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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

sehen lassen. Und da der materialistische Sozialist außerdem weiß, daß nicht
das Bewußtsein der Menschen die jeweiligen Formen der gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse hervorbringt, sondern umgekehrt diese die Bewußtseinsformen hervor¬
bringen, so kann er sich ruhig auf die belehrende Macht der ökonomischen Not¬
wendigkeit verlassen. Die Menschheit stellt sich überhaupt nur solche Aufgaben,
zu deren Lösung die ökonomischen Bedingungen bereits heranreifen. In der
Gegenwart besteht die Aufgabe der Sozialisten lediglich darin, das Proletariat
zu organisiren und es über die allgemeinen ökonomischen Bedingungen seiner
Befreiung aufzuklären." An einer andern Stelle schreibt Plechanow: "Jeder
ist Utopist, der nicht die objektiven historischen Daseinsbedingungen des Volkes,
sondern seine persönlichen oder die sogenannten Volksideale zum Ausgangs¬
punkte seiner öffentlichen Thätigkeit macht."

Das alles ist richtig bis auf zwei Punkte. Abgesehen davon, daß auch
der "wissenschaftliche" Sozialist Bebel noch eine Utopie geschrieben hat, sind
diese wissenschaftlichen Herren sämtlich darin Utopisten, daß sie den Umschlag
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die kommunistische voraussagen und
meinen, dieser Umschlag werde durch den Sieg des Proletariats herbeigeführt
werden. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Gesellschaft und
der Steigerung der Produktivität der Arbeit, ferner die Widersprüche zwischen
dem gegenwärtig erreichten Grade der Produktivität der Arbeit und unsrer
Prodnktivnsordnung aufgedeckt zu haben, das ist ihr Verdienst, aber der Schluß,
daß die Harmonie zwischen Produktivität und Produktionsordnung durch die
Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln werde hergestellt
werden, ist übereilt, und die Rolle, die man dem Proletariat dabei zugedacht
hat, widerspricht dem Augenschein, der da lehrt, daß das Proletariat der Ge¬
samtheit der andern Klassen gegenüber ohnmächtig ist. Den viel besprochnen
Widerspruch zu heben, daran arbeiten beständige Umwandlungen der Pro-
duktiousorduung, und was schließlich dabei herauskommen wird, das kann
niemand voraussehen. Die von den Sozialisten aufgedeckten Wahrheiten aber
sind von Rodbertus und Wagner in die deutsche Wissenschaft eingeführt worden
und werden, so sehr sich auch gewisse Kreise dagegen sträuben, endlich durch¬
gingen und ihre Wirkung nicht verfehlen, namentlich die Wahrheit, daß die
Produktion von der Verteilung abhängt. Aus dieser Wahrheit folgt haupt¬
sächlich zweierlei: erstens, daß jede Erhöhung des Einkommens der untern
Schichten, die ja die Masse bilden, der Produktion zu gute kommt, daß es
das Arbeitereiukommen und nicht das "Kapital" ist, was die Produktion be¬
fruchtet; zweitens, daß der heutige Zustand des ländlichen Grundbesitzes bei
uns unnatürlich ist. Die volkswirtschaftliche Aufgabe des ländlichem Grund¬
besitzes besteht in der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln und Roh¬
stoffen. Natürlich erfüllt er diese Aufgabe desto besser, je billiger er die Roh¬
stoffe und Nahrungsmittel liefert. Sie billig zu liefern, verbietet ihm aber


Der russische Sozialismus

sehen lassen. Und da der materialistische Sozialist außerdem weiß, daß nicht
das Bewußtsein der Menschen die jeweiligen Formen der gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse hervorbringt, sondern umgekehrt diese die Bewußtseinsformen hervor¬
bringen, so kann er sich ruhig auf die belehrende Macht der ökonomischen Not¬
wendigkeit verlassen. Die Menschheit stellt sich überhaupt nur solche Aufgaben,
zu deren Lösung die ökonomischen Bedingungen bereits heranreifen. In der
Gegenwart besteht die Aufgabe der Sozialisten lediglich darin, das Proletariat
zu organisiren und es über die allgemeinen ökonomischen Bedingungen seiner
Befreiung aufzuklären." An einer andern Stelle schreibt Plechanow: „Jeder
ist Utopist, der nicht die objektiven historischen Daseinsbedingungen des Volkes,
sondern seine persönlichen oder die sogenannten Volksideale zum Ausgangs¬
punkte seiner öffentlichen Thätigkeit macht."

