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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulnnterrichts

kussion politischer, sozialer oder litterarischer Fragen mit ganz wenigen Aus¬
nahmen fernbleibt, lehrt ebenso deutlich die Geschichte des deutschen Geisteslebens
wie überhaupt unser öffentliches Leben. Auch darin sind uns England, Frankreich
und Italien weit voran. Die Seltenheit großer Zuwendungen für wissenschaft¬
liche oder litterarische Zwecke zeigt, daß auch unserm Großbesitz nicht jenes rege,
warme Mitleben mit dem ganzen Volke eigen ist, das in England und Nord¬
amerika so schön, groß und versöhnend wirkt. Die Auswüchse des reisenden
Rhetorentnms sind zwar in Deutschland nie so kraß hervorgetreten wie in Amerika,
wie ja bei uns alle Übel des öffentlichen Lebens einen mildern Charakter
zeigen, der mehr zum schleichenden Verlauf neigt. Bei uns sind auch die
Leistungen solider und ästhetisch befriedigender, weshalb wir diese Einzelvorträge
nie ganz entbehren möchten. Aber es sind doch im Grunde hier wie dort nur die
Scusationsredner, die die Vvrtragssäle ganz füllen. Zur Sensation greifen anch
die diesem Handwerk verfallnen Universitätsprofessoren, wenn sie Erfolg haben
wollen, und das Reden in den kaufmännischen u. dergl. Vereinen hat in nicht
wenig Fällen selbst die akademische Vortragsweise beeinflußt. Von der Mehr¬
zahl der Zuhörer wird so ein Vortrag zum Abendbrot genossen wie ein Leit¬
artikel zum Frühstück, und der Bildungswert besteht im besten Fall in einer
ganz vergänglichen Anregung. Die wissenschaftlichen Vereine sind in Deutsch¬
land weit verbreitet, wenn anch noch lange nicht so wie in der Schweiz. Einen
Geschichtsverein und einen naturwissenschaftlichen Verein giebt es jetzt in unsern
mittlern Städten wohl mit wenig Ausnahmen. Der eine sammelt Freunde
aus allen Ständen, die nicht viel mitarbeiten, der andre vereinigt in der Regel
eine kleinere Zahl von Liebhabern des Küfer- oder Schmetterlingssammelns
oder, wo es der Boden erlaubt, der Steinklopferei. Beide verlieren sich leicht
in Kleinkram, sodaß sie oft die bedeutendern Kenner und Köpfe, z. B. unter den
Lehrern der Mittelschule, zurückstoßen. Aber auch hier kann man die eigen¬
tümliche Erfahrung machen, daß es mehr Leute der mittlern als der obern
Klassen sind, die sich thätig beteiligen. Ich kenne solche Vereine in größern
Städten, die fast ganz aus Lehrern und Handwerkern bestehen. "Die andern
verschlemmen ihre Abende, während wir hier bei einem billigen Glas Bier uns
unsre Seltenheiten vorzeigen," sagte mir ein Freund von konservativer Ge¬
sinnung.

Die Lage und Lebensauffassmig der Arbeiter ist in Deutschland vielfach
nicht so, daß die Muße und Lust zu Bildungsbestrebungen aufkommen könnte.
Die einst zahl- und mitgliederreichen Arbeiterbildnngsvereine sind fast alle in
die Hände der Sozialdemokraten übergegangen oder zusammengeschwnnden.
Die bürgerliche Leitung der Bildungsgelegenheiten wird selbst dort von den
Arbeitern abgelehnt, wo sie mit dem besten Willen an sie herankommt und
Treffliches ohne Mühe und Entgelt bietet. Bei Volksunterhaltungsabenden
und ähnlichen Veranstaltungen muß auf den Unbeteiligten der Aufwand an


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kussion politischer, sozialer oder litterarischer Fragen mit ganz wenigen Aus¬
nahmen fernbleibt, lehrt ebenso deutlich die Geschichte des deutschen Geisteslebens
wie überhaupt unser öffentliches Leben. Auch darin sind uns England, Frankreich
und Italien weit voran. Die Seltenheit großer Zuwendungen für wissenschaft¬
liche oder litterarische Zwecke zeigt, daß auch unserm Großbesitz nicht jenes rege,
warme Mitleben mit dem ganzen Volke eigen ist, das in England und Nord¬
amerika so schön, groß und versöhnend wirkt. Die Auswüchse des reisenden
Rhetorentnms sind zwar in Deutschland nie so kraß hervorgetreten wie in Amerika,
wie ja bei uns alle Übel des öffentlichen Lebens einen mildern Charakter
zeigen, der mehr zum schleichenden Verlauf neigt. Bei uns sind auch die
Leistungen solider und ästhetisch befriedigender, weshalb wir diese Einzelvorträge
nie ganz entbehren möchten. Aber es sind doch im Grunde hier wie dort nur die
Scusationsredner, die die Vvrtragssäle ganz füllen. Zur Sensation greifen anch
die diesem Handwerk verfallnen Universitätsprofessoren, wenn sie Erfolg haben
wollen, und das Reden in den kaufmännischen u. dergl. Vereinen hat in nicht
wenig Fällen selbst die akademische Vortragsweise beeinflußt. Von der Mehr¬
zahl der Zuhörer wird so ein Vortrag zum Abendbrot genossen wie ein Leit¬
artikel zum Frühstück, und der Bildungswert besteht im besten Fall in einer
ganz vergänglichen Anregung. Die wissenschaftlichen Vereine sind in Deutsch¬
land weit verbreitet, wenn anch noch lange nicht so wie in der Schweiz. Einen
Geschichtsverein und einen naturwissenschaftlichen Verein giebt es jetzt in unsern
mittlern Städten wohl mit wenig Ausnahmen. Der eine sammelt Freunde
aus allen Ständen, die nicht viel mitarbeiten, der andre vereinigt in der Regel
eine kleinere Zahl von Liebhabern des Küfer- oder Schmetterlingssammelns
oder, wo es der Boden erlaubt, der Steinklopferei. Beide verlieren sich leicht
in Kleinkram, sodaß sie oft die bedeutendern Kenner und Köpfe, z. B. unter den
Lehrern der Mittelschule, zurückstoßen. Aber auch hier kann man die eigen¬
tümliche Erfahrung machen, daß es mehr Leute der mittlern als der obern
Klassen sind, die sich thätig beteiligen. Ich kenne solche Vereine in größern
Städten, die fast ganz aus Lehrern und Handwerkern bestehen. „Die andern
verschlemmen ihre Abende, während wir hier bei einem billigen Glas Bier uns
unsre Seltenheiten vorzeigen," sagte mir ein Freund von konservativer Ge¬
sinnung.

