß ich jetzt nicht mehr
weiß, was ihm und was mir gehört.
Das Nachbarhaus jenseits der Straße war wohl geeignet, einer lebhaften
Phantasie Beschäftigung zu geben. Wie man erzählte, war es der Nest eines
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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/571>, abgerufen am 24.01.2025.
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