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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

den ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln ab. (So z. B. können
sich die Menschen in der gewöhnlichen Schmiede je zwei und zwei zu einem
Wirtschaftsbetrieb vereinigen, der Dampfhammer dagegen schafft sich eine ganze
industrielle Hierarchie.) Demnach verändern sich die gesellschaftlichen Verhält¬
nisse in dem Maße, wie sich die Menschen die Natur dienstbar machen. "Mit
der Erfindung der Feuerwaffe, schreibt Marx, änderte sich notwendig die ganze
innere Organisation der Armee, verwandelten sich die Verhältnisse, innerhalb
deren Individuen eine Armee bilden und als Armee wirken können, änderte
sich auch das Verhältnis der verschiednen Armeen zu einander Dieselbe Wir¬
kung hat bekanntlich in unsrer Zeit die Vervollkommnung der Feuerwaffen
hervorgebracht^. Ebenso verhält es sich mit der Gesellschaft als einer Pro¬
duktionsgemeinschaft. Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bilden das,
was man die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf einer be¬
stimmten Entwicklungsstufe und mit eigentümlichem Charakter. Die antike Ge¬
sellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamt¬
heiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondre Ent¬
wicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet."

Die ersten Sozialisier!, wie Fourier, verkannten diese vom menschlichen
Willen und von menschlicher Berechnung unabhängige Entwicklung der Ge¬
sellschaft. Sie erdachten ein Seinsollendes, ein Idealbild der Gesellschaft und
meinten, nur Gedankenlosigkeit und Unwissenheit seien daran schuld gewesen,
daß die Menschen dieses Ideal nicht längst verwirklicht hätten. Aufgabe derer,
die die einzig vernünftige Gesellschaftsordnung erkannt haben, ist es also, ihre
Mitmenschen von der Vernünftigkeit des Ideals zu überzeugen; ist sie all¬
gemein anerkannt, so werden die Menschen nicht zögern, das als gut erkannte
zu verwirklichen. Und damit das Zukunftsbild locke, muß man den Leuten
vor allem begreiflich machen, daß die vernünftige Gesellschaftsordnung die Er¬
füllung aller Wünsche bedeutet. "Sie sind geizig und habgierig, Sie Hütten
nicht übel Lust, Wucher zu treiben. Gut, helfen Sie uns die neue Ordnung
einführen, so werden Sie von Ihrem Kapital ohne Schädigung Ihrer Mit¬
menschen Zinsen bekommen, von denen in der heutigen Gesellschaft keine Rede
sein kann. Sie lieben Abwechslung in der Liebe; gut! in der Zukunftsgescllschaft
werden die launenhaftesten Liebesneigungen die vollste Befriedigung finden usw."
So haben diese Utopisten ihren beschränkten Verstand mit dem des
Anaxagoras, der die Welt regiert, verwechselt. Sie halten es daher auch für
notwendig, alle Einzelheiten der von ihnen vorgeschlagnen Gesellschaftsordnung
im voraus zu bestimmen. "Dem materialistischen Sozialisten dagegen kommt
es darauf an, die allgemeine Richtung der ökonomischen Entwicklung voraus¬
zusehen. Die Einzelheiten der zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnisse inter-
essiren ihn nicht, schon deshalb nicht, weil diese Einzelheiten durch wirtschaft¬
liche Bedingungen werden bestimmt werden, die sich schlechterdings nicht voraus-


Der russische Sozialismus

den ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln ab. (So z. B. können
sich die Menschen in der gewöhnlichen Schmiede je zwei und zwei zu einem
Wirtschaftsbetrieb vereinigen, der Dampfhammer dagegen schafft sich eine ganze
industrielle Hierarchie.) Demnach verändern sich die gesellschaftlichen Verhält¬
nisse in dem Maße, wie sich die Menschen die Natur dienstbar machen. „Mit
der Erfindung der Feuerwaffe, schreibt Marx, änderte sich notwendig die ganze
innere Organisation der Armee, verwandelten sich die Verhältnisse, innerhalb
deren Individuen eine Armee bilden und als Armee wirken können, änderte
sich auch das Verhältnis der verschiednen Armeen zu einander Dieselbe Wir¬
kung hat bekanntlich in unsrer Zeit die Vervollkommnung der Feuerwaffen
hervorgebracht^. Ebenso verhält es sich mit der Gesellschaft als einer Pro¬
duktionsgemeinschaft. Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bilden das,
was man die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf einer be¬
stimmten Entwicklungsstufe und mit eigentümlichem Charakter. Die antike Ge¬
sellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamt¬
heiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondre Ent¬
wicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet."

