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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Müßiggänger, Mönche und Nonnen, Söldner, Scharen von Vagabunden, Hof¬
staaten ! Und wie wenig arbeiteten die Arbeitenden im Vergleich zu heute, da die
unvollkommnen Beleuchtungsmittel das Arbeiten bei Lichte in den meisten Gewerben
ausschlossen. Und doch war für alles nötige gesorgt. Wie wäre es denn denkbar,
daß heute, wo bei hundertfach gestiegner Produktivität der Arbeit alles, vom König
bis zum Hausknecht, wie besessen arbeitet, für alle Arbeitserzengnisse Verwendung
gefunden werden könnte? Die Versorgung aller mit Gütern -- die wäre heute
kinderleicht, wenn wir nicht einen großen Teil unsrer sonst unverwendbaren Arbeits¬
kraft darauf verwendeten, den unaufhaltsam hervorquellenden Güterstrom zu hemmen;
aber all dem Volke, das arbeiten will, Arbeit verschaffen, das ist eine Aufgabe,
die, wie es scheint, niemand zu löse" vermag. Und unter so bewandten Umständen
sind wir auch noch so einfältig, die Vagabunden, die Verbrecher, die Blödsinnigen,
die Schwachsinnigen, die von Natur Verkrüppelte" zur Arbeit zu erziehe" und zu
zwingen. Zu unserm großen Glück gelinge" die Erziehungsversuche fast niemals,
sodaß die Arbeit der zum Glück für ihre Nebenmenschen mit der Gabe der Faulheit
begnadigten bloß so lange währt wie der Zwang, was uns auch schon Angelegen-
heiten genug verursacht; wollen doch die englischen Arbeiter uusern Jndustriewaren
den Eingang nach England verwehren, weil sie zum Teil Erzeugnisse lohndrückendcr
Zuchthausarbeit seien. Der Schreiber dieses ist nicht so thöricht. Wenn er von
einem schnorrenden Kollegen heimgesucht wird, freut er sich jedesmal und denkt:
Gott sei Dankl so kostet mich der Kerl bloß einen Thaler; wäre er tüchtig und mein
Konkurrent, so würde er mich vielleicht mein halbes oder ganzes Einkommen kosten.
Und welches Unheil richtet der Thätigkeitsdrang unsrer Volksvertreter, unsrer Ver-
waltuugs- und Polizeibeamten, unsrer Richter und Stantsnnwälte an! Bis vor
zwanzig Jahren gab es auch im deutschen Vaterlande noch Richter, die den ganzen
lieben langen Tag zum Fenster hinausschauten und ihre Pfeife rauchten und höchstens
auf ein Stündchen in ihrer Amtsstube erschienen; wieviel Zank, Ärgernis, Un¬
glück würde uus heute erspart, wenn alle diese Herren so enthaltsam in der Arbeit
sein wollten! Da sie nun aber einmal von dem bösen Geiste der Unruhe und des
Thatendrangs besessen sind, so möge" sie auch vollends die Mühe auf sich nehmen,
Mays Buch zu lesen und über die merkwürdige Thatsache zu meditiren, daß ein
Hamburger Großhändler ungefähr dieselben Erscheinungen, die sie als Umsturz be¬
kämpfen, als segensvolle Entwicklung Preise.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Mnrquart in Leipzig
Litteratur

Müßiggänger, Mönche und Nonnen, Söldner, Scharen von Vagabunden, Hof¬
staaten ! Und wie wenig arbeiteten die Arbeitenden im Vergleich zu heute, da die
unvollkommnen Beleuchtungsmittel das Arbeiten bei Lichte in den meisten Gewerben
ausschlossen. Und doch war für alles nötige gesorgt. Wie wäre es denn denkbar,
daß heute, wo bei hundertfach gestiegner Produktivität der Arbeit alles, vom König
bis zum Hausknecht, wie besessen arbeitet, für alle Arbeitserzengnisse Verwendung
gefunden werden könnte? Die Versorgung aller mit Gütern — die wäre heute
kinderleicht, wenn wir nicht einen großen Teil unsrer sonst unverwendbaren Arbeits¬
kraft darauf verwendeten, den unaufhaltsam hervorquellenden Güterstrom zu hemmen;
aber all dem Volke, das arbeiten will, Arbeit verschaffen, das ist eine Aufgabe,
die, wie es scheint, niemand zu löse» vermag. Und unter so bewandten Umständen
sind wir auch noch so einfältig, die Vagabunden, die Verbrecher, die Blödsinnigen,
die Schwachsinnigen, die von Natur Verkrüppelte» zur Arbeit zu erziehe» und zu
zwingen. Zu unserm großen Glück gelinge» die Erziehungsversuche fast niemals,
sodaß die Arbeit der zum Glück für ihre Nebenmenschen mit der Gabe der Faulheit
begnadigten bloß so lange währt wie der Zwang, was uns auch schon Angelegen-
heiten genug verursacht; wollen doch die englischen Arbeiter uusern Jndustriewaren
den Eingang nach England verwehren, weil sie zum Teil Erzeugnisse lohndrückendcr
Zuchthausarbeit seien. Der Schreiber dieses ist nicht so thöricht. Wenn er von
einem schnorrenden Kollegen heimgesucht wird, freut er sich jedesmal und denkt:
Gott sei Dankl so kostet mich der Kerl bloß einen Thaler; wäre er tüchtig und mein
Konkurrent, so würde er mich vielleicht mein halbes oder ganzes Einkommen kosten.
