Vorschlag. Der neueste Regierungsentwurf gesteht beide Wünsche zu, hängt aber diesem Zugeständnis eine lange Reihe von Einzelforderungen an, die sich auf Beseitigung gewisser sogenannter Garantien des Verfahrens, auf Aus¬ dehnung des Kontumazialverfahrens, auf Einführung einer besonders beschleu¬ nigten Aburteilung bei den sogenannten ävlits llagrWts, auf veränderte Vorschriften über Vereidigung der Zeugen, auf verminderte Zuständigkeit der Schwurgerichte und vermehrte Zuständigkeit der Schöffengerichte und andres mehr beziehen. Der Reichstag wird sich auf Grund eines sehr ausführlichen und fleißigen Kommissionsberichts demnächst mit dem EntWurfe beschäftigen. Er wird sich natürlich die Frage vorlegen, ob die von ihm selbst geforderten beiden Neuerungen überhaupt, und ob sie gerade in der nun vorgeschlagueu Gestalt so wertvoll seien, daß er sich entschließen könne, auch eine Reihe von ihm nicht geforderter, ja zum Teil bereits zurückgewiesener andrer Neuerungen mit in Kauf zu nehmen, oder ob er -- wenn das eine nicht ohne das andre zu haben ist -- nicht vorziehen solle, alles beim alten zu lassen.
Stellen wir, ohne auf Einzelheiten einzugehen, die jetzige und die neu¬ geplante Ordnung des Strafprozesses einander kurz gegenüber, und legen wir dabei die Beschlüsse der Reichstagskommission zu Grunde. Denn es ist wohl kaum zu befürchten, daß der Reichstag seine Kommission, die den Regierungs¬ vorschlägen schon außerordentlich weit entgegengekommen ist, verleugnen und z. B. die verfassungsmäßige Selbständigkeit der Landgerichte dem Einspruchs¬ recht eines Beauftragten der Justizverwaltung ausliefern werde.
Die Strafkammern der Landgerichte, heute in allen mittelschweren Straf¬ sachen die eigentlichen Träger der Strafgerichtsbarkeit, sollen künftig einen großen Teil der geringern Vergehen an die Schöffengerichte abtreten, da¬ gegen auf Kosten der Schwurgerichte um die Verbrechen der öffentlichen Ur¬ kundenfälschung, der schweren Beamtenunterschlagung und des bezüglichen Bankervtts in ihrer Zuständigkeit erweitert werden. Sie sollen von nun an in der Zusammensetzung von nur drei statt bisher fünf Richtern entscheiden, dagegen sollen die Assessoren von der Mitwirkung an der Strafkammer als Hilfsrichter regelmäßig ausgeschlossen sein. Leider hat die Kommission den Antrag, innerhalb dieses Dreirichterkollegiums zur Bejahung der Schuldfrage Einstimmigkeit zu erfordern, abgelehnt, obwohl z. B. die englische Jury, solange sie besteht, niemals andre als einstimmig gefaßte Verdikte der zwölf Urteils- geschworncn gekannt hat. Die Verurteilung des Angeklagten, zu der jetzt mindestens vier von fünf Stimmen nötig sind, soll also künftig schon mit zweien gegen eine Stimme ausgesprochen werden können. Der Berichterstatter im Eröffnungsverfahren, der bisher als befangen galt, weil er den Angeklagten schon im Eröffnungsbeschluß als der That verdächtig bezeichnet hatte, soll von der Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht mehr ausgeschlossen sein. Da der Vorsitzende das Recht erhalten soll, die Leitung der Verhandlung einem
Die Reform des Strafprozesses
Vorschlag. Der neueste Regierungsentwurf gesteht beide Wünsche zu, hängt aber diesem Zugeständnis eine lange Reihe von Einzelforderungen an, die sich auf Beseitigung gewisser sogenannter Garantien des Verfahrens, auf Aus¬ dehnung des Kontumazialverfahrens, auf Einführung einer besonders beschleu¬ nigten Aburteilung bei den sogenannten ävlits llagrWts, auf veränderte Vorschriften über Vereidigung der Zeugen, auf verminderte Zuständigkeit der Schwurgerichte und vermehrte Zuständigkeit der Schöffengerichte und andres mehr beziehen. Der Reichstag wird sich auf Grund eines sehr ausführlichen und fleißigen Kommissionsberichts demnächst mit dem EntWurfe beschäftigen. Er wird sich natürlich die Frage vorlegen, ob die von ihm selbst geforderten beiden Neuerungen überhaupt, und ob sie gerade in der nun vorgeschlagueu Gestalt so wertvoll seien, daß er sich entschließen könne, auch eine Reihe von ihm nicht geforderter, ja zum Teil bereits zurückgewiesener andrer Neuerungen mit in Kauf zu nehmen, oder ob er — wenn das eine nicht ohne das andre zu haben ist — nicht vorziehen solle, alles beim alten zu lassen.
Stellen wir, ohne auf Einzelheiten einzugehen, die jetzige und die neu¬ geplante Ordnung des Strafprozesses einander kurz gegenüber, und legen wir dabei die Beschlüsse der Reichstagskommission zu Grunde. Denn es ist wohl kaum zu befürchten, daß der Reichstag seine Kommission, die den Regierungs¬ vorschlägen schon außerordentlich weit entgegengekommen ist, verleugnen und z. B. die verfassungsmäßige Selbständigkeit der Landgerichte dem Einspruchs¬ recht eines Beauftragten der Justizverwaltung ausliefern werde.
