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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschnlunterrichts

Anziehungsmitteln einen seltsamen Eindruck machen. Es sieht oft aus, als
ob der bildende Vortrag eine bittere Latwerge war, die man den Kindern mit
Süßigkeiten vor- und nachher genießbar machen müßte. Die geringe Teilnahme
der Arbeiter muß übrigens nicht bloß als die Folge einer elf- bis zwölf-
stündigen Arbeitszeit aufgefaßt werden. Es spielen harmlosere Dinge mit,
unter denen nicht am wenigsten wirksam das Wirtshaus ist, dessen Einrich¬
tungen nirgends in der Welt einen so behaglichen und scheinbar billigen
Aufenthalt für Hoch und Niedrig gewähren wie in Deutschland. Der größte
Teil des Vereinslebens ist ja bloß Vorwand für Kneiperei. Der deutsche
Arbeiter kann sich darauf berufen, daß auch die über ihm stehenden nicht
mehr Vildungstrieb zeigen. Aber die sind auch oft mehr abgearbeitet als der
Arbeiter. Jedenfalls kann er nicht klagen im Lande so zahlreicher Schulen,
Museen, Bibliotheken, Theater, daß man die Aristokratie der Bildung daraus
gründen wolle, daß man die Bildungsmittel mit Beschlag belegt. Solche
Gedanken, die ebenso kurzsichtig als erfolglos sind, spuken anderwärts mehr
als bei uns. Wir wissen, daß keine Macht der Welt Hans Sachs und Jakob
Böhme hindern konnte, vom Schusterschemel aus eine weitreichende Herrschaft
über die Geister zu erringen. So wenig wie man Ideen durch Schlagbäume
oder Grenzpfähle anhalten kann, so wenig wird man sie hindern können, die
Volksschichten von oben nach unten zu durchdringen. Die Geschichte unsers Bil¬
dungswesens zeigt auch, daß man gegen dieses Durchsickern an sich nichts hätte.
Aber es fehlt an Mitteln, den Durchsickernngsprozeß recht wirksam werden
zu lassen. Das ist nur eine andre Seite von der Thatsache, daß in Deutsch¬
land die obern Stände weniger von den veredelnden Wirkungen des Besitzes
und der freiern Lebensstellung zeigen als in manchen andern Ländern. Die
Aristokratie des Geistes, der Sitten und des Geschmacks ist bei uns unver¬
hältnismäßig schwach. Es ist das ein sozialer Mißstand, der nicht gern her¬
vorgehoben wird. Er gehört aber zu den Kennzeichen des gegenwärtigen
Zustandes des deutschen Volkes und muß ganz besonders bei den Bildungs-
bestrebungen beherzigt werden. Während sich England politisch demokmtisirt
hat, ist sein Volk aristokratisch, auch im guten Sinne, geblieben. In Deutsch¬
land sucht man politisch die Aristokratie herauszubeißen, und unser Volk ist
im ganzen so unaristokratisch wie möglich.

Sehen wir nun zu, was wir von der Bewegung der Hochschnlausdehnung
lernen und von ihren Methoden aufnehmen können. In ihrem Kern liegen
tiefe Gedanken, die auch unter andern Verhältnissen leben und noch andre
Einrichtungen zeugen würden. Sie sind nicht neu, aber noch niemals so not¬
wendig hingestellt, in so großem Maße und mit solchem Erfolg verwirklicht
worden. Daß von dem Überfluß des Wissens, das sich in den Hochschulen
staut, befruchtende Bäche über das Land hinzuleiten sind, ist ein höchst ein-


Ausdehnung des Hochschnlunterrichts

Anziehungsmitteln einen seltsamen Eindruck machen. Es sieht oft aus, als
ob der bildende Vortrag eine bittere Latwerge war, die man den Kindern mit
Süßigkeiten vor- und nachher genießbar machen müßte. Die geringe Teilnahme
der Arbeiter muß übrigens nicht bloß als die Folge einer elf- bis zwölf-
stündigen Arbeitszeit aufgefaßt werden. Es spielen harmlosere Dinge mit,
unter denen nicht am wenigsten wirksam das Wirtshaus ist, dessen Einrich¬
tungen nirgends in der Welt einen so behaglichen und scheinbar billigen
Aufenthalt für Hoch und Niedrig gewähren wie in Deutschland. Der größte
Teil des Vereinslebens ist ja bloß Vorwand für Kneiperei. Der deutsche
Arbeiter kann sich darauf berufen, daß auch die über ihm stehenden nicht
mehr Vildungstrieb zeigen. Aber die sind auch oft mehr abgearbeitet als der
Arbeiter. Jedenfalls kann er nicht klagen im Lande so zahlreicher Schulen,
Museen, Bibliotheken, Theater, daß man die Aristokratie der Bildung daraus
gründen wolle, daß man die Bildungsmittel mit Beschlag belegt. Solche
Gedanken, die ebenso kurzsichtig als erfolglos sind, spuken anderwärts mehr
als bei uns. Wir wissen, daß keine Macht der Welt Hans Sachs und Jakob
Böhme hindern konnte, vom Schusterschemel aus eine weitreichende Herrschaft
über die Geister zu erringen. So wenig wie man Ideen durch Schlagbäume
oder Grenzpfähle anhalten kann, so wenig wird man sie hindern können, die
Volksschichten von oben nach unten zu durchdringen. Die Geschichte unsers Bil¬
dungswesens zeigt auch, daß man gegen dieses Durchsickern an sich nichts hätte.
Aber es fehlt an Mitteln, den Durchsickernngsprozeß recht wirksam werden
zu lassen. Das ist nur eine andre Seite von der Thatsache, daß in Deutsch¬
land die obern Stände weniger von den veredelnden Wirkungen des Besitzes
und der freiern Lebensstellung zeigen als in manchen andern Ländern. Die
Aristokratie des Geistes, der Sitten und des Geschmacks ist bei uns unver¬
hältnismäßig schwach. Es ist das ein sozialer Mißstand, der nicht gern her¬
vorgehoben wird. Er gehört aber zu den Kennzeichen des gegenwärtigen
Zustandes des deutschen Volkes und muß ganz besonders bei den Bildungs-
bestrebungen beherzigt werden. Während sich England politisch demokmtisirt
hat, ist sein Volk aristokratisch, auch im guten Sinne, geblieben. In Deutsch¬
land sucht man politisch die Aristokratie herauszubeißen, und unser Volk ist
im ganzen so unaristokratisch wie möglich.

