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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Ausdehnung des Hochschulnnterrichts

Amerika gerade im Gegensatz gegen die Einzelvorträge groß geworden. Ihr
Schöpfer, Stuart vom Triuith College in Cambridge, lehnte bei den ersten Ver¬
suchen im Jahre 1867 die damals üblichen Einzelvorträge ab, weil er die herum¬
schweifende, bald auf den, bald auf jenen Gegenstand gerichtete Neugier für sein
Bestreben, "etwas ordentliches" zu leisten, für schädlich hielt. In den Einzel-
vorträgen wird ja das Samenkorn hinausgeworfen, aber wie und wo es keimt, ist
dem Zufall überlassen. In zusammenhängenden Kursen sollten die Keime sorgsam
eingesenkt, von Stunde zu Stunde gepflegt und dann die Hörer zum selbständigen
Weiterlernen befähigt werden. Daraus entstanden geschlossene Vortragskursc
von sechs bis acht Stunden über einen Teil einer Wissenschaft. Als das
Verlangen nach solchen Vortragsreihen immer lebhafter wurde, drohte ihnen
dieselbe Zersplitterung wie früher den Einzelvorträgcn, und das Aufgehen in
Virtuosentum und Effekthascherei. Darum erklärte zuerst die Universität Cam¬
bridge ihre Bereitwilligkeit, diese neue Art von Lehrthätigkeit unter ihre Aufsicht
zu nehmen, und ließ von drei Dozenten des Trinithkollegs 1372 in Städten
Mittelenglands zwölfstündige Kurse abhalten, in denen die Grundzüge der Ein¬
richtung bereits alle hervortreten: gedruckte Leitsätze; wöchentliche schriftliche
Arbeiten, die der Vortragende beurteilt; Besprechung über jede Vorlesung und
schriftliche Prüfungen am Ende jedes Kurses.

Stuart hatte vou Anfang an Inhaltsverzeichnisse der Vorlesungen aus¬
gegeben, die den Zuhörern gleichsam einen Faden für die Wiederholung des
Gehörten und Leitsätze für die Ausfüllung der Lücken ihrer Notizen boten.
Diese LM^vus haben nach allen Zeugnissen von Anfang an ungemein viel
zu dem praktischen Erfolg der Vorlesungen beigetragen. Der Zuhörer hat in
ihnen eine Gewähr des bleibenden Nutzens; sie sammeln seine Aufmerksamkeit
und verhindern das Auseinanderfallen der Einzelkenntnisfe. Wer den Syllabus
in der erweiterten Form betrachtet, wie er jetzt den Hörern in die Hand ge¬
geben wird, dem scheint er eine unbedingte notwendige Forderung der ganzen
Einrichtung zu sein. Er wird sich jedenfalls, wenn auch unter einem passender"
Namen, noch weiter verbreiten. An deutschen Universitäten ist übrigens etwas
ähnliches schon lange üblich, besonders in juristischen Vorlesungen. Auch hier
werden immer mehr Lehrer ihren Zuhörern die Grundlinien und Leitsätze ihrer
Vorlesungen in die Hand geben. Die Hinzufügung von ausgewählten Fragen,
von Litteraturangaben und erklärenden Ausführungen haben manchen 8Mg,bu8
dem "Leitfaden" schon sehr ähnlich gemacht. Wo der persönliche Verkehr mit
dem Lehrer nicht möglich ist, soll er diesen ersetzen oder wenigstens ein Sur¬
rogat dafür bilden.

Eine zweite Verbesserung des einfachen Vortrags sind die Besprechungen
des Lehrers mit den Zuhörern, wofür man den Namen "Klasse" eingeführt
hat. Wir können sie mit den Seminarübungen unsrer Universitäten vergleichen.
Wie in diesen, haben sich in den Klassen der volkstümlichen Universitütskurse


Ausdehnung des Hochschulnnterrichts

Amerika gerade im Gegensatz gegen die Einzelvorträge groß geworden. Ihr
Schöpfer, Stuart vom Triuith College in Cambridge, lehnte bei den ersten Ver¬
suchen im Jahre 1867 die damals üblichen Einzelvorträge ab, weil er die herum¬
schweifende, bald auf den, bald auf jenen Gegenstand gerichtete Neugier für sein
Bestreben, „etwas ordentliches" zu leisten, für schädlich hielt. In den Einzel-
vorträgen wird ja das Samenkorn hinausgeworfen, aber wie und wo es keimt, ist
dem Zufall überlassen. In zusammenhängenden Kursen sollten die Keime sorgsam
eingesenkt, von Stunde zu Stunde gepflegt und dann die Hörer zum selbständigen
Weiterlernen befähigt werden. Daraus entstanden geschlossene Vortragskursc
von sechs bis acht Stunden über einen Teil einer Wissenschaft. Als das
Verlangen nach solchen Vortragsreihen immer lebhafter wurde, drohte ihnen
dieselbe Zersplitterung wie früher den Einzelvorträgcn, und das Aufgehen in
Virtuosentum und Effekthascherei. Darum erklärte zuerst die Universität Cam¬
bridge ihre Bereitwilligkeit, diese neue Art von Lehrthätigkeit unter ihre Aufsicht
zu nehmen, und ließ von drei Dozenten des Trinithkollegs 1372 in Städten
Mittelenglands zwölfstündige Kurse abhalten, in denen die Grundzüge der Ein¬
richtung bereits alle hervortreten: gedruckte Leitsätze; wöchentliche schriftliche
Arbeiten, die der Vortragende beurteilt; Besprechung über jede Vorlesung und
schriftliche Prüfungen am Ende jedes Kurses.

