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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht zur Arbeit

Werden, so ist auch den Klagen über Hungerlöhne entgegenzuhalten, daß von
den Arbeitsuchenden selbst nicht das Mögliche und Nötige geschieht, der Über¬
füllung gewisser Arbeitszweige vorzubeugen.

Wie die Beschaffung von Einnahmen, so ist auch die Verwendung der
Einnahmen, die Regelung der täglichen Ausgaben von Einfluß auf die Lage des
Einzelnen. Auch hierauf können wir nicht mechanisch durch äußere Mittel
einwirken. Wenn ein Bedürftiger Ausgaben, die er sich seiner Lage nach nicht
gestatten dürfte, dennoch macht, obgleich er weiß, daß er am nächsten Tage
dafür hungern muß, oder wenn er lieber in eine schlechte Hohle kriecht, als
diese Ausgaben zu unterlassen, so können wir ihn nicht zwingen, seine Aus¬
gaben zu regeln nach unsern Begriffen von dem, was unentbehrlich ist, oder
was zu einem behaglichen Leben gehört. Bei Gelegenheit des Berliner Schneider¬
streiks berichtete ein Korrespondent, der einer Versammlung von Streitenden
beigewohnt hatte, die Mädchen hätten da beständig vom Tanz und von den dabei
gemachten Eroberungen gesprochen. Ein Blumenhändler im Norden hat mir
damals gesagt, er habe während der Streikzeit eine wesentliche Einbuße an
Einnahmen erlitten, denn wenn die Schneidergesellen zum Tanz gingen, kauften
sie sich Blumen. Solche Beobachtungen sind ja nicht neu, aber hier daran
zu erinnern, gehört zur Sache. Was zu den unentbehrlichen Genüssen des
Lebens gerechnet wird, ist offenbar Geschmacksache. Es wird wohl immer so
bleiben, daß für die Mehrzahl der Menschen die Fähigkeit, zu genießen, hinaus¬
geht über die Möglichkeit zur Befriedigung der Genußsucht. Wer sich aber
mit seinem Lose zu bescheiden weiß, wird die Notwendigkeit, sich manche Genüsse
zu versagen, nicht als einen lästigen Zwang empfinden. Wird umgekehrt die
persönliche Empfänglichkeit für Genüsse zum Maßstabe gemacht, wonach sich
das Ausgabcbudget zu richten habe, unbekümmert um die Zulänglichkeit der
Einnahmen, so ist schwer eine Grenze zu ziehen, wo normale Bedürfnisse über¬
schritten werden. Auch Armand Rosenthal, genannt Se. Cere, und Friedmann
sind vor ihrem eignen Bewußtsein nicht schuldig, obgleich die Welt findet, daß
sie etwas solider hätten leben können. Sie sind arme Verfolgte, denen die
böse, klatschhafte Welt ihre xlaisirs nicht gönnt, die Welt, die über die Be¬
dürfnisse solcher Herren zu urteilen nicht befugt ist.

Wird nicht auch für den Bedürftigen die Verpflichtung anerkannt, sich
nach der Decke zu strecken, wird ihm ein Recht auf Genüsse zuerkannt, das an
die durch seine wirtschaftliche Lage gezognen Schranken nicht gebunden sei, und
wird sür ihn zugleich die Verpflichtung abgelehnt, sich nach dem Maße seiner
Kräfte den höchsten möglichen Arbeitsverdienst zu verschaffen, so möchte ich
wissen, mit welchem Rechte dann überhaupt noch die Begriffe Verschwendungs-
sucht und Arbeitsscheu auf den Bedürftigen angewandt werden könnten. Dann
nehme man jeden Leichtsinn in Schutz; man erkenne dem Armen das Recht
zu, in frühem Alter eine Ehe zu schließen, unbekümmert darum, ob er die Mittel


Die Pflicht zur Arbeit

Werden, so ist auch den Klagen über Hungerlöhne entgegenzuhalten, daß von
den Arbeitsuchenden selbst nicht das Mögliche und Nötige geschieht, der Über¬
füllung gewisser Arbeitszweige vorzubeugen.

Wie die Beschaffung von Einnahmen, so ist auch die Verwendung der
Einnahmen, die Regelung der täglichen Ausgaben von Einfluß auf die Lage des
Einzelnen. Auch hierauf können wir nicht mechanisch durch äußere Mittel
einwirken. Wenn ein Bedürftiger Ausgaben, die er sich seiner Lage nach nicht
gestatten dürfte, dennoch macht, obgleich er weiß, daß er am nächsten Tage
dafür hungern muß, oder wenn er lieber in eine schlechte Hohle kriecht, als
diese Ausgaben zu unterlassen, so können wir ihn nicht zwingen, seine Aus¬
gaben zu regeln nach unsern Begriffen von dem, was unentbehrlich ist, oder
was zu einem behaglichen Leben gehört. Bei Gelegenheit des Berliner Schneider¬
streiks berichtete ein Korrespondent, der einer Versammlung von Streitenden
beigewohnt hatte, die Mädchen hätten da beständig vom Tanz und von den dabei
gemachten Eroberungen gesprochen. Ein Blumenhändler im Norden hat mir
damals gesagt, er habe während der Streikzeit eine wesentliche Einbuße an
Einnahmen erlitten, denn wenn die Schneidergesellen zum Tanz gingen, kauften
sie sich Blumen. Solche Beobachtungen sind ja nicht neu, aber hier daran
zu erinnern, gehört zur Sache. Was zu den unentbehrlichen Genüssen des
Lebens gerechnet wird, ist offenbar Geschmacksache. Es wird wohl immer so
bleiben, daß für die Mehrzahl der Menschen die Fähigkeit, zu genießen, hinaus¬
geht über die Möglichkeit zur Befriedigung der Genußsucht. Wer sich aber
mit seinem Lose zu bescheiden weiß, wird die Notwendigkeit, sich manche Genüsse
zu versagen, nicht als einen lästigen Zwang empfinden. Wird umgekehrt die
persönliche Empfänglichkeit für Genüsse zum Maßstabe gemacht, wonach sich
das Ausgabcbudget zu richten habe, unbekümmert um die Zulänglichkeit der
Einnahmen, so ist schwer eine Grenze zu ziehen, wo normale Bedürfnisse über¬
schritten werden. Auch Armand Rosenthal, genannt Se. Cere, und Friedmann
sind vor ihrem eignen Bewußtsein nicht schuldig, obgleich die Welt findet, daß
sie etwas solider hätten leben können. Sie sind arme Verfolgte, denen die
böse, klatschhafte Welt ihre xlaisirs nicht gönnt, die Welt, die über die Be¬
dürfnisse solcher Herren zu urteilen nicht befugt ist.

