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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Reform des Strafprozesses

des Oberlandesgerichts) die Erhebung eines einzelnen Beweises soll ablehnen
dürfen, wenn sie die Thatsache, die dadurch bewiesen werden soll, einstimmig fiir
unerheblich erachtet. Hält man einmal die mit der bisherigen unbeschränkten Ver¬
teidigung verbundnen Übelstände -- und welcher Gebrauch wäre nicht der Gefahr
des Mißbrauchs ausgesetzt? -- für erheblich genug, eine der grundlegendsten
Bestimmungen des ganzen Strafprozesses zu ändern, so könnte man sich mit
der von der Kommission vorgeschlagneu Fassung zur Not einverstanden erklären.
Es bleibt aber die Gefahr bestehen, daß überlastete Nichtcrkollegien geneigt sein
möchten, umfängliche Veweiscmträge auch dann einstimmig für "unerheblich" zu
erklären, wenn sie, und wäre es auch nur für die Strafabmessung, in der
That von Bedeutung sind. Bedenkt man z. B., welche peinlichen Anforderungen
die Gerichte an den Wahrheitsbeweis des der Beleidigung Angeklagten zu
stellen pflegen, so kann man es diesem in der That nicht verübeln, wenn er
die unter Anklage gestellten behaupteten Thatsachen so gründlich als möglich
zu beleuchten sucht, selbst auf die Gefahr hin, daß -- wie sich die Regierungs¬
begründung ausdrückt -- "die berechtigten Interessen und das Empfinden der
an der Sache beteiligten Personen ohne genügenden Grund erheblich verletzt
werden." Ist ihr Empfinden so überaus leicht verletzbar, so thaten sie besser,
keinen Strafantrag zu stellen. Haben sie ihn einmal gestellt, so giebt das
Interesse des Angeklagten selbstverständlich den Ausschlag, und manche Pro¬
zesse, wir erinnern an den Alexicmerprozeß oder den soeben beendeten Beru-
steinprozeß, haben bewiesen, daß die Interessen des Angeklagten auch mit denen
der Allgemeinheit zusammenfallen können. Vollends bedenklich ist es aber,
wenn dem Gericht, und zwar auch dem Berufungsgericht, wie die Kommission
vorschlägt, das Recht zustehen soll, an sich erhebliche, aber verspätet an¬
gebrachte Anträge dann abzulehnen, wenn es einstimmig der Ansicht ist, daß
das Vordringen lediglich eine Verschleppung der Sache bezwecke. Für den
gewissenhaften Richter ist es ohnedies überaus schwer, sich von der Ver¬
schleppungsabsicht überzeugt zu halten. Setzt man aber den Fall, daß ein
solcher verspätet eingebrachter, auch wirklich absichtlich verschleppter Beweis-
antrag nun doch den vollen Entlastungsbeweis gebracht hätte -- und diese
Möglichkeit wird häufig gar nicht zu bestreikn sein --, so läuft die Sache
im Erfolge darauf hinaus, daß der in Wahrheit unschuldige Angeklagte mit
der vollen Strafe des Verbrechens nicht wegen des gar nicht begangnen Ver¬
brechens, sondern nur wegen der Ungeschicklichkeit, vielleicht auch Hinterhältigkeit
seiner Verteidigung belegt wird. Übrigens wirkt jede Einschränkung in der
Verteidigung erster Instanz als Anreiz zur Einlegung der Berufung. Jeder
Praktiker weiß, daß die Angeklagten, auch wenn sie sich noch so wenig davon
zu versprechen haben, ein leidenschaftliches und beinahe abergläubisches Ver¬
langen haben, "ihre Zeugen" abgehört zu sehen und sich willig dem Urteil
unterwerfen, wenn sie uur das erreicht haben.


Die Reform des Strafprozesses

des Oberlandesgerichts) die Erhebung eines einzelnen Beweises soll ablehnen
dürfen, wenn sie die Thatsache, die dadurch bewiesen werden soll, einstimmig fiir
unerheblich erachtet. Hält man einmal die mit der bisherigen unbeschränkten Ver¬
teidigung verbundnen Übelstände — und welcher Gebrauch wäre nicht der Gefahr
des Mißbrauchs ausgesetzt? — für erheblich genug, eine der grundlegendsten
Bestimmungen des ganzen Strafprozesses zu ändern, so könnte man sich mit
der von der Kommission vorgeschlagneu Fassung zur Not einverstanden erklären.
Es bleibt aber die Gefahr bestehen, daß überlastete Nichtcrkollegien geneigt sein
möchten, umfängliche Veweiscmträge auch dann einstimmig für „unerheblich" zu
erklären, wenn sie, und wäre es auch nur für die Strafabmessung, in der
That von Bedeutung sind. Bedenkt man z. B., welche peinlichen Anforderungen
die Gerichte an den Wahrheitsbeweis des der Beleidigung Angeklagten zu
stellen pflegen, so kann man es diesem in der That nicht verübeln, wenn er
die unter Anklage gestellten behaupteten Thatsachen so gründlich als möglich
zu beleuchten sucht, selbst auf die Gefahr hin, daß — wie sich die Regierungs¬
begründung ausdrückt — „die berechtigten Interessen und das Empfinden der
an der Sache beteiligten Personen ohne genügenden Grund erheblich verletzt
werden." Ist ihr Empfinden so überaus leicht verletzbar, so thaten sie besser,
keinen Strafantrag zu stellen. Haben sie ihn einmal gestellt, so giebt das
Interesse des Angeklagten selbstverständlich den Ausschlag, und manche Pro¬
zesse, wir erinnern an den Alexicmerprozeß oder den soeben beendeten Beru-
steinprozeß, haben bewiesen, daß die Interessen des Angeklagten auch mit denen
der Allgemeinheit zusammenfallen können. Vollends bedenklich ist es aber,
wenn dem Gericht, und zwar auch dem Berufungsgericht, wie die Kommission
vorschlägt, das Recht zustehen soll, an sich erhebliche, aber verspätet an¬
gebrachte Anträge dann abzulehnen, wenn es einstimmig der Ansicht ist, daß
das Vordringen lediglich eine Verschleppung der Sache bezwecke. Für den
gewissenhaften Richter ist es ohnedies überaus schwer, sich von der Ver¬
schleppungsabsicht überzeugt zu halten. Setzt man aber den Fall, daß ein
solcher verspätet eingebrachter, auch wirklich absichtlich verschleppter Beweis-
antrag nun doch den vollen Entlastungsbeweis gebracht hätte — und diese
Möglichkeit wird häufig gar nicht zu bestreikn sein —, so läuft die Sache
im Erfolge darauf hinaus, daß der in Wahrheit unschuldige Angeklagte mit
der vollen Strafe des Verbrechens nicht wegen des gar nicht begangnen Ver¬
brechens, sondern nur wegen der Ungeschicklichkeit, vielleicht auch Hinterhältigkeit
seiner Verteidigung belegt wird. Übrigens wirkt jede Einschränkung in der
Verteidigung erster Instanz als Anreiz zur Einlegung der Berufung. Jeder
Praktiker weiß, daß die Angeklagten, auch wenn sie sich noch so wenig davon
zu versprechen haben, ein leidenschaftliches und beinahe abergläubisches Ver¬
langen haben, „ihre Zeugen" abgehört zu sehen und sich willig dem Urteil
unterwerfen, wenn sie uur das erreicht haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/444>, abgerufen am 22.07.2024.