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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulunterrichts

Wicklung der höhern Industrie und der rationellen Landwirtschaft in Amerika und
noch deutlicher die sehr zu beherzigende Thatsache, daß amerikanische Ingenieure
und Werkführer in Australien, Japan und Südafrika die englischen und deutschen
verdrängen. Besonders diese Erfahrung hat wieder auf England zurückgewirkt
und seinem technischen Unterrichtswesen neue Antriebe gegeben. Wir können
nicht ohne Neid diese so belebend und fördernd austauschende Wechselwirkung
der beiden großen englischsprechenden Völker betrachten. Welche Kraft liegt
für die ganze anglokeltische Gemeinschaft in diesem Fruchtbarwerden des Wett¬
bewerbs für die Gesamtheit!

Ohne Zweifel ist auch in dem heutigen Betriebe dieses ausgebreiteten Hoch¬
schulunterrichts viel Überschätztes, das man in Deutschland von vornherein ab¬
lehnen wird. Im englischen und amerikanischen Geiste gührt eine keltische Ein¬
impfung von phantastischer Selbsttäuschung über das wahre Wesen der aller-
wichtigsten Dinge, die zwar viel zu der Begeisterung beiträgt, mit der neue An¬
sichten verwirklicht, neue Einrichtungen ins Leben gerufen werden, in der aber auch
ein Keim des Verfalls und der Unwahrheit liegt. Auf dem Gebiete des Unterrichts
wird dieser Neigung durch das lebendige Verständnis sür die Forderungen des
praktischen Lebens ein Gegengewicht geschaffen. Es mird aber doch auch im
Unterrichtswesen soviel Schein für Sein genommen, daß wir behutsam sein
müssen. So imponirt uns z. V. in der Nussellscheu Schrift durchaus nicht
der Nachweis, daß eine Anzahl von Komiteemitgliedern und Vortragenden
der Ausdehnungsbewegung zu Ministerstcllen und andern hohen Plätzen empor¬
gestiegen sind. Denn welchen Nullen hat nicht schon das parlamentarische
System die Wege zu größtem Einfluß geöffnet! Daß Mr. Bryce, der Vor¬
stand des englischen Handelsamtcs, der Sache günstig gesinnt ist, beweist uns
gar nichts, denn in seinem viel überschätzten Buch über die Vereinigten Staaten
hat er sich keineswegs als tiefen Denker erwiesen. Daß sich in Buffalo nach
dem ersten Kursus in Nationalökonomie eine Gesellschaft für das Studium der
Nationalökonomie bildete, ist für uns noch kein Beweis für den Erfolg der
Sache. Man muß erst sehen, was eine solche Gesellschaft leistet. Das wissen¬
schaftliche und halbwifsenschaftliche Vereinsleben, das gerade in Deutschland blüht,
ist in England und Amerika viel dürftiger entwickelt, als diese rege Thätigkeit
sür die Verbreitung von Kenntnissen erwarten ließe. Ich erinnere an die
23 geographischen Gesellschaften Deutschlands, denen in England mit den
Kolonien 10 und in den Vereinigten Staaten 3 gegenüberstehen. Auf diesem
Gebiete wäre also drüben ohnehin noch ein weiter Raum für volksbildende Thätig¬
keit. Allerdings käme es dabei mehr auf ruhige Arbeit als begeistertes Streben
an. Es ist auffallend, daß sich in Amerika die Universität Harvard, wo die
Wissenschaft in deutscher Weise betrieben wird, noch wenig an den volkstüm¬
lichen Hochschulkursen beteiligt, während kleine, namenlose Colleges, die nicht
die Stufe eines Gymnasiums erreichen, eine geräuschvolle Thätigkeit entfalten.


Ausdehnung des Hochschulunterrichts

Wicklung der höhern Industrie und der rationellen Landwirtschaft in Amerika und
noch deutlicher die sehr zu beherzigende Thatsache, daß amerikanische Ingenieure
und Werkführer in Australien, Japan und Südafrika die englischen und deutschen
verdrängen. Besonders diese Erfahrung hat wieder auf England zurückgewirkt
und seinem technischen Unterrichtswesen neue Antriebe gegeben. Wir können
nicht ohne Neid diese so belebend und fördernd austauschende Wechselwirkung
der beiden großen englischsprechenden Völker betrachten. Welche Kraft liegt
für die ganze anglokeltische Gemeinschaft in diesem Fruchtbarwerden des Wett¬
bewerbs für die Gesamtheit!