Wird nicht auch für den Bedürftigen die Verpflichtung anerkannt, sich
nach der Decke zu strecken, wird ihm ein Recht auf Genüsse zuerkannt, das an
die durch seine wirtschaftliche Lage gezognen Schranken nicht gebunden sei, und
wird sür ihn zugleich die Verpflichtung abgelehnt, sich nach dem Maße seiner
Kräfte den höchsten möglichen Arbeitsverdienst zu verschaffen, so möchte ich
wissen, mit welchem Rechte dann überhaupt noch die Begriffe Verschwendungs-
sucht und Arbeitsscheu auf den Bedürftigen angewandt werden könnten. Dann
nehme man jeden Leichtsinn in Schutz; man erkenne dem Armen das Recht
zu, in frühem Alter eine Ehe zu schließen, unbekümmert darum, ob er die Mittel


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[0456] Die Pflicht zur Arbeit Werden, so ist auch den Klagen über Hungerlöhne entgegenzuhalten, daß von den Arbeitsuchenden selbst nicht das Mögliche und Nötige geschieht, der Über¬ füllung gewisser Arbeitszweige vorzubeugen. Wie die Beschaffung von Einnahmen, so ist auch die Verwendung der Einnahmen, die Regelung der täglichen Ausgaben von Einfluß auf die Lage des Einzelnen. Auch hierauf können wir nicht mechanisch durch äußere Mittel einwirken. Wenn ein Bedürftiger Ausgaben, die er sich seiner Lage nach nicht gestatten dürfte, dennoch macht, obgleich er weiß, daß er am nächsten Tage dafür hungern muß, oder wenn er lieber in eine schlechte Hohle kriecht, als diese Ausgaben zu unterlassen, so können wir ihn nicht zwingen, seine Aus¬ gaben zu regeln nach unsern Begriffen von dem, was unentbehrlich ist, oder was zu einem behaglichen Leben gehört. Bei Gelegenheit des Berliner Schneider¬ streiks berichtete ein Korrespondent, der einer Versammlung von Streitenden beigewohnt hatte, die Mädchen hätten da beständig vom Tanz und von den dabei gemachten Eroberungen gesprochen. Ein Blumenhändler im Norden hat mir damals gesagt, er habe während der Streikzeit eine wesentliche Einbuße an Einnahmen erlitten, denn wenn die Schneidergesellen zum Tanz gingen, kauften sie sich Blumen. Solche Beobachtungen sind ja nicht neu, aber hier daran zu erinnern, gehört zur Sache. Was zu den unentbehrlichen Genüssen des Lebens gerechnet wird, ist offenbar Geschmacksache. Es wird wohl immer so bleiben, daß für die Mehrzahl der Menschen die Fähigkeit, zu genießen, hinaus¬ geht über die Möglichkeit zur Befriedigung der Genußsucht. Wer sich aber mit seinem Lose zu bescheiden weiß, wird die Notwendigkeit, sich manche Genüsse zu versagen, nicht als einen lästigen Zwang empfinden. Wird umgekehrt die persönliche Empfänglichkeit für Genüsse zum Maßstabe gemacht, wonach sich das Ausgabcbudget zu richten habe, unbekümmert um die Zulänglichkeit der Einnahmen, so ist schwer eine Grenze zu ziehen, wo normale Bedürfnisse über¬ schritten werden. Auch Armand Rosenthal, genannt Se. Cere, und Friedmann sind vor ihrem eignen Bewußtsein nicht schuldig, obgleich die Welt findet, daß sie etwas solider hätten leben können. Sie sind arme Verfolgte, denen die böse, klatschhafte Welt ihre xlaisirs nicht gönnt, die Welt, die über die Be¬ dürfnisse solcher Herren zu urteilen nicht befugt ist. Wird nicht auch für den Bedürftigen die Verpflichtung anerkannt, sich nach der Decke zu strecken, wird ihm ein Recht auf Genüsse zuerkannt, das an die durch seine wirtschaftliche Lage gezognen Schranken nicht gebunden sei, und wird sür ihn zugleich die Verpflichtung abgelehnt, sich nach dem Maße seiner Kräfte den höchsten möglichen Arbeitsverdienst zu verschaffen, so möchte ich wissen, mit welchem Rechte dann überhaupt noch die Begriffe Verschwendungs- sucht und Arbeitsscheu auf den Bedürftigen angewandt werden könnten. Dann nehme man jeden Leichtsinn in Schutz; man erkenne dem Armen das Recht zu, in frühem Alter eine Ehe zu schließen, unbekümmert darum, ob er die Mittel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/456>, abgerufen am 22.07.2024.