Die Lage und Lebensauffassmig der Arbeiter ist in Deutschland vielfach
nicht so, daß die Muße und Lust zu Bildungsbestrebungen aufkommen könnte.
Die einst zahl- und mitgliederreichen Arbeiterbildnngsvereine sind fast alle in
die Hände der Sozialdemokraten übergegangen oder zusammengeschwnnden.
Die bürgerliche Leitung der Bildungsgelegenheiten wird selbst dort von den
Arbeitern abgelehnt, wo sie mit dem besten Willen an sie herankommt und
Treffliches ohne Mühe und Entgelt bietet. Bei Volksunterhaltungsabenden
und ähnlichen Veranstaltungen muß auf den Unbeteiligten der Aufwand an


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[0427] Ausdehnung des Hochschulnnterrichts kussion politischer, sozialer oder litterarischer Fragen mit ganz wenigen Aus¬ nahmen fernbleibt, lehrt ebenso deutlich die Geschichte des deutschen Geisteslebens wie überhaupt unser öffentliches Leben. Auch darin sind uns England, Frankreich und Italien weit voran. Die Seltenheit großer Zuwendungen für wissenschaft¬ liche oder litterarische Zwecke zeigt, daß auch unserm Großbesitz nicht jenes rege, warme Mitleben mit dem ganzen Volke eigen ist, das in England und Nord¬ amerika so schön, groß und versöhnend wirkt. Die Auswüchse des reisenden Rhetorentnms sind zwar in Deutschland nie so kraß hervorgetreten wie in Amerika, wie ja bei uns alle Übel des öffentlichen Lebens einen mildern Charakter zeigen, der mehr zum schleichenden Verlauf neigt. Bei uns sind auch die Leistungen solider und ästhetisch befriedigender, weshalb wir diese Einzelvorträge nie ganz entbehren möchten. Aber es sind doch im Grunde hier wie dort nur die Scusationsredner, die die Vvrtragssäle ganz füllen. Zur Sensation greifen anch die diesem Handwerk verfallnen Universitätsprofessoren, wenn sie Erfolg haben wollen, und das Reden in den kaufmännischen u. dergl. Vereinen hat in nicht wenig Fällen selbst die akademische Vortragsweise beeinflußt. Von der Mehr¬ zahl der Zuhörer wird so ein Vortrag zum Abendbrot genossen wie ein Leit¬ artikel zum Frühstück, und der Bildungswert besteht im besten Fall in einer ganz vergänglichen Anregung. Die wissenschaftlichen Vereine sind in Deutsch¬ land weit verbreitet, wenn anch noch lange nicht so wie in der Schweiz. Einen Geschichtsverein und einen naturwissenschaftlichen Verein giebt es jetzt in unsern mittlern Städten wohl mit wenig Ausnahmen. Der eine sammelt Freunde aus allen Ständen, die nicht viel mitarbeiten, der andre vereinigt in der Regel eine kleinere Zahl von Liebhabern des Küfer- oder Schmetterlingssammelns oder, wo es der Boden erlaubt, der Steinklopferei. Beide verlieren sich leicht in Kleinkram, sodaß sie oft die bedeutendern Kenner und Köpfe, z. B. unter den Lehrern der Mittelschule, zurückstoßen. Aber auch hier kann man die eigen¬ tümliche Erfahrung machen, daß es mehr Leute der mittlern als der obern Klassen sind, die sich thätig beteiligen. Ich kenne solche Vereine in größern Städten, die fast ganz aus Lehrern und Handwerkern bestehen. „Die andern verschlemmen ihre Abende, während wir hier bei einem billigen Glas Bier uns unsre Seltenheiten vorzeigen," sagte mir ein Freund von konservativer Ge¬ sinnung. Die Lage und Lebensauffassmig der Arbeiter ist in Deutschland vielfach nicht so, daß die Muße und Lust zu Bildungsbestrebungen aufkommen könnte. Die einst zahl- und mitgliederreichen Arbeiterbildnngsvereine sind fast alle in die Hände der Sozialdemokraten übergegangen oder zusammengeschwnnden. Die bürgerliche Leitung der Bildungsgelegenheiten wird selbst dort von den Arbeitern abgelehnt, wo sie mit dem besten Willen an sie herankommt und Treffliches ohne Mühe und Entgelt bietet. Bei Volksunterhaltungsabenden und ähnlichen Veranstaltungen muß auf den Unbeteiligten der Aufwand an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/427>, abgerufen am 22.07.2024.