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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der russische Sozialismus

das Übergewicht in der Gesellschaft bekommen, weil diese Klassen infolge ihrer
Unwissenheit und Armut sich gleichgültig gerade gegenüber den der liberalen
Partei am nächsten liegenden Interessen verhalten, nämlich gegenüber dem
Rechte der freien Meinungsäußerung und der konstitutionellen Ordnung. Für
einen Demokraten steht Sibirien, wo das gemeine Volk im Wohlstand lebt,
weit höher als England, wo der größte Teil des Volkes bittere Not leidet.
Von allen politischen Verfassungen ist der Demokrat nur einer einzigen un¬
versöhnlich feind, der Aristokratie; ein Liberaler dagegen meint fast immer, die
Gesellschaft könne nur bei einem gewissen Grade von Aristokratismus eine
liberale Bersassung erhalten." Die Verhältnisse sind eben in Rußland anders
als im Westen. Bei der Unbildung der dortigen Massen mag es sein, daß
sie sich um politische Rechte nicht kümmern, und daß dieses der nächste Grund
für die Liberalen ist, von diesen Massen und ihren Führern nichts wissen zu
wollen. Die Liberalen des Westens dagegen sind von vornherein selbst Aristo--
traten, Vertreter von Besitz und Bildung gewesen und von den konservativen
Aristokraten nur dadurch verschieden, daß sie, abgesehen von den ersten eng¬
lischen Whigs, ihr Vermögen mehr im Handel und in der Industrie angelegt
hatten als im ländlichen Grundbesitz; und da ihr Reichtum auf dem Ausschluß
der Massen von der Wohlhabenheit zu beruhen scheint, so glauben sie diese
nicht zu Wohlhabenheit gelangen lassen zu dürfen. Sie bedurften aber zur
Erreichung ihres politischen Zieles, einer Verfassung, die ihnen den ma߬
gebenden Einfluß auf die Gesetzgebung sichern sollte, der Massen, haben daher
diesen zu Bildung und zu politischem Einfluß verholfen und sich dadurch in
einen unlöslichen Widerspruch mit sich selbst verwickelt, aus dem sie trotz aller
verzweifelten Anstrengungen nicht mehr herauskönnen.

Es versteht sich, daß Herzen und Tschernischewsky die große Wendung,
die sich mit der Aufhebung der Leibeigenschaft vollziehen zu wollen schien, be¬
geistert begrüßten, hatten sie doch selbst darauf hingewirkt. Der Krimkrieg
hatte die Hilflosigkeit des autokratisch regierten Rußlands in einem Grade ent¬
hüllt, daß sich niemand die Alternative, vor der man stand: Reform oder
Untergang, verhehlen konnte. Das Offizierkorps taugte nichts, es gab keine
Möglichkeit, ein Heer gehörig mit Lebensmitteln und Munition zu versorgen,
weil die ganze Verwaltung korrumpirt war und der Transport unerschwing¬
liche Kosten verursachte, das Jahr 1855 ergab ein Defizit von 262 Millionen
Rubel, das nächste Jahr ein noch größeres, und die Steuerkraft nahm stetig
"b. Der Nachfolger des unglücklichen Nikolaus entschied sich für die Reform
"ut faßte den kühnen Gedanken der Aufhebung der Leibeigenschaft, vielleicht
des größten Vefreiungswerkes aller Zeiten, wodurch über 80 Millionen Men¬
schen aus Sachen, die sie als Mre waren, mit einem Schlage in Personen ver¬
wandelt worden sind. Am 20. November 1857 erließ Alexander II. an den
Wilnaischen Generalgouvemeur Nasimow den Befehl, Maßregeln "zur Ver-


Der russische Sozialismus

das Übergewicht in der Gesellschaft bekommen, weil diese Klassen infolge ihrer
Unwissenheit und Armut sich gleichgültig gerade gegenüber den der liberalen
Partei am nächsten liegenden Interessen verhalten, nämlich gegenüber dem
Rechte der freien Meinungsäußerung und der konstitutionellen Ordnung. Für
einen Demokraten steht Sibirien, wo das gemeine Volk im Wohlstand lebt,
weit höher als England, wo der größte Teil des Volkes bittere Not leidet.
Von allen politischen Verfassungen ist der Demokrat nur einer einzigen un¬
versöhnlich feind, der Aristokratie; ein Liberaler dagegen meint fast immer, die
Gesellschaft könne nur bei einem gewissen Grade von Aristokratismus eine
liberale Bersassung erhalten." Die Verhältnisse sind eben in Rußland anders
als im Westen. Bei der Unbildung der dortigen Massen mag es sein, daß
sie sich um politische Rechte nicht kümmern, und daß dieses der nächste Grund
für die Liberalen ist, von diesen Massen und ihren Führern nichts wissen zu
wollen. Die Liberalen des Westens dagegen sind von vornherein selbst Aristo--
traten, Vertreter von Besitz und Bildung gewesen und von den konservativen
Aristokraten nur dadurch verschieden, daß sie, abgesehen von den ersten eng¬
lischen Whigs, ihr Vermögen mehr im Handel und in der Industrie angelegt
hatten als im ländlichen Grundbesitz; und da ihr Reichtum auf dem Ausschluß
der Massen von der Wohlhabenheit zu beruhen scheint, so glauben sie diese
nicht zu Wohlhabenheit gelangen lassen zu dürfen. Sie bedurften aber zur
Erreichung ihres politischen Zieles, einer Verfassung, die ihnen den ma߬
gebenden Einfluß auf die Gesetzgebung sichern sollte, der Massen, haben daher
diesen zu Bildung und zu politischem Einfluß verholfen und sich dadurch in
einen unlöslichen Widerspruch mit sich selbst verwickelt, aus dem sie trotz aller
verzweifelten Anstrengungen nicht mehr herauskönnen.

