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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulnnterrichts

Daß diese Popularisirung nur ein Surrogat, das Erstrebenswertere aber das
regelmäßige Studium ist, vergessen die Förderer der Bewegung allzu oft. Sie
werden eines Tages Rückschläge erleben, wie sie dem einst ebenfalls überschätzten
"Lyceum" beschieden gewesen sind. Diese Rückschläge werden um so früher ein¬
treten, je mehr politische Beweggründe die Bewegung aufnimmt. Ihr Wachstum
wäre in England nicht so regelmäßig gewesen, wenn sie sich von Anfang ganz
in den Dienst der Arbeiterbildnng gestellt hätte. Es ist sehr bezeichnend, daß
sie in Amerika die größte Bildungsaufgabe, die die acht Millionen Neger
stellen, bisher noch ganz unberührt gelassen hat. Praktisch handelt es sich
offenbar in den beiden Ländern zunächst um die Zufuhr von Bildung in die
unmittelbar unter den regelmäßigen Universitätsbesuchern liegenden Schichten.
Gerade in dieser unbeabsichtigten Beschränkung liegt ein Grund des bisherigen
Erfolges.

Die reklamehafte Anpreisung der Ausdehnung des Hochschulunterrichts,
wie sie besonders von amerikanischer Seite beliebt wird -- auch die sonst treff¬
liche Schrift Rnsfells ist von diesem anglokeltischen Erbübel nicht frei, das eng
zusammenhängt mit der ans Dünkelhafte streifenden Verkennung des Wertes
des anderwärts geleisteten oder erstrebten --, darf uus nicht zu dem Glauben
verleiten, daß es sich um eine neue Erfindung handle, die man nicht schnell
genug in den deutschen Boden verpflanzen könne. Uns können diese englischen
und amerikanischen Versuche nur zu der Frage anregen, ob nicht anch in unserm
Bildungswescn Lücken auszufüllen seien. Und wenn wir diese Frage bejahen
müssen, dann werden wir natürlich auch diese neuen Methoden prüfen und
gewiß eins und das andre darin finden, das auch für uns Wert hat. Aber
vieles, was dort angestrebt wird, ist doch in Deutschland mit seinen zahl¬
reichen, über alle Gebiete des Reiches verbreiteten Bildungsanstalten bereits
verwirklicht. Wir sprechen hier nicht von Hoch- und Mittelschulen, technischen
Lehranstalten u. dergl,, aber wir erinnern an die Fortbildungsschulen, an die
Sonntags- und Feierabendschuleu, an die landwirtschaftlichen Wanderlehrer,
an die Ferienkurse der Universitäten und mancher Fachschulen, an die Sol¬
datenschulen, an die zahllosen Kurse der kaufmännischen und Arbeitervereine,
an die Vorlesungsreihen der Frauenbildnngsvereine u. a. Es Hütte sich wohl
verlohnt, daß der Übersetzer der Schrift Russells ausgesprochen hätte, wieviel
in denselben Richtungen, die die Hochschulbewegung in England und Amerika
verfolgt, schon früher in Deutschland geleistet worden ist. Doch sind das
Nebensachen. Die Hauptsache ist: Was kann uns diese "Hvchschnlausdehuuug"
nützen, und wo läßt sie sich organisch mit dem verbinden, was wir schon haben?

Das Eigentümlichste daran ist der freie Wille der Lernenden und Lehrenden,
der sich so energisch auf eine und dieselbe Aufgabe richtet. Das ist ein
Gegensatz zu unsrer geordneten und reglementirten Schule, die nur zu oft
den Willen ertötet. Beruhigen wir uns einmal nicht mit der Zahl und


Grenzboten II 1896 53
Ausdehnung des Hochschulnnterrichts

Daß diese Popularisirung nur ein Surrogat, das Erstrebenswertere aber das
regelmäßige Studium ist, vergessen die Förderer der Bewegung allzu oft. Sie
werden eines Tages Rückschläge erleben, wie sie dem einst ebenfalls überschätzten
„Lyceum" beschieden gewesen sind. Diese Rückschläge werden um so früher ein¬
treten, je mehr politische Beweggründe die Bewegung aufnimmt. Ihr Wachstum
wäre in England nicht so regelmäßig gewesen, wenn sie sich von Anfang ganz
in den Dienst der Arbeiterbildnng gestellt hätte. Es ist sehr bezeichnend, daß
sie in Amerika die größte Bildungsaufgabe, die die acht Millionen Neger
stellen, bisher noch ganz unberührt gelassen hat. Praktisch handelt es sich
offenbar in den beiden Ländern zunächst um die Zufuhr von Bildung in die
unmittelbar unter den regelmäßigen Universitätsbesuchern liegenden Schichten.
Gerade in dieser unbeabsichtigten Beschränkung liegt ein Grund des bisherigen
Erfolges.