Das alles ist richtig bis auf zwei Punkte. Abgesehen davon, daß auch
der „wissenschaftliche" Sozialist Bebel noch eine Utopie geschrieben hat, sind
diese wissenschaftlichen Herren sämtlich darin Utopisten, daß sie den Umschlag
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die kommunistische voraussagen und
meinen, dieser Umschlag werde durch den Sieg des Proletariats herbeigeführt
werden. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Gesellschaft und
der Steigerung der Produktivität der Arbeit, ferner die Widersprüche zwischen
dem gegenwärtig erreichten Grade der Produktivität der Arbeit und unsrer
Prodnktivnsordnung aufgedeckt zu haben, das ist ihr Verdienst, aber der Schluß,
daß die Harmonie zwischen Produktivität und Produktionsordnung durch die
Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln werde hergestellt
werden, ist übereilt, und die Rolle, die man dem Proletariat dabei zugedacht
hat, widerspricht dem Augenschein, der da lehrt, daß das Proletariat der Ge¬
samtheit der andern Klassen gegenüber ohnmächtig ist. Den viel besprochnen
Widerspruch zu heben, daran arbeiten beständige Umwandlungen der Pro-
duktiousorduung, und was schließlich dabei herauskommen wird, das kann
niemand voraussehen. Die von den Sozialisten aufgedeckten Wahrheiten aber
sind von Rodbertus und Wagner in die deutsche Wissenschaft eingeführt worden
und werden, so sehr sich auch gewisse Kreise dagegen sträuben, endlich durch¬
gingen und ihre Wirkung nicht verfehlen, namentlich die Wahrheit, daß die
Produktion von der Verteilung abhängt. Aus dieser Wahrheit folgt haupt¬
sächlich zweierlei: erstens, daß jede Erhöhung des Einkommens der untern
Schichten, die ja die Masse bilden, der Produktion zu gute kommt, daß es
das Arbeitereiukommen und nicht das „Kapital" ist, was die Produktion be¬
fruchtet; zweitens, daß der heutige Zustand des ländlichen Grundbesitzes bei
uns unnatürlich ist. Die volkswirtschaftliche Aufgabe des ländlichem Grund¬
besitzes besteht in der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln und Roh¬
stoffen. Natürlich erfüllt er diese Aufgabe desto besser, je billiger er die Roh¬
stoffe und Nahrungsmittel liefert. Sie billig zu liefern, verbietet ihm aber


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[0164] Der russische Sozialismus sehen lassen. Und da der materialistische Sozialist außerdem weiß, daß nicht das Bewußtsein der Menschen die jeweiligen Formen der gesellschaftlichen Ver¬ hältnisse hervorbringt, sondern umgekehrt diese die Bewußtseinsformen hervor¬ bringen, so kann er sich ruhig auf die belehrende Macht der ökonomischen Not¬ wendigkeit verlassen. Die Menschheit stellt sich überhaupt nur solche Aufgaben, zu deren Lösung die ökonomischen Bedingungen bereits heranreifen. In der Gegenwart besteht die Aufgabe der Sozialisten lediglich darin, das Proletariat zu organisiren und es über die allgemeinen ökonomischen Bedingungen seiner Befreiung aufzuklären." An einer andern Stelle schreibt Plechanow: „Jeder ist Utopist, der nicht die objektiven historischen Daseinsbedingungen des Volkes, sondern seine persönlichen oder die sogenannten Volksideale zum Ausgangs¬ punkte seiner öffentlichen Thätigkeit macht." Das alles ist richtig bis auf zwei Punkte. Abgesehen davon, daß auch der „wissenschaftliche" Sozialist Bebel noch eine Utopie geschrieben hat, sind diese wissenschaftlichen Herren sämtlich darin Utopisten, daß sie den Umschlag der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die kommunistische voraussagen und meinen, dieser Umschlag werde durch den Sieg des Proletariats herbeigeführt werden. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Gesellschaft und der Steigerung der Produktivität der Arbeit, ferner die Widersprüche zwischen dem gegenwärtig erreichten Grade der Produktivität der Arbeit und unsrer Prodnktivnsordnung aufgedeckt zu haben, das ist ihr Verdienst, aber der Schluß, daß die Harmonie zwischen Produktivität und Produktionsordnung durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln werde hergestellt werden, ist übereilt, und die Rolle, die man dem Proletariat dabei zugedacht hat, widerspricht dem Augenschein, der da lehrt, daß das Proletariat der Ge¬ samtheit der andern Klassen gegenüber ohnmächtig ist. Den viel besprochnen Widerspruch zu heben, daran arbeiten beständige Umwandlungen der Pro- duktiousorduung, und was schließlich dabei herauskommen wird, das kann niemand voraussehen. Die von den Sozialisten aufgedeckten Wahrheiten aber sind von Rodbertus und Wagner in die deutsche Wissenschaft eingeführt worden und werden, so sehr sich auch gewisse Kreise dagegen sträuben, endlich durch¬ gingen und ihre Wirkung nicht verfehlen, namentlich die Wahrheit, daß die Produktion von der Verteilung abhängt. Aus dieser Wahrheit folgt haupt¬ sächlich zweierlei: erstens, daß jede Erhöhung des Einkommens der untern Schichten, die ja die Masse bilden, der Produktion zu gute kommt, daß es das Arbeitereiukommen und nicht das „Kapital" ist, was die Produktion be¬ fruchtet; zweitens, daß der heutige Zustand des ländlichen Grundbesitzes bei uns unnatürlich ist. Die volkswirtschaftliche Aufgabe des ländlichem Grund¬ besitzes besteht in der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln und Roh¬ stoffen. Natürlich erfüllt er diese Aufgabe desto besser, je billiger er die Roh¬ stoffe und Nahrungsmittel liefert. Sie billig zu liefern, verbietet ihm aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/164>, abgerufen am 22.07.2024.