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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Nationalökonomik und Rechtswissenschaft

Nechnungs- und Kassenwesen des Staats kann noch sehr viel lernen von gut
eingerichteten Privatkomptoirs. Allein für die große Mehrzahl der Verwaltungs-
ümter wird man gewiß keine kaufmännische Bildung wünschen; ebenso wenig
wie z. B. eine militärische, die ja auch auf ihrem Gebiete, d. h. wo es aus
unbedingtes Befehlen und Gehorchen ankommt, so notwendig ist. Für Männer,
deren Amt es ist, Menschen gesetzlich zu regieren, besteht sicher die beste Schu¬
lung zur "Praxis" in der juristischen Gewohnheit, zwischen den Klippen wider¬
strebender Willen das schmale, von beiden Seiten anerkannte Fahrwasser des
Rechtsweges aufzusuchen. Alles "praktische" Gebahren beruht doch am Ende
darauf, daß man die Hindernisse richtig vorausberechnet hat, die sich der Ver¬
wirklichung einer Idee entgegenstellen. Und Rechtsgründe der Gegner sind
doch Gott lob, wenigstens bei tüchtigen Völkern, immer eins der vornehmsten
solcher Hindernisse."

Soweit Nvscher. Wer diese vor mehr als einem Menschenalter nieder-
geschriebnen Sätze liest und die heutigen Verhältnisse kennt, wird zugeben
müssen, daß sie für heute noch mehr gelten als für den Anfang der sechziger
Jahre. Daß das für den praktischen Verwaltungsmann der Fall ist, ist in dem
Aufsatze "Die Vorbildung für den höhern Verwaltungsdienst" in den Preu¬
ßischen Jahrbüchern vortrefflich ausgeführt. Aber auch für die wissenschaft¬
liche Volkswirtschaft haben die Roscherschen Sätze heute eine besondre Bedeu¬
tung. Seit 1862 ist ein neues Geschlecht von "Forschern" sür die Volkswirt¬
schaftslehre herangewachsen. Haben wohl diese Neuen immer die Fühlung mit
der Rechtswissenschaft behalten, wie sie Röscher verlangte? Wir haben die
Lebensläufe der stattlichen Schar seit 1362 in Deutschland und Österreich neu
herangewachsener ordentlicher und außerordentlicher Professoren, Dozenten usw.
für Volkswirtschaft nicht zur Hand, aber soviel wissen wir, daß die Doktoren
der Rechte unter ihnen zu ganz seltnen Ausnahmen geworden sind. Das ist
freilich nur etwas äußerliches, aber uns will es -- das sei bei aller An¬
erkennung der hohen Verdienste der neudeutschen Volkswirtschaftslehre offen
ausgesprochen -- so scheinen, als ob es in der wissenschaftlichen, in der aka¬
demischen Behandlung der volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegen¬
wart bei so manchem der Herren berufsmäßigen Forscher an juristischer
Schulung und juristischer Gewissenhaftigkeit mitunter ein wenig fehlte.
Zahlreiche Reformvorschläge auf agrar- und gewerbepolitischem Gebiete, vor
allem aber die verhängnisvolle Blindheit gegen die Gemeingefährlichkeit der
sozialdemokratischen Lehre und Praxis sind der Beweis für diese Einseitig¬
keit. Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle schrieb 1890: "Nicht weil
der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschaftssystem vertritt, dem das
Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand zu halten ver¬
möchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er wissen¬
schaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste Ne-


Nationalökonomik und Rechtswissenschaft

Nechnungs- und Kassenwesen des Staats kann noch sehr viel lernen von gut
eingerichteten Privatkomptoirs. Allein für die große Mehrzahl der Verwaltungs-
ümter wird man gewiß keine kaufmännische Bildung wünschen; ebenso wenig
wie z. B. eine militärische, die ja auch auf ihrem Gebiete, d. h. wo es aus
unbedingtes Befehlen und Gehorchen ankommt, so notwendig ist. Für Männer,
deren Amt es ist, Menschen gesetzlich zu regieren, besteht sicher die beste Schu¬
lung zur »Praxis« in der juristischen Gewohnheit, zwischen den Klippen wider¬
strebender Willen das schmale, von beiden Seiten anerkannte Fahrwasser des
Rechtsweges aufzusuchen. Alles »praktische« Gebahren beruht doch am Ende
darauf, daß man die Hindernisse richtig vorausberechnet hat, die sich der Ver¬
wirklichung einer Idee entgegenstellen. Und Rechtsgründe der Gegner sind
doch Gott lob, wenigstens bei tüchtigen Völkern, immer eins der vornehmsten
solcher Hindernisse."