Es versteht sich, daß Herzen und Tschernischewsky die große Wendung,
die sich mit der Aufhebung der Leibeigenschaft vollziehen zu wollen schien, be¬
geistert begrüßten, hatten sie doch selbst darauf hingewirkt. Der Krimkrieg
hatte die Hilflosigkeit des autokratisch regierten Rußlands in einem Grade ent¬
hüllt, daß sich niemand die Alternative, vor der man stand: Reform oder
Untergang, verhehlen konnte. Das Offizierkorps taugte nichts, es gab keine
Möglichkeit, ein Heer gehörig mit Lebensmitteln und Munition zu versorgen,
weil die ganze Verwaltung korrumpirt war und der Transport unerschwing¬
liche Kosten verursachte, das Jahr 1855 ergab ein Defizit von 262 Millionen
Rubel, das nächste Jahr ein noch größeres, und die Steuerkraft nahm stetig
»b. Der Nachfolger des unglücklichen Nikolaus entschied sich für die Reform
"ut faßte den kühnen Gedanken der Aufhebung der Leibeigenschaft, vielleicht
des größten Vefreiungswerkes aller Zeiten, wodurch über 80 Millionen Men¬
schen aus Sachen, die sie als Mre waren, mit einem Schlage in Personen ver¬
wandelt worden sind. Am 20. November 1857 erließ Alexander II. an den
Wilnaischen Generalgouvemeur Nasimow den Befehl, Maßregeln „zur Ver-


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[0157] Der russische Sozialismus das Übergewicht in der Gesellschaft bekommen, weil diese Klassen infolge ihrer Unwissenheit und Armut sich gleichgültig gerade gegenüber den der liberalen Partei am nächsten liegenden Interessen verhalten, nämlich gegenüber dem Rechte der freien Meinungsäußerung und der konstitutionellen Ordnung. Für einen Demokraten steht Sibirien, wo das gemeine Volk im Wohlstand lebt, weit höher als England, wo der größte Teil des Volkes bittere Not leidet. Von allen politischen Verfassungen ist der Demokrat nur einer einzigen un¬ versöhnlich feind, der Aristokratie; ein Liberaler dagegen meint fast immer, die Gesellschaft könne nur bei einem gewissen Grade von Aristokratismus eine liberale Bersassung erhalten." Die Verhältnisse sind eben in Rußland anders als im Westen. Bei der Unbildung der dortigen Massen mag es sein, daß sie sich um politische Rechte nicht kümmern, und daß dieses der nächste Grund für die Liberalen ist, von diesen Massen und ihren Führern nichts wissen zu wollen. Die Liberalen des Westens dagegen sind von vornherein selbst Aristo-- traten, Vertreter von Besitz und Bildung gewesen und von den konservativen Aristokraten nur dadurch verschieden, daß sie, abgesehen von den ersten eng¬ lischen Whigs, ihr Vermögen mehr im Handel und in der Industrie angelegt hatten als im ländlichen Grundbesitz; und da ihr Reichtum auf dem Ausschluß der Massen von der Wohlhabenheit zu beruhen scheint, so glauben sie diese nicht zu Wohlhabenheit gelangen lassen zu dürfen. Sie bedurften aber zur Erreichung ihres politischen Zieles, einer Verfassung, die ihnen den ma߬ gebenden Einfluß auf die Gesetzgebung sichern sollte, der Massen, haben daher diesen zu Bildung und zu politischem Einfluß verholfen und sich dadurch in einen unlöslichen Widerspruch mit sich selbst verwickelt, aus dem sie trotz aller verzweifelten Anstrengungen nicht mehr herauskönnen. Es versteht sich, daß Herzen und Tschernischewsky die große Wendung, die sich mit der Aufhebung der Leibeigenschaft vollziehen zu wollen schien, be¬ geistert begrüßten, hatten sie doch selbst darauf hingewirkt. Der Krimkrieg hatte die Hilflosigkeit des autokratisch regierten Rußlands in einem Grade ent¬ hüllt, daß sich niemand die Alternative, vor der man stand: Reform oder Untergang, verhehlen konnte. Das Offizierkorps taugte nichts, es gab keine Möglichkeit, ein Heer gehörig mit Lebensmitteln und Munition zu versorgen, weil die ganze Verwaltung korrumpirt war und der Transport unerschwing¬ liche Kosten verursachte, das Jahr 1855 ergab ein Defizit von 262 Millionen Rubel, das nächste Jahr ein noch größeres, und die Steuerkraft nahm stetig »b. Der Nachfolger des unglücklichen Nikolaus entschied sich für die Reform "ut faßte den kühnen Gedanken der Aufhebung der Leibeigenschaft, vielleicht des größten Vefreiungswerkes aller Zeiten, wodurch über 80 Millionen Men¬ schen aus Sachen, die sie als Mre waren, mit einem Schlage in Personen ver¬ wandelt worden sind. Am 20. November 1857 erließ Alexander II. an den Wilnaischen Generalgouvemeur Nasimow den Befehl, Maßregeln „zur Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/157>, abgerufen am 25.08.2024.