Sehen wir nun zu, was wir von der Bewegung der Hochschnlausdehnung
lernen und von ihren Methoden aufnehmen können. In ihrem Kern liegen
tiefe Gedanken, die auch unter andern Verhältnissen leben und noch andre
Einrichtungen zeugen würden. Sie sind nicht neu, aber noch niemals so not¬
wendig hingestellt, in so großem Maße und mit solchem Erfolg verwirklicht
worden. Daß von dem Überfluß des Wissens, das sich in den Hochschulen
staut, befruchtende Bäche über das Land hinzuleiten sind, ist ein höchst ein-


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[0428] Ausdehnung des Hochschnlunterrichts Anziehungsmitteln einen seltsamen Eindruck machen. Es sieht oft aus, als ob der bildende Vortrag eine bittere Latwerge war, die man den Kindern mit Süßigkeiten vor- und nachher genießbar machen müßte. Die geringe Teilnahme der Arbeiter muß übrigens nicht bloß als die Folge einer elf- bis zwölf- stündigen Arbeitszeit aufgefaßt werden. Es spielen harmlosere Dinge mit, unter denen nicht am wenigsten wirksam das Wirtshaus ist, dessen Einrich¬ tungen nirgends in der Welt einen so behaglichen und scheinbar billigen Aufenthalt für Hoch und Niedrig gewähren wie in Deutschland. Der größte Teil des Vereinslebens ist ja bloß Vorwand für Kneiperei. Der deutsche Arbeiter kann sich darauf berufen, daß auch die über ihm stehenden nicht mehr Vildungstrieb zeigen. Aber die sind auch oft mehr abgearbeitet als der Arbeiter. Jedenfalls kann er nicht klagen im Lande so zahlreicher Schulen, Museen, Bibliotheken, Theater, daß man die Aristokratie der Bildung daraus gründen wolle, daß man die Bildungsmittel mit Beschlag belegt. Solche Gedanken, die ebenso kurzsichtig als erfolglos sind, spuken anderwärts mehr als bei uns. Wir wissen, daß keine Macht der Welt Hans Sachs und Jakob Böhme hindern konnte, vom Schusterschemel aus eine weitreichende Herrschaft über die Geister zu erringen. So wenig wie man Ideen durch Schlagbäume oder Grenzpfähle anhalten kann, so wenig wird man sie hindern können, die Volksschichten von oben nach unten zu durchdringen. Die Geschichte unsers Bil¬ dungswesens zeigt auch, daß man gegen dieses Durchsickern an sich nichts hätte. Aber es fehlt an Mitteln, den Durchsickernngsprozeß recht wirksam werden zu lassen. Das ist nur eine andre Seite von der Thatsache, daß in Deutsch¬ land die obern Stände weniger von den veredelnden Wirkungen des Besitzes und der freiern Lebensstellung zeigen als in manchen andern Ländern. Die Aristokratie des Geistes, der Sitten und des Geschmacks ist bei uns unver¬ hältnismäßig schwach. Es ist das ein sozialer Mißstand, der nicht gern her¬ vorgehoben wird. Er gehört aber zu den Kennzeichen des gegenwärtigen Zustandes des deutschen Volkes und muß ganz besonders bei den Bildungs- bestrebungen beherzigt werden. Während sich England politisch demokmtisirt hat, ist sein Volk aristokratisch, auch im guten Sinne, geblieben. In Deutsch¬ land sucht man politisch die Aristokratie herauszubeißen, und unser Volk ist im ganzen so unaristokratisch wie möglich. Sehen wir nun zu, was wir von der Bewegung der Hochschnlausdehnung lernen und von ihren Methoden aufnehmen können. In ihrem Kern liegen tiefe Gedanken, die auch unter andern Verhältnissen leben und noch andre Einrichtungen zeugen würden. Sie sind nicht neu, aber noch niemals so not¬ wendig hingestellt, in so großem Maße und mit solchem Erfolg verwirklicht worden. Daß von dem Überfluß des Wissens, das sich in den Hochschulen staut, befruchtende Bäche über das Land hinzuleiten sind, ist ein höchst ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/428>, abgerufen am 22.07.2024.