Die Strafkammern der Landgerichte, heute in allen mittelschweren Straf¬ sachen die eigentlichen Träger der Strafgerichtsbarkeit, sollen künftig einen großen Teil der geringern Vergehen an die Schöffengerichte abtreten, da¬ gegen auf Kosten der Schwurgerichte um die Verbrechen der öffentlichen Ur¬ kundenfälschung, der schweren Beamtenunterschlagung und des bezüglichen Bankervtts in ihrer Zuständigkeit erweitert werden. Sie sollen von nun an in der Zusammensetzung von nur drei statt bisher fünf Richtern entscheiden, dagegen sollen die Assessoren von der Mitwirkung an der Strafkammer als Hilfsrichter regelmäßig ausgeschlossen sein. Leider hat die Kommission den Antrag, innerhalb dieses Dreirichterkollegiums zur Bejahung der Schuldfrage Einstimmigkeit zu erfordern, abgelehnt, obwohl z. B. die englische Jury, solange sie besteht, niemals andre als einstimmig gefaßte Verdikte der zwölf Urteils- geschworncn gekannt hat. Die Verurteilung des Angeklagten, zu der jetzt mindestens vier von fünf Stimmen nötig sind, soll also künftig schon mit zweien gegen eine Stimme ausgesprochen werden können. Der Berichterstatter im Eröffnungsverfahren, der bisher als befangen galt, weil er den Angeklagten schon im Eröffnungsbeschluß als der That verdächtig bezeichnet hatte, soll von der Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht mehr ausgeschlossen sein. Da der Vorsitzende das Recht erhalten soll, die Leitung der Verhandlung einem
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Die Reform des Strafprozesses
Vorschlag. Der neueste Regierungsentwurf gesteht beide Wünsche zu, hängt
aber diesem Zugeständnis eine lange Reihe von Einzelforderungen an, die sich
auf Beseitigung gewisser sogenannter Garantien des Verfahrens, auf Aus¬
dehnung des Kontumazialverfahrens, auf Einführung einer besonders beschleu¬
nigten Aburteilung bei den sogenannten ävlits llagrWts, auf veränderte
Vorschriften über Vereidigung der Zeugen, auf verminderte Zuständigkeit der
Schwurgerichte und vermehrte Zuständigkeit der Schöffengerichte und andres
mehr beziehen. Der Reichstag wird sich auf Grund eines sehr ausführlichen
und fleißigen Kommissionsberichts demnächst mit dem EntWurfe beschäftigen.
Er wird sich natürlich die Frage vorlegen, ob die von ihm selbst geforderten
beiden Neuerungen überhaupt, und ob sie gerade in der nun vorgeschlagueu
Gestalt so wertvoll seien, daß er sich entschließen könne, auch eine Reihe von
ihm nicht geforderter, ja zum Teil bereits zurückgewiesener andrer Neuerungen
mit in Kauf zu nehmen, oder ob er — wenn das eine nicht ohne das andre
zu haben ist — nicht vorziehen solle, alles beim alten zu lassen.
Stellen wir, ohne auf Einzelheiten einzugehen, die jetzige und die neu¬
geplante Ordnung des Strafprozesses einander kurz gegenüber, und legen wir
dabei die Beschlüsse der Reichstagskommission zu Grunde. Denn es ist wohl
kaum zu befürchten, daß der Reichstag seine Kommission, die den Regierungs¬
vorschlägen schon außerordentlich weit entgegengekommen ist, verleugnen und
z. B. die verfassungsmäßige Selbständigkeit der Landgerichte dem Einspruchs¬
recht eines Beauftragten der Justizverwaltung ausliefern werde.
Die Strafkammern der Landgerichte, heute in allen mittelschweren Straf¬
sachen die eigentlichen Träger der Strafgerichtsbarkeit, sollen künftig einen
großen Teil der geringern Vergehen an die Schöffengerichte abtreten, da¬
gegen auf Kosten der Schwurgerichte um die Verbrechen der öffentlichen Ur¬
kundenfälschung, der schweren Beamtenunterschlagung und des bezüglichen
Bankervtts in ihrer Zuständigkeit erweitert werden. Sie sollen von nun an
in der Zusammensetzung von nur drei statt bisher fünf Richtern entscheiden,
dagegen sollen die Assessoren von der Mitwirkung an der Strafkammer als
Hilfsrichter regelmäßig ausgeschlossen sein. Leider hat die Kommission den
Antrag, innerhalb dieses Dreirichterkollegiums zur Bejahung der Schuldfrage
Einstimmigkeit zu erfordern, abgelehnt, obwohl z. B. die englische Jury, solange
sie besteht, niemals andre als einstimmig gefaßte Verdikte der zwölf Urteils-
geschworncn gekannt hat. Die Verurteilung des Angeklagten, zu der jetzt
mindestens vier von fünf Stimmen nötig sind, soll also künftig schon mit zweien
gegen eine Stimme ausgesprochen werden können. Der Berichterstatter im
Eröffnungsverfahren, der bisher als befangen galt, weil er den Angeklagten
schon im Eröffnungsbeschluß als der That verdächtig bezeichnet hatte, soll von
der Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht mehr ausgeschlossen sein. Da
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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/442>, abgerufen am 25.01.2025.
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