Soweit Nvscher. Wer diese vor mehr als einem Menschenalter nieder-
geschriebnen Sätze liest und die heutigen Verhältnisse kennt, wird zugeben
müssen, daß sie für heute noch mehr gelten als für den Anfang der sechziger
Jahre. Daß das für den praktischen Verwaltungsmann der Fall ist, ist in dem
Aufsatze „Die Vorbildung für den höhern Verwaltungsdienst" in den Preu¬
ßischen Jahrbüchern vortrefflich ausgeführt. Aber auch für die wissenschaft¬
liche Volkswirtschaft haben die Roscherschen Sätze heute eine besondre Bedeu¬
tung. Seit 1862 ist ein neues Geschlecht von „Forschern" sür die Volkswirt¬
schaftslehre herangewachsen. Haben wohl diese Neuen immer die Fühlung mit
der Rechtswissenschaft behalten, wie sie Röscher verlangte? Wir haben die
Lebensläufe der stattlichen Schar seit 1362 in Deutschland und Österreich neu
herangewachsener ordentlicher und außerordentlicher Professoren, Dozenten usw.
für Volkswirtschaft nicht zur Hand, aber soviel wissen wir, daß die Doktoren
der Rechte unter ihnen zu ganz seltnen Ausnahmen geworden sind. Das ist
freilich nur etwas äußerliches, aber uns will es — das sei bei aller An¬
erkennung der hohen Verdienste der neudeutschen Volkswirtschaftslehre offen
ausgesprochen — so scheinen, als ob es in der wissenschaftlichen, in der aka¬
demischen Behandlung der volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegen¬
wart bei so manchem der Herren berufsmäßigen Forscher an juristischer
Schulung und juristischer Gewissenhaftigkeit mitunter ein wenig fehlte.
Zahlreiche Reformvorschläge auf agrar- und gewerbepolitischem Gebiete, vor
allem aber die verhängnisvolle Blindheit gegen die Gemeingefährlichkeit der
sozialdemokratischen Lehre und Praxis sind der Beweis für diese Einseitig¬
keit. Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle schrieb 1890: „Nicht weil
der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschaftssystem vertritt, dem das
Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand zu halten ver¬
möchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er wissen¬
schaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste Ne-


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[0499] Nationalökonomik und Rechtswissenschaft Nechnungs- und Kassenwesen des Staats kann noch sehr viel lernen von gut eingerichteten Privatkomptoirs. Allein für die große Mehrzahl der Verwaltungs- ümter wird man gewiß keine kaufmännische Bildung wünschen; ebenso wenig wie z. B. eine militärische, die ja auch auf ihrem Gebiete, d. h. wo es aus unbedingtes Befehlen und Gehorchen ankommt, so notwendig ist. Für Männer, deren Amt es ist, Menschen gesetzlich zu regieren, besteht sicher die beste Schu¬ lung zur »Praxis« in der juristischen Gewohnheit, zwischen den Klippen wider¬ strebender Willen das schmale, von beiden Seiten anerkannte Fahrwasser des Rechtsweges aufzusuchen. Alles »praktische« Gebahren beruht doch am Ende darauf, daß man die Hindernisse richtig vorausberechnet hat, die sich der Ver¬ wirklichung einer Idee entgegenstellen. Und Rechtsgründe der Gegner sind doch Gott lob, wenigstens bei tüchtigen Völkern, immer eins der vornehmsten solcher Hindernisse." Soweit Nvscher. Wer diese vor mehr als einem Menschenalter nieder- geschriebnen Sätze liest und die heutigen Verhältnisse kennt, wird zugeben müssen, daß sie für heute noch mehr gelten als für den Anfang der sechziger Jahre. Daß das für den praktischen Verwaltungsmann der Fall ist, ist in dem Aufsatze „Die Vorbildung für den höhern Verwaltungsdienst" in den Preu¬ ßischen Jahrbüchern vortrefflich ausgeführt. Aber auch für die wissenschaft¬ liche Volkswirtschaft haben die Roscherschen Sätze heute eine besondre Bedeu¬ tung. Seit 1862 ist ein neues Geschlecht von „Forschern" sür die Volkswirt¬ schaftslehre herangewachsen. Haben wohl diese Neuen immer die Fühlung mit der Rechtswissenschaft behalten, wie sie Röscher verlangte? Wir haben die Lebensläufe der stattlichen Schar seit 1362 in Deutschland und Österreich neu herangewachsener ordentlicher und außerordentlicher Professoren, Dozenten usw. für Volkswirtschaft nicht zur Hand, aber soviel wissen wir, daß die Doktoren der Rechte unter ihnen zu ganz seltnen Ausnahmen geworden sind. Das ist freilich nur etwas äußerliches, aber uns will es — das sei bei aller An¬ erkennung der hohen Verdienste der neudeutschen Volkswirtschaftslehre offen ausgesprochen — so scheinen, als ob es in der wissenschaftlichen, in der aka¬ demischen Behandlung der volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegen¬ wart bei so manchem der Herren berufsmäßigen Forscher an juristischer Schulung und juristischer Gewissenhaftigkeit mitunter ein wenig fehlte. Zahlreiche Reformvorschläge auf agrar- und gewerbepolitischem Gebiete, vor allem aber die verhängnisvolle Blindheit gegen die Gemeingefährlichkeit der sozialdemokratischen Lehre und Praxis sind der Beweis für diese Einseitig¬ keit. Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle schrieb 1890: „Nicht weil der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschaftssystem vertritt, dem das Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand zu halten ver¬ möchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er wissen¬ schaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste Ne-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/499>, abgerufen am 28.09.2024.