Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.Der Tuchmacherstreik in Aottbus Worin bestehen nun die Errungenschaften des Streiks? In folgendem. In einer Beziehung können aber die Streikführer doch zufrieden sein: sie Der Tuchmacherstreik in Aottbus Worin bestehen nun die Errungenschaften des Streiks? In folgendem. In einer Beziehung können aber die Streikführer doch zufrieden sein: sie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0268" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222570"/> <fw type="header" place="top"> Der Tuchmacherstreik in Aottbus</fw><lb/> <p xml:id="ID_785"> Worin bestehen nun die Errungenschaften des Streiks? In folgendem.<lb/> Ein Teil der Stundenarbeiter hat eine Lohnerhöhung erhalten. Eine Anzahl der<lb/> frühern Arbeiter soll von der Wiederaufnahme ausgeschlossen bleiben, eine so¬<lb/> genannte schwarze Liste jedoch nicht verbreitet werden. So lange sich in Kottbus<lb/> kein Mangel an Arbeitskräften bemerkbar macht, sollen keine auswärtigen Ar¬<lb/> beiter herangezogen werden. Die elfstündige Arbeitszeit und die anderthalb-<lb/> stündige Mittagspause werden allgemein eingeführt. Das sind die Zusiche-<lb/> rungen der Fabrikantenvereinigung. Ein großer Teil von dem aber, was hier<lb/> versprochen wird, war schon längst gewährt, und daß das andre gewährt<lb/> werden würde, wußte man schon lange. Das alles hing schon wie reife Früchte<lb/> am Baum, man hätte den Baum schütteln sollen, aber man fing ein, ihn abzu¬<lb/> sägen. Mit andern Worten, das alles Hütte sich ohne solche Opfer er¬<lb/> reichen lassen, und ohne so große Schädigungen.</p><lb/> <p xml:id="ID_786"> In einer Beziehung können aber die Streikführer doch zufrieden sein: sie<lb/> haben ihren Einfluß aus die Menge in glänzender Weise gezeigt, sie haben den<lb/> Beweis geliefert, wie stark und gewaltig die Macht ihrer Organisation ist.<lb/> Während der Textilarbeiterbund vor dem Streik in Kottbus nur einige hundert<lb/> Angehörige gehabt haben soll, ist er jetzt wohl auf eben so viel tausende an¬<lb/> gewachsen. Nach den schmerzlichen Erfahrungen, die in diesen Wochen gemacht<lb/> worden sind, könnte nun jemand auf die Vermutung kommen, daß sich ein Teil<lb/> der Arbeiter, wenn er erst wieder in die nüchterne Alltagsstimmung zurück¬<lb/> gekommen ist, vielleicht die Frage vorlegen werde: War dieser Streik gerecht¬<lb/> fertigt, und war die Führung so geschickt, daß man ihr auch künftig vertrauen<lb/> kann? Wirklich sieht es sich gegenwärtig so an, als ob eine große Anzahl<lb/> von Arbeitern starke Neigung verspürte, die Zügel, an denen sie sich von ihren<lb/> Führern so lange haben gängeln lassen, unmutig zu zerreißen. Selbst als sich<lb/> die Zahl derer, die zunächst nicht wieder aufgenommen werden konnten, als<lb/> größer herausstellte, als man geglaubt hatte, ließen sich die übrigen dadurch<lb/> nicht weiter aufregen. Es war kein Feuer mehr in ihnen und dem entsprechend<lb/> zeigten die Versammlungen, die dann noch abgehalten wurden, eine gähnende<lb/> Leere, obgleich die Einladungen dazu noch immer in der alten schneidigen<lb/> Form abgefaßt waren: Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin hat zu erscheinen.<lb/> Man könnte sich daher zu der weitern Vermutung verleiten lassen, daß das<lb/> stolze Mauerwerk der Organisation schließlich doch noch einen Riß bekommen<lb/> werde. Aber nein, daran ist nicht zu denken. Die Führer werden schon mit<lb/> ihrer Hoffnung Recht haben.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0268]
Der Tuchmacherstreik in Aottbus
Worin bestehen nun die Errungenschaften des Streiks? In folgendem.
Ein Teil der Stundenarbeiter hat eine Lohnerhöhung erhalten. Eine Anzahl der
frühern Arbeiter soll von der Wiederaufnahme ausgeschlossen bleiben, eine so¬
genannte schwarze Liste jedoch nicht verbreitet werden. So lange sich in Kottbus
kein Mangel an Arbeitskräften bemerkbar macht, sollen keine auswärtigen Ar¬
beiter herangezogen werden. Die elfstündige Arbeitszeit und die anderthalb-
stündige Mittagspause werden allgemein eingeführt. Das sind die Zusiche-
rungen der Fabrikantenvereinigung. Ein großer Teil von dem aber, was hier
versprochen wird, war schon längst gewährt, und daß das andre gewährt
werden würde, wußte man schon lange. Das alles hing schon wie reife Früchte
am Baum, man hätte den Baum schütteln sollen, aber man fing ein, ihn abzu¬
sägen. Mit andern Worten, das alles Hütte sich ohne solche Opfer er¬
reichen lassen, und ohne so große Schädigungen.
In einer Beziehung können aber die Streikführer doch zufrieden sein: sie
haben ihren Einfluß aus die Menge in glänzender Weise gezeigt, sie haben den
Beweis geliefert, wie stark und gewaltig die Macht ihrer Organisation ist.
Während der Textilarbeiterbund vor dem Streik in Kottbus nur einige hundert
Angehörige gehabt haben soll, ist er jetzt wohl auf eben so viel tausende an¬
gewachsen. Nach den schmerzlichen Erfahrungen, die in diesen Wochen gemacht
worden sind, könnte nun jemand auf die Vermutung kommen, daß sich ein Teil
der Arbeiter, wenn er erst wieder in die nüchterne Alltagsstimmung zurück¬
gekommen ist, vielleicht die Frage vorlegen werde: War dieser Streik gerecht¬
fertigt, und war die Führung so geschickt, daß man ihr auch künftig vertrauen
kann? Wirklich sieht es sich gegenwärtig so an, als ob eine große Anzahl
von Arbeitern starke Neigung verspürte, die Zügel, an denen sie sich von ihren
Führern so lange haben gängeln lassen, unmutig zu zerreißen. Selbst als sich
die Zahl derer, die zunächst nicht wieder aufgenommen werden konnten, als
größer herausstellte, als man geglaubt hatte, ließen sich die übrigen dadurch
nicht weiter aufregen. Es war kein Feuer mehr in ihnen und dem entsprechend
zeigten die Versammlungen, die dann noch abgehalten wurden, eine gähnende
Leere, obgleich die Einladungen dazu noch immer in der alten schneidigen
Form abgefaßt waren: Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin hat zu erscheinen.
Man könnte sich daher zu der weitern Vermutung verleiten lassen, daß das
stolze Mauerwerk der Organisation schließlich doch noch einen Riß bekommen
werde. Aber nein, daran ist nicht zu denken. Die Führer werden schon mit
ihrer Hoffnung Recht haben.
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