Stuart hatte vou Anfang an Inhaltsverzeichnisse der Vorlesungen aus¬
gegeben, die den Zuhörern gleichsam einen Faden für die Wiederholung des
Gehörten und Leitsätze für die Ausfüllung der Lücken ihrer Notizen boten.
Diese LM^vus haben nach allen Zeugnissen von Anfang an ungemein viel
zu dem praktischen Erfolg der Vorlesungen beigetragen. Der Zuhörer hat in
ihnen eine Gewähr des bleibenden Nutzens; sie sammeln seine Aufmerksamkeit
und verhindern das Auseinanderfallen der Einzelkenntnisfe. Wer den Syllabus
in der erweiterten Form betrachtet, wie er jetzt den Hörern in die Hand ge¬
geben wird, dem scheint er eine unbedingte notwendige Forderung der ganzen
Einrichtung zu sein. Er wird sich jedenfalls, wenn auch unter einem passender»
Namen, noch weiter verbreiten. An deutschen Universitäten ist übrigens etwas
ähnliches schon lange üblich, besonders in juristischen Vorlesungen. Auch hier
werden immer mehr Lehrer ihren Zuhörern die Grundlinien und Leitsätze ihrer
Vorlesungen in die Hand geben. Die Hinzufügung von ausgewählten Fragen,
von Litteraturangaben und erklärenden Ausführungen haben manchen 8Mg,bu8
dem „Leitfaden" schon sehr ähnlich gemacht. Wo der persönliche Verkehr mit
dem Lehrer nicht möglich ist, soll er diesen ersetzen oder wenigstens ein Sur¬
rogat dafür bilden.

Eine zweite Verbesserung des einfachen Vortrags sind die Besprechungen
des Lehrers mit den Zuhörern, wofür man den Namen „Klasse" eingeführt
hat. Wir können sie mit den Seminarübungen unsrer Universitäten vergleichen.
Wie in diesen, haben sich in den Klassen der volkstümlichen Universitütskurse


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[0421] Ausdehnung des Hochschulnnterrichts Amerika gerade im Gegensatz gegen die Einzelvorträge groß geworden. Ihr Schöpfer, Stuart vom Triuith College in Cambridge, lehnte bei den ersten Ver¬ suchen im Jahre 1867 die damals üblichen Einzelvorträge ab, weil er die herum¬ schweifende, bald auf den, bald auf jenen Gegenstand gerichtete Neugier für sein Bestreben, „etwas ordentliches" zu leisten, für schädlich hielt. In den Einzel- vorträgen wird ja das Samenkorn hinausgeworfen, aber wie und wo es keimt, ist dem Zufall überlassen. In zusammenhängenden Kursen sollten die Keime sorgsam eingesenkt, von Stunde zu Stunde gepflegt und dann die Hörer zum selbständigen Weiterlernen befähigt werden. Daraus entstanden geschlossene Vortragskursc von sechs bis acht Stunden über einen Teil einer Wissenschaft. Als das Verlangen nach solchen Vortragsreihen immer lebhafter wurde, drohte ihnen dieselbe Zersplitterung wie früher den Einzelvorträgcn, und das Aufgehen in Virtuosentum und Effekthascherei. Darum erklärte zuerst die Universität Cam¬ bridge ihre Bereitwilligkeit, diese neue Art von Lehrthätigkeit unter ihre Aufsicht zu nehmen, und ließ von drei Dozenten des Trinithkollegs 1372 in Städten Mittelenglands zwölfstündige Kurse abhalten, in denen die Grundzüge der Ein¬ richtung bereits alle hervortreten: gedruckte Leitsätze; wöchentliche schriftliche Arbeiten, die der Vortragende beurteilt; Besprechung über jede Vorlesung und schriftliche Prüfungen am Ende jedes Kurses. Stuart hatte vou Anfang an Inhaltsverzeichnisse der Vorlesungen aus¬ gegeben, die den Zuhörern gleichsam einen Faden für die Wiederholung des Gehörten und Leitsätze für die Ausfüllung der Lücken ihrer Notizen boten. Diese LM^vus haben nach allen Zeugnissen von Anfang an ungemein viel zu dem praktischen Erfolg der Vorlesungen beigetragen. Der Zuhörer hat in ihnen eine Gewähr des bleibenden Nutzens; sie sammeln seine Aufmerksamkeit und verhindern das Auseinanderfallen der Einzelkenntnisfe. Wer den Syllabus in der erweiterten Form betrachtet, wie er jetzt den Hörern in die Hand ge¬ geben wird, dem scheint er eine unbedingte notwendige Forderung der ganzen Einrichtung zu sein. Er wird sich jedenfalls, wenn auch unter einem passender» Namen, noch weiter verbreiten. An deutschen Universitäten ist übrigens etwas ähnliches schon lange üblich, besonders in juristischen Vorlesungen. Auch hier werden immer mehr Lehrer ihren Zuhörern die Grundlinien und Leitsätze ihrer Vorlesungen in die Hand geben. Die Hinzufügung von ausgewählten Fragen, von Litteraturangaben und erklärenden Ausführungen haben manchen 8Mg,bu8 dem „Leitfaden" schon sehr ähnlich gemacht. Wo der persönliche Verkehr mit dem Lehrer nicht möglich ist, soll er diesen ersetzen oder wenigstens ein Sur¬ rogat dafür bilden. Eine zweite Verbesserung des einfachen Vortrags sind die Besprechungen des Lehrers mit den Zuhörern, wofür man den Namen „Klasse" eingeführt hat. Wir können sie mit den Seminarübungen unsrer Universitäten vergleichen. Wie in diesen, haben sich in den Klassen der volkstümlichen Universitütskurse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/421>, abgerufen am 22.07.2024.