Die reklamehafte Anpreisung der Ausdehnung des Hochschulunterrichts,
wie sie besonders von amerikanischer Seite beliebt wird — auch die sonst treff¬
liche Schrift Rnsfells ist von diesem anglokeltischen Erbübel nicht frei, das eng
zusammenhängt mit der ans Dünkelhafte streifenden Verkennung des Wertes
des anderwärts geleisteten oder erstrebten —, darf uus nicht zu dem Glauben
verleiten, daß es sich um eine neue Erfindung handle, die man nicht schnell
genug in den deutschen Boden verpflanzen könne. Uns können diese englischen
und amerikanischen Versuche nur zu der Frage anregen, ob nicht anch in unserm
Bildungswescn Lücken auszufüllen seien. Und wenn wir diese Frage bejahen
müssen, dann werden wir natürlich auch diese neuen Methoden prüfen und
gewiß eins und das andre darin finden, das auch für uns Wert hat. Aber
vieles, was dort angestrebt wird, ist doch in Deutschland mit seinen zahl¬
reichen, über alle Gebiete des Reiches verbreiteten Bildungsanstalten bereits
verwirklicht. Wir sprechen hier nicht von Hoch- und Mittelschulen, technischen
Lehranstalten u. dergl,, aber wir erinnern an die Fortbildungsschulen, an die
Sonntags- und Feierabendschuleu, an die landwirtschaftlichen Wanderlehrer,
an die Ferienkurse der Universitäten und mancher Fachschulen, an die Sol¬
datenschulen, an die zahllosen Kurse der kaufmännischen und Arbeitervereine,
an die Vorlesungsreihen der Frauenbildnngsvereine u. a. Es Hütte sich wohl
verlohnt, daß der Übersetzer der Schrift Russells ausgesprochen hätte, wieviel
in denselben Richtungen, die die Hochschulbewegung in England und Amerika
verfolgt, schon früher in Deutschland geleistet worden ist. Doch sind das
Nebensachen. Die Hauptsache ist: Was kann uns diese „Hvchschnlausdehuuug"
nützen, und wo läßt sie sich organisch mit dem verbinden, was wir schon haben?

Das Eigentümlichste daran ist der freie Wille der Lernenden und Lehrenden,
der sich so energisch auf eine und dieselbe Aufgabe richtet. Das ist ein
Gegensatz zu unsrer geordneten und reglementirten Schule, die nur zu oft
den Willen ertötet. Beruhigen wir uns einmal nicht mit der Zahl und


Grenzboten II 1896 53
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[0425] Ausdehnung des Hochschulnnterrichts Daß diese Popularisirung nur ein Surrogat, das Erstrebenswertere aber das regelmäßige Studium ist, vergessen die Förderer der Bewegung allzu oft. Sie werden eines Tages Rückschläge erleben, wie sie dem einst ebenfalls überschätzten „Lyceum" beschieden gewesen sind. Diese Rückschläge werden um so früher ein¬ treten, je mehr politische Beweggründe die Bewegung aufnimmt. Ihr Wachstum wäre in England nicht so regelmäßig gewesen, wenn sie sich von Anfang ganz in den Dienst der Arbeiterbildnng gestellt hätte. Es ist sehr bezeichnend, daß sie in Amerika die größte Bildungsaufgabe, die die acht Millionen Neger stellen, bisher noch ganz unberührt gelassen hat. Praktisch handelt es sich offenbar in den beiden Ländern zunächst um die Zufuhr von Bildung in die unmittelbar unter den regelmäßigen Universitätsbesuchern liegenden Schichten. Gerade in dieser unbeabsichtigten Beschränkung liegt ein Grund des bisherigen Erfolges. Die reklamehafte Anpreisung der Ausdehnung des Hochschulunterrichts, wie sie besonders von amerikanischer Seite beliebt wird — auch die sonst treff¬ liche Schrift Rnsfells ist von diesem anglokeltischen Erbübel nicht frei, das eng zusammenhängt mit der ans Dünkelhafte streifenden Verkennung des Wertes des anderwärts geleisteten oder erstrebten —, darf uus nicht zu dem Glauben verleiten, daß es sich um eine neue Erfindung handle, die man nicht schnell genug in den deutschen Boden verpflanzen könne. Uns können diese englischen und amerikanischen Versuche nur zu der Frage anregen, ob nicht anch in unserm Bildungswescn Lücken auszufüllen seien. Und wenn wir diese Frage bejahen müssen, dann werden wir natürlich auch diese neuen Methoden prüfen und gewiß eins und das andre darin finden, das auch für uns Wert hat. Aber vieles, was dort angestrebt wird, ist doch in Deutschland mit seinen zahl¬ reichen, über alle Gebiete des Reiches verbreiteten Bildungsanstalten bereits verwirklicht. Wir sprechen hier nicht von Hoch- und Mittelschulen, technischen Lehranstalten u. dergl,, aber wir erinnern an die Fortbildungsschulen, an die Sonntags- und Feierabendschuleu, an die landwirtschaftlichen Wanderlehrer, an die Ferienkurse der Universitäten und mancher Fachschulen, an die Sol¬ datenschulen, an die zahllosen Kurse der kaufmännischen und Arbeitervereine, an die Vorlesungsreihen der Frauenbildnngsvereine u. a. Es Hütte sich wohl verlohnt, daß der Übersetzer der Schrift Russells ausgesprochen hätte, wieviel in denselben Richtungen, die die Hochschulbewegung in England und Amerika verfolgt, schon früher in Deutschland geleistet worden ist. Doch sind das Nebensachen. Die Hauptsache ist: Was kann uns diese „Hvchschnlausdehuuug" nützen, und wo läßt sie sich organisch mit dem verbinden, was wir schon haben? Das Eigentümlichste daran ist der freie Wille der Lernenden und Lehrenden, der sich so energisch auf eine und dieselbe Aufgabe richtet. Das ist ein Gegensatz zu unsrer geordneten und reglementirten Schule, die nur zu oft den Willen ertötet. Beruhigen wir uns einmal nicht mit der Zahl und Grenzboten II 1896 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/425>, abgerufen am 22.07.2024.