Ohne Zweifel ist auch in dem heutigen Betriebe dieses ausgebreiteten Hoch¬
schulunterrichts viel Überschätztes, das man in Deutschland von vornherein ab¬
lehnen wird. Im englischen und amerikanischen Geiste gührt eine keltische Ein¬
impfung von phantastischer Selbsttäuschung über das wahre Wesen der aller-
wichtigsten Dinge, die zwar viel zu der Begeisterung beiträgt, mit der neue An¬
sichten verwirklicht, neue Einrichtungen ins Leben gerufen werden, in der aber auch
ein Keim des Verfalls und der Unwahrheit liegt. Auf dem Gebiete des Unterrichts
wird dieser Neigung durch das lebendige Verständnis sür die Forderungen des
praktischen Lebens ein Gegengewicht geschaffen. Es mird aber doch auch im
Unterrichtswesen soviel Schein für Sein genommen, daß wir behutsam sein
müssen. So imponirt uns z. V. in der Nussellscheu Schrift durchaus nicht
der Nachweis, daß eine Anzahl von Komiteemitgliedern und Vortragenden
der Ausdehnungsbewegung zu Ministerstcllen und andern hohen Plätzen empor¬
gestiegen sind. Denn welchen Nullen hat nicht schon das parlamentarische
System die Wege zu größtem Einfluß geöffnet! Daß Mr. Bryce, der Vor¬
stand des englischen Handelsamtcs, der Sache günstig gesinnt ist, beweist uns
gar nichts, denn in seinem viel überschätzten Buch über die Vereinigten Staaten
hat er sich keineswegs als tiefen Denker erwiesen. Daß sich in Buffalo nach
dem ersten Kursus in Nationalökonomie eine Gesellschaft für das Studium der
Nationalökonomie bildete, ist für uns noch kein Beweis für den Erfolg der
Sache. Man muß erst sehen, was eine solche Gesellschaft leistet. Das wissen¬
schaftliche und halbwifsenschaftliche Vereinsleben, das gerade in Deutschland blüht,
ist in England und Amerika viel dürftiger entwickelt, als diese rege Thätigkeit
sür die Verbreitung von Kenntnissen erwarten ließe. Ich erinnere an die
23 geographischen Gesellschaften Deutschlands, denen in England mit den
Kolonien 10 und in den Vereinigten Staaten 3 gegenüberstehen. Auf diesem
Gebiete wäre also drüben ohnehin noch ein weiter Raum für volksbildende Thätig¬
keit. Allerdings käme es dabei mehr auf ruhige Arbeit als begeistertes Streben
an. Es ist auffallend, daß sich in Amerika die Universität Harvard, wo die
Wissenschaft in deutscher Weise betrieben wird, noch wenig an den volkstüm¬
lichen Hochschulkursen beteiligt, während kleine, namenlose Colleges, die nicht
die Stufe eines Gymnasiums erreichen, eine geräuschvolle Thätigkeit entfalten.


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[0424] Ausdehnung des Hochschulunterrichts Wicklung der höhern Industrie und der rationellen Landwirtschaft in Amerika und noch deutlicher die sehr zu beherzigende Thatsache, daß amerikanische Ingenieure und Werkführer in Australien, Japan und Südafrika die englischen und deutschen verdrängen. Besonders diese Erfahrung hat wieder auf England zurückgewirkt und seinem technischen Unterrichtswesen neue Antriebe gegeben. Wir können nicht ohne Neid diese so belebend und fördernd austauschende Wechselwirkung der beiden großen englischsprechenden Völker betrachten. Welche Kraft liegt für die ganze anglokeltische Gemeinschaft in diesem Fruchtbarwerden des Wett¬ bewerbs für die Gesamtheit! Ohne Zweifel ist auch in dem heutigen Betriebe dieses ausgebreiteten Hoch¬ schulunterrichts viel Überschätztes, das man in Deutschland von vornherein ab¬ lehnen wird. Im englischen und amerikanischen Geiste gührt eine keltische Ein¬ impfung von phantastischer Selbsttäuschung über das wahre Wesen der aller- wichtigsten Dinge, die zwar viel zu der Begeisterung beiträgt, mit der neue An¬ sichten verwirklicht, neue Einrichtungen ins Leben gerufen werden, in der aber auch ein Keim des Verfalls und der Unwahrheit liegt. Auf dem Gebiete des Unterrichts wird dieser Neigung durch das lebendige Verständnis sür die Forderungen des praktischen Lebens ein Gegengewicht geschaffen. Es mird aber doch auch im Unterrichtswesen soviel Schein für Sein genommen, daß wir behutsam sein müssen. So imponirt uns z. V. in der Nussellscheu Schrift durchaus nicht der Nachweis, daß eine Anzahl von Komiteemitgliedern und Vortragenden der Ausdehnungsbewegung zu Ministerstcllen und andern hohen Plätzen empor¬ gestiegen sind. Denn welchen Nullen hat nicht schon das parlamentarische System die Wege zu größtem Einfluß geöffnet! Daß Mr. Bryce, der Vor¬ stand des englischen Handelsamtcs, der Sache günstig gesinnt ist, beweist uns gar nichts, denn in seinem viel überschätzten Buch über die Vereinigten Staaten hat er sich keineswegs als tiefen Denker erwiesen. Daß sich in Buffalo nach dem ersten Kursus in Nationalökonomie eine Gesellschaft für das Studium der Nationalökonomie bildete, ist für uns noch kein Beweis für den Erfolg der Sache. Man muß erst sehen, was eine solche Gesellschaft leistet. Das wissen¬ schaftliche und halbwifsenschaftliche Vereinsleben, das gerade in Deutschland blüht, ist in England und Amerika viel dürftiger entwickelt, als diese rege Thätigkeit sür die Verbreitung von Kenntnissen erwarten ließe. Ich erinnere an die 23 geographischen Gesellschaften Deutschlands, denen in England mit den Kolonien 10 und in den Vereinigten Staaten 3 gegenüberstehen. Auf diesem Gebiete wäre also drüben ohnehin noch ein weiter Raum für volksbildende Thätig¬ keit. Allerdings käme es dabei mehr auf ruhige Arbeit als begeistertes Streben an. Es ist auffallend, daß sich in Amerika die Universität Harvard, wo die Wissenschaft in deutscher Weise betrieben wird, noch wenig an den volkstüm¬ lichen Hochschulkursen beteiligt, während kleine, namenlose Colleges, die nicht die Stufe eines Gymnasiums erreichen, eine geräuschvolle Thätigkeit entfalten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/424>, abgerufen am 22.07.2024.