Die ersten Sozialisier!, wie Fourier, verkannten diese vom menschlichen
Willen und von menschlicher Berechnung unabhängige Entwicklung der Ge¬
sellschaft. Sie erdachten ein Seinsollendes, ein Idealbild der Gesellschaft und
meinten, nur Gedankenlosigkeit und Unwissenheit seien daran schuld gewesen,
daß die Menschen dieses Ideal nicht längst verwirklicht hätten. Aufgabe derer,
die die einzig vernünftige Gesellschaftsordnung erkannt haben, ist es also, ihre
Mitmenschen von der Vernünftigkeit des Ideals zu überzeugen; ist sie all¬
gemein anerkannt, so werden die Menschen nicht zögern, das als gut erkannte
zu verwirklichen. Und damit das Zukunftsbild locke, muß man den Leuten
vor allem begreiflich machen, daß die vernünftige Gesellschaftsordnung die Er¬
füllung aller Wünsche bedeutet. „Sie sind geizig und habgierig, Sie Hütten
nicht übel Lust, Wucher zu treiben. Gut, helfen Sie uns die neue Ordnung
einführen, so werden Sie von Ihrem Kapital ohne Schädigung Ihrer Mit¬
menschen Zinsen bekommen, von denen in der heutigen Gesellschaft keine Rede
sein kann. Sie lieben Abwechslung in der Liebe; gut! in der Zukunftsgescllschaft
werden die launenhaftesten Liebesneigungen die vollste Befriedigung finden usw."
So haben diese Utopisten ihren beschränkten Verstand mit dem des
Anaxagoras, der die Welt regiert, verwechselt. Sie halten es daher auch für
notwendig, alle Einzelheiten der von ihnen vorgeschlagnen Gesellschaftsordnung
im voraus zu bestimmen. „Dem materialistischen Sozialisten dagegen kommt
es darauf an, die allgemeine Richtung der ökonomischen Entwicklung voraus¬
zusehen. Die Einzelheiten der zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnisse inter-
essiren ihn nicht, schon deshalb nicht, weil diese Einzelheiten durch wirtschaft¬
liche Bedingungen werden bestimmt werden, die sich schlechterdings nicht voraus-


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[0163] Der russische Sozialismus den ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln ab. (So z. B. können sich die Menschen in der gewöhnlichen Schmiede je zwei und zwei zu einem Wirtschaftsbetrieb vereinigen, der Dampfhammer dagegen schafft sich eine ganze industrielle Hierarchie.) Demnach verändern sich die gesellschaftlichen Verhält¬ nisse in dem Maße, wie sich die Menschen die Natur dienstbar machen. „Mit der Erfindung der Feuerwaffe, schreibt Marx, änderte sich notwendig die ganze innere Organisation der Armee, verwandelten sich die Verhältnisse, innerhalb deren Individuen eine Armee bilden und als Armee wirken können, änderte sich auch das Verhältnis der verschiednen Armeen zu einander Dieselbe Wir¬ kung hat bekanntlich in unsrer Zeit die Vervollkommnung der Feuerwaffen hervorgebracht^. Ebenso verhält es sich mit der Gesellschaft als einer Pro¬ duktionsgemeinschaft. Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bilden das, was man die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf einer be¬ stimmten Entwicklungsstufe und mit eigentümlichem Charakter. Die antike Ge¬ sellschaft, die feudale Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft sind solche Gesamt¬ heiten von Produktionsverhältnissen, deren jede zugleich eine besondre Ent¬ wicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet." Die ersten Sozialisier!, wie Fourier, verkannten diese vom menschlichen Willen und von menschlicher Berechnung unabhängige Entwicklung der Ge¬ sellschaft. Sie erdachten ein Seinsollendes, ein Idealbild der Gesellschaft und meinten, nur Gedankenlosigkeit und Unwissenheit seien daran schuld gewesen, daß die Menschen dieses Ideal nicht längst verwirklicht hätten. Aufgabe derer, die die einzig vernünftige Gesellschaftsordnung erkannt haben, ist es also, ihre Mitmenschen von der Vernünftigkeit des Ideals zu überzeugen; ist sie all¬ gemein anerkannt, so werden die Menschen nicht zögern, das als gut erkannte zu verwirklichen. Und damit das Zukunftsbild locke, muß man den Leuten vor allem begreiflich machen, daß die vernünftige Gesellschaftsordnung die Er¬ füllung aller Wünsche bedeutet. „Sie sind geizig und habgierig, Sie Hütten nicht übel Lust, Wucher zu treiben. Gut, helfen Sie uns die neue Ordnung einführen, so werden Sie von Ihrem Kapital ohne Schädigung Ihrer Mit¬ menschen Zinsen bekommen, von denen in der heutigen Gesellschaft keine Rede sein kann. Sie lieben Abwechslung in der Liebe; gut! in der Zukunftsgescllschaft werden die launenhaftesten Liebesneigungen die vollste Befriedigung finden usw." So haben diese Utopisten ihren beschränkten Verstand mit dem des Anaxagoras, der die Welt regiert, verwechselt. Sie halten es daher auch für notwendig, alle Einzelheiten der von ihnen vorgeschlagnen Gesellschaftsordnung im voraus zu bestimmen. „Dem materialistischen Sozialisten dagegen kommt es darauf an, die allgemeine Richtung der ökonomischen Entwicklung voraus¬ zusehen. Die Einzelheiten der zukünftigen gesellschaftlichen Verhältnisse inter- essiren ihn nicht, schon deshalb nicht, weil diese Einzelheiten durch wirtschaft¬ liche Bedingungen werden bestimmt werden, die sich schlechterdings nicht voraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/163>, abgerufen am 22.07.2024.