Und welches Unheil richtet der Thätigkeitsdrang unsrer Volksvertreter, unsrer Ver-
waltuugs- und Polizeibeamten, unsrer Richter und Stantsnnwälte an! Bis vor
zwanzig Jahren gab es auch im deutschen Vaterlande noch Richter, die den ganzen
lieben langen Tag zum Fenster hinausschauten und ihre Pfeife rauchten und höchstens
auf ein Stündchen in ihrer Amtsstube erschienen; wieviel Zank, Ärgernis, Un¬
glück würde uus heute erspart, wenn alle diese Herren so enthaltsam in der Arbeit
sein wollten! Da sie nun aber einmal von dem bösen Geiste der Unruhe und des
Thatendrangs besessen sind, so möge» sie auch vollends die Mühe auf sich nehmen,
Mays Buch zu lesen und über die merkwürdige Thatsache zu meditiren, daß ein
Hamburger Großhändler ungefähr dieselben Erscheinungen, die sie als Umsturz be¬
kämpfen, als segensvolle Entwicklung Preise.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrquart in Leipzig
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[0200] Litteratur Müßiggänger, Mönche und Nonnen, Söldner, Scharen von Vagabunden, Hof¬ staaten ! Und wie wenig arbeiteten die Arbeitenden im Vergleich zu heute, da die unvollkommnen Beleuchtungsmittel das Arbeiten bei Lichte in den meisten Gewerben ausschlossen. Und doch war für alles nötige gesorgt. Wie wäre es denn denkbar, daß heute, wo bei hundertfach gestiegner Produktivität der Arbeit alles, vom König bis zum Hausknecht, wie besessen arbeitet, für alle Arbeitserzengnisse Verwendung gefunden werden könnte? Die Versorgung aller mit Gütern — die wäre heute kinderleicht, wenn wir nicht einen großen Teil unsrer sonst unverwendbaren Arbeits¬ kraft darauf verwendeten, den unaufhaltsam hervorquellenden Güterstrom zu hemmen; aber all dem Volke, das arbeiten will, Arbeit verschaffen, das ist eine Aufgabe, die, wie es scheint, niemand zu löse» vermag. Und unter so bewandten Umständen sind wir auch noch so einfältig, die Vagabunden, die Verbrecher, die Blödsinnigen, die Schwachsinnigen, die von Natur Verkrüppelte» zur Arbeit zu erziehe» und zu zwingen. Zu unserm großen Glück gelinge» die Erziehungsversuche fast niemals, sodaß die Arbeit der zum Glück für ihre Nebenmenschen mit der Gabe der Faulheit begnadigten bloß so lange währt wie der Zwang, was uns auch schon Angelegen- heiten genug verursacht; wollen doch die englischen Arbeiter uusern Jndustriewaren den Eingang nach England verwehren, weil sie zum Teil Erzeugnisse lohndrückendcr Zuchthausarbeit seien. Der Schreiber dieses ist nicht so thöricht. Wenn er von einem schnorrenden Kollegen heimgesucht wird, freut er sich jedesmal und denkt: Gott sei Dankl so kostet mich der Kerl bloß einen Thaler; wäre er tüchtig und mein Konkurrent, so würde er mich vielleicht mein halbes oder ganzes Einkommen kosten. Und welches Unheil richtet der Thätigkeitsdrang unsrer Volksvertreter, unsrer Ver- waltuugs- und Polizeibeamten, unsrer Richter und Stantsnnwälte an! Bis vor zwanzig Jahren gab es auch im deutschen Vaterlande noch Richter, die den ganzen lieben langen Tag zum Fenster hinausschauten und ihre Pfeife rauchten und höchstens auf ein Stündchen in ihrer Amtsstube erschienen; wieviel Zank, Ärgernis, Un¬ glück würde uus heute erspart, wenn alle diese Herren so enthaltsam in der Arbeit sein wollten! Da sie nun aber einmal von dem bösen Geiste der Unruhe und des Thatendrangs besessen sind, so möge» sie auch vollends die Mühe auf sich nehmen, Mays Buch zu lesen und über die merkwürdige Thatsache zu meditiren, daß ein Hamburger Großhändler ungefähr dieselben Erscheinungen, die sie als Umsturz be¬ kämpfen, als segensvolle Entwicklung Preise. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Mnrquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/200>, abgerufen